Arbeiter:innenmacht

SPD-Parteitag votiert für Große Koalition – der „Zwergenaufstand“ ist nicht zu Ende

Tobi Hansen, Neue Internationale 226, Februar 2018

Am Ende musste das Präsidium auszählen lassen, so knapp war das Ergebnis auf dem Sonderparteitag der SPD am 21. Januar. Allein dies war schon ein Erfolg der GegnerInnen einer Neuauflage der Großen Koalition (GroKo). Mit 56,4 % (362 Ja-Stimmen) folgten die Delegierten dem Vorstand, aber 279 votierten dagegen.

Die Parteiführung nutzte alle Möglichkeiten, die Delegierten einzunorden. SPD-Vize „Malu“ (Maria Luise Anna) Dreyer, die Wahlgewinnerin in Rheinland-Pfalz 2017, eröffnete den Parteitag mit einer Begrüßung, sprach sich für die Verhandlungen aus und verstand natürlich auch alle Bedenken. Dann folgte NRW-Landeschef Groschek, dem die Niederlage bei den Landtagswahlen noch ins Gesicht geschrieben stand. Auch er schwadronierte geraume Zeit über Verantwortung und die tollen Möglichkeiten einer Regierung. Danach folgte noch eine Stunde Ex-Kanzlerkandidat und Noch-Parteichef Schulz. Nach ca. 2 Stunden durfte dann die offizielle Aussprache zum Sondierungsergebnis beginnen. Eigentlich konnten dabei alle, die sich gegen eine neue GroKo aussprachen, unter Applaus klar den Saal „rocken“, während die BefürworterInnen auch hier größtenteils aus dem Vorstand kamen und nur „Notwendigkeiten“ und Pragmatismus runterbeten konnten.

Die Union wolle keine Minderheitsregierung bilden, also müsse die SPD koalieren; denen (der Union, speziell der CSU) dürfe die SPD nicht allein das Land überlassen. Die „Franzosen und Europäer“ – Macron rief anscheinend stellvertretend für Millionen Menschen bei Schulz an – warteten auf eine neue Europapolitik, also müsse die Sozialdemokratie mit der Union eine Regierung bilden. Letztlich und noch verlogener: der Rechtsruck sei auf dem Vormarsch, die CSU ja auch irgendwie fremdenfeindlich, also müsse man …: die GroKo quasi als „antifaschistischer Schutzwall“ der SPD.

Die Rechtfertigung des Vorstands – Erneuerung durch GroKo

Die öffentlichen und internen Debatten zeigten bereits vor dem Sonderparteitag: Dieser wird kein einfacher Weg für den SPD-Vorstand. Nach dem Umfaller nach dem Ende der „Jamaika“-Verhandlungen, den kurzen sechstägigen Sondierungen mit der Union, war erkennbar, dass deren

Ergebnisse an der Parteibasis und somit auch bei den 600 Delegierten umstritten waren.

Nicht allein die Jusos hatten seit Dezember Widerspruch angemeldet, sondern auch der Landesverband Sachsen-Anhalt und der Berliner SPD-Vorstand sprachen sich gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen aus. Speziell im mitgliederstarken NRW und Hessen, die gemeinsam über 200 Delegierte stellten, wurde Widerspruch deutlich.

Aus diesem Grund wurde dem Parteitag auch eine „Kompromisslösung“ vorgelegt, also ein ergänzter Leitantrag. Dieser sieht vor, bestimmte Inhalte für die Koalitionsverhandlungen zu fordern. Dies ist an sich nichts Ungewöhnliches, hätten nicht die CDU und speziell die CSU schon angekündigt, dass sie auf weitere Forderungen der SPD nicht eingehen wollen. Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, der Einstieg ins Ende der „Zwei-Klassen-Medizin“ und höhere Kennzahlen für den Familiennachzug der Geflüchteten mit subsidiärem Status sind Forderungen, die sicher von allen unterstützt werden. Mit diesem Manöver sollte jedenfalls eine Mehrheit gesichert werden, was schließlich auch gelang.

Das Land zuerst

Dreyer, Schulz, Weil und Scholz spielten das bekannte Lied – zuerst das Land, dann die Partei. De facto heißt dies: erst die Kompromisse mit der Union, gestützt auf die Interessen des Großkapitals und sozialpartnerschaftliche Einbindung der Industriegewerkschaften, dann der Pragmatismus der Regierungsmöglichkeiten, schließlich die schillernden Auszüge zur EU-Politik. Zum Schulz´schen „hervorragenden Ergebnis“ wurde schnell festgestellt, dass soviel Hervorragendes sich nicht darunter befand. Bleibt also das alte Müntefering´sche Dogma „Opposition ist Mist“, also müsse man zumindest in die Regierung eintreten, um überhaupt „etwas“ tun zu können.

Als Nebenthema der letzten Wochen wurde die „Erneuerung“ der Partei diskutiert, speziell auf Veränderungen wie Industrie 4.0 und „neue Lebensrealitäten“ solle sie sich neu ausrichten. Der Vorstand verspricht, diese programmatische Erneuerung während der nächsten Legislaturperiode schaffen zu können. Warum das nach den Erfahrungen mit der letzten Koalition klappen soll, hat keine/r erklärt oder auch nur zu erklären versucht. Stattdessen wurde die Leier der staatspolitischen Verantwortung gespielt. Als Beispiele für „WählerInnenerwartungen“ mussten sogar Fluggäste herhalten, die dort Fraktionschefin Nahles sorgenvoll nach der Grundrente angesprochen hätten und fürchten würden, dass sich die SPD ihrer „Verantwortung entziehe“. Das kennen wir ja aus dem Alltag: erst den Mindestlohn und Grundrente durchrechnen und dann den Inlandsflug antreten. Aber egal, wie verlogen sich der Vorstand Beispiele zusammenzimmert, seine Kernbotschaft bleibt: Wir können nur etwas erreichen, solange wir regieren: also staatstragender Pragmatismus bis zum eigenen Ende.

Dieses alte Leid verfolgt die SPD schon länger. Als staatstragende Partei wurde der Klassenstandpunkt geschichtlich früh – also spätestens 1914 – beerdigt. Heute dienen vor allem die EU und Standortpatriotismus als Rechtfertigung für die Regierungsbeteiligung. Speziell DGB-Chef Hoffmann, welcher nochmals die Verbindung von Gewerkschaft und Partei bestärkte, will SPD und Gewerkschaften dazu bewegen, den „neoliberalen Geist“ in der EU zu überwinden. Und dieser Aufgabe will er ausgerechnet mit der GroKo nachkommen!

Es mag den Vorstandsspitzen der DGB-Gewerkschaften ja nicht auffallen, aber dieser „neoliberale Geist“ hat ganz reale Ursachen in den Kapitalinteressen, welche von SPD, Union, den Grünen und der FDP in den letzten 15 Jahren in Deutschland in verschiedenen Bundesregierungen bedient wurden und somit auch die EU prägen. Letztlich war es auch der DGB, welcher die „Agendapolitik“ der letzten SPD-geführten Bundesregierung durchwinkte, somit Millionen ArbeiterInnen entrechtete und diese in Niedriglohn, Prekarität und Zwangsarbeit schickte.

Die Glaubwürdigkeitskrise

Natürlich entgeht auch der SPD-Führung nicht ganz, dass ihr ihre soziale Basis immer mehr schwindet. Selbst Teile des Vorstands stellen fest, die potentielle WählerInnenschaft nehme der SPD ihr „Engagement“ für die ArbeiterInnenklasse und kleinen Einkommen nicht mehr ab. Richtigerweise hatten die Jusos und andere Delegierte darauf hingewiesen, dass das Umfallen von Schulz und Co. unter Mitgliedern und WählerInnen nicht gut ankam. Auch die Sondierungen und potentiellen Koalitionsverhandlungen werden nicht als Erfolge gefeiert. De facto hat die CSU ihre „Flüchtlingspolitik“ durchgesetzt, die SPD dagegen bei Bürgerversicherung, sachgrundloser Befristung und Spitzensteuersatz nichts. Genügend Delegierte können sich ausmalen, was die nächste GroKo für die ArbeiterInnenklasse bedeuten wird.

Die SPD würde nur als Mehrheitsbeschafferin der Union wahrgenommen, als die Kraft, welche manche Schweinerei der Union allenfalls abschwächt, ansonsten aber nichts zu bieten hat. Gerade die Jusos stellen fest, das die SPD nicht mehr als Gegensatz, sondern als Ergänzung zur Union wahrgenommen wird und es somit auch schwer vorstellbar ist, dass die SPD bundesweite Wahlen gegen diese gewinnen kann.

Interessanterweise widersprach auch der Delegierte Grüber aus Hessen den Ansichten des DGB-Vorsitzenden, indem er die Debatten an der gewerkschaftlichen Basis der SPD anders bewertete als die offiziösen Stellungnahmen der DGB-Spitze, welche schon früh nach dem Ende der „Jamaika“-Sondierungen zur GroKo aufrief.

Zweifellos haben der Juso-Vorsitzende Kühnert und weitere RednerInnen der Parteijugend, aber auch Delegierte aus Hessen, NRW und Berlin die Stimmung der WählerInnen und aktiven Basismitglieder wiedergegeben. Auch wenn es auf dem Parteitag nicht für ein Nein reichte, so ist klar, dass die innere Krise und Zerrissenheit der SPD mit dieser Abstimmung sicher nicht vorbei sein wird. Vielmehr verdeutlicht es, dass eine große Minderheit der Delegierten trotz eines vereinten Vorstandes den Weg in die neuerliche Katastrophe einer Großen Koalition nicht mitgehen will.

Dabei kommt nicht nur „Herz“ zum Ausdruck, sondern auch weitaus mehr Hirn als bei den politischen Lemmingen des Vorstandes, die Merkel bis in den eigenen Abgrund folgen wollen. Vor allem aber offenbart die Debatte auch den widersprüchlichen Charakter der SPD als bürgerliche ArbeiterInnenpartei. Während sie seit über einem Jahrhundert fest auf dem Boden der bestehenden Ordnung steht, also durch und durch bürgerliche Politik macht, weil sie letztlich die kapitalistische Herrschaft verteidigt, so ist sie – anders als die Unionsparteien – eine „besondere“ bürgerliche Partei, weil sie sich organisch über historisch gewachsene Bindungen wie Wählerzusammensetzung, Mitglieder, vor allem aber über die Gewerkschaften auf die ArbeiterInnenklasse stützt. Zweifellos führt die Politik der SPD-Regierungen seit Schröder wie auch die Standortpolitik der Gewerkschaftsspitzen dazu, dass diese Bindung mehr und mehr aufweicht – und in den letzten Jahren leider vor allem nach rechts zur AfD hin.

Aber der Gegensatz, der sich zwischen den KoalitionsbefürworterInnen und GegnerInnen auf dem Parteitag zeigte und die SPD heute durchschüttelt, bricht nun zwischen ihrer bürgerlichen Politik und Führung einerseits und ihrer sozialen Basis andererseits offen aus.

Das Ziel von RevolutionärInnen muss es sein, diesen Widerspruch zuzuspitzen, zu vertiefen. Hier liegt auch die Chance für die nächsten Wochen. Ein mögliches Koalitionsergebnis muss in der Mitgliedschaft abgestimmt werden. Dies ist weiterhin eine große Möglichkeit für diejenigen, welche die GroKo verhindern wollen.

Die angekündigte Nein-Kampagne der Jusos kann trotz der politischen Grenzen ihres Reformismus ein Mittel werden, die Neuauflage der Koalition mit den Unionsparteien zu verhindern. Der Eintritt zahlreicher Jugendlicher, um an der Abstimmung teilzunehmen, verdeutlicht, dass diese innere Polarisierung voranschreitet und auch eine Chance auf Erfolg hat. Zweifellos werden Vorstände versuchen, diese Menschen als „OpportunistInnen“ zu diskreditieren und deren Abstimmungsberechtigung in Frage stellen. Die viel gepriesene „Öffnung“ und „Erneuerung“ der Sozialdemokratie soll schließlich nicht zu „falschen Ergebnissen“ führen.

So wichtig der Zulauf von neuen Mitgliedern einzuschätzen ist, entscheidend für die Abstimmung und vor allem für die weitere Zukunft der SPD werden ihre gewerkschaftlich organisierten Mitglieder sein. Während sich der Vorstand treu hinter die GroKo stellt, haben viele sog. „einfache“ Mitglieder schon mitbekommen, was sie eigentlich von einer SPD in der GroKo zu erwarten haben – nämlich nichts. Im öffentlichen Dienst wird weiter gespart und privatisiert, die Situation in der Pflege ist beschissen, obwohl die SPD mitregierte und nicht in der Opposition war, und die Europapolitik der Austerität, der Festung Europa und der schleichenden Aufrüstung passiert gerade mit und unter „großen“ Europäern wie Schulz und Macron.

Dieser Politik gehört ein Denkzettel verpasst, genau diese Möglichkeit ist weiterhin vorhanden. Diese Abstimmung an der Basis ist eben noch nicht klar entschieden, bietet Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die SPD-Basis wie schon lange nicht mehr z. B. für die Linkspartei, aber auch die „radikale, außerparlamentarische Linke“. Die linken Kräfte außerhalb der SPD müssen direkt den Dialog mit der Gewerkschaftsbasis, den Jusos, Naturfreunden und Falken suchen. Die Gewerkschaftsbonzen und die Naturfreunde waren für, Falken und Jusos deutlich gegen das Sondierungsabkommen. Sie gilt es aufzufordern, eine starke Opposition gegen den Ausverkaufskurs der Partei- und Gewerkschaftsführungen zu bilden. Mit ihnen zusammen müssen wir gegen den Koalitionsvertrag agitieren und zum Widerstand gegen die Politik der neuen Bundesregierung in Aktion treten.

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