Martin Suchanek, Infomail 983, 22. Januar 2018
Seit dem 20. Januar läuft die „Operation Olivenzweig“. Allein am letzten Wochenende flog die türkische Armee über hundert Laufeinsätze. Schon Tage zuvor beschoss sie mit schwerer Artillerie die Stellungen der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ (deutsch: Volksverteidigungs-/Frauenverteidigungseinheiten). Seit Sonntag, den 21. Januar, dringen ihre Panzer und Infanterie, oft gestellt von Marionettentruppen türkisch gelenkter FSA-Verbände (Freie Syrische Armee) einschließlich zahlreicher islamistischer Ultrareaktionäre, in das von den KurdInnen gehaltene Gebiet um Afrin vor.
Es kämpft eine hochgerüstete NATO-Armee mit absoluter Lufthoheit gegen eine trotz US-Hilfen militärisch weit unterlegene Streitmacht. Erdogans Kriegziel ist dabei klar: Es geht darum, die Formen kurdischer Selbstbestimmung und Autonomie, die in den letzten Jahren etabliert wurden, zu zerschlagen. Er weiß sich darin einig mit der syrischen Regierung, den von ihm unterhaltenen Teilen der „Opposition“ und dem russischen Imperialismus. Formal drücken diese zwar ihre „Besorgnis“ aus, doch mehr oder minder offen lassen sie der Türkei und ihren Bodentruppen freie Hand – ein Teil der reaktionären Neuordnung des Landes nach Assads Sieg im Bürgerkrieg.
Die USA und der Westen, die sich der KurdInnen als Fußtruppen im Kampf gegen den islamischen Staat bedienten, lassen sie nun fallen wie eine heiße Kartoffel. Ihre Ankündigung, eine 30.000 KämpferInnen starke Grenztruppe im Verbund mit den kurdisch dominierten SDF (Demokratische Kräfte Syriens) zu schaffen, wurde als „Missverständnis“ dementiert. Am 21. Januar twitterte das US-Außenministerium: „Wir fordern die Türkei zur Zurückhaltung auf, um bei ihren militärischen Operationen zivile Opfer zu vermeiden.“ Im Klartext: Tote KämpferInnen der YPG/YPJ sind akzeptable Kollateralschäden einer an Zynismus kaum zu überbietenden US-Politik. Das deutsche Außenamt steht dem allerdings nicht viel nach, wenn es in diesem ungleichen Kampf „beide Seiten zur Zurückhaltung“ aufruft.
Während die Türkei ihren Einfluss als Regionalmacht mit dieser Operation festigen will und sie zugleich zur Abrechnung mit allen inneren „Feinden“ nutzt, so akzeptieren offenkundig die syrische Regierung, alle anderen Regionalmächte und die imperialistischen AkteurInnen die Invasion. Für die Rechte des national unterdrückten kurdischen Volkes will sich niemand die Finger verbrennen. Im Gegenteil: Alle hoffen, dass die türkische Offensive möglichst reibungslos vonstattengeht, dass sie rasch Fakten schafft. Daher mögen die KurdInnen zwar bedauert werden, vor allem aber sollen sie sich „mäßigen“, also gegen das zynische Spiel nicht aufbegehren.
Mit seiner Invasion hat das Land nicht nur der Bevölkerung von Afrin den Krieg erklärt. Auch der Krieg gegen das kurdische Volk und dessen Organisationen wie die HDP und die PKK wird verschärft. Die von der HDP ausgerufenen Proteste wurden mit brutaler Polizeigewalt im Keim erstickt. Unverhohlen droht Erdogan allen GegnerInnen, jedem demokratischen Protest mit brutaler Unterdrückung und Vernichtung: „Wir leiten gerade im Geiste der nationalen Einheit eine Operation gegen jene, die aus dem Ausland unsere Landesgrenzen bedrohen. Und ihr? Ihr versucht, uns von innen zu schlagen. So wie wir die einen aus ihren Höhlen in den Bergen herausgeholt haben, so werden wir auch euch niemals die Plätze und Straßen überlassen.“ (Tagesschau ARD, 21. Januar)
Der kurdische Widerstand gegen die türkische Invasion ist mehr als gerechtfertigt. Unabhängig von ihrer Haltung zur Politik der Führung der KurdInnen in Rojava und Afrin müssen alle Linken, die gesamte internationale ArbeiterInnenbewegung, alle Anti-ImperialistInnen die türkische Invasion verurteilen und deren sofortige Beendigung fordern.
Appelle an die Großmächte oder an die UNO werden dabei jedoch nicht weiterhelfen.
RevolutionärInnen unterstützen den berechtigten Widerstand des kurdischen Volkes in Rojava und in der Türkei. Wir treten für internationalistische Hilfe für die Kämpfenden ein, für deren materielle Unterstützung. Die kurdische Region im Nordirak muss ihre Grenzen für Rojava öffnen.
Wir rufen die ArbeiterInnenbewegung, alle linken Parteien, die Gewerkschaften, alle linken und anti-imperialistischen Kräfte auf, in Solidarität mit den KurdInnen auf die Straße zu gehen. Wir fordern die Öffnung der Grenzen für alle kurdischen Geflüchteten, die Aufhebung das Verbotes ihrer Organisationen, allen voran der PKK. Wir fordern die Einstellung aller Waffenlieferungen und Militärhilfe an die Türkei, den Abzug aller imperialistischen Truppen aus der Region!
Der Einmarsch türkischer Truppen droht, ein weiterer reaktionärer Schlag zur Neu-Aufteilung Syriens und vor allem gegen das kurdische Volk zu werden. Eine „Stabilisierung“ der Region wird er jedoch nicht bringen. Vielmehr wird er nur das Unrecht, die Unterdrückung festigen.
Die einzige Hoffnung liegt im Widerstand – nicht nur des kurdischen Volkes, sondern in der Vergeschwisterung der ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen, der städtischen und ländlichen Massen im gesamten Nahen Osten, der KurdInnen und PalästinenserInnen, der iranischen ArbeiterInnen und der wirklich demokratischen und sozialistischen Kräfte in Syrien, im Irak, in der Türkei.
Ein solche Politik – und auch das ist eine Lehre des kurdischen Kampfes und erst recht des Bürgerkriegs in Syrien – muss unabhängig von allen imperialistischen und reaktionären Kräften verfolgt werden. Sie muss die sozialen und demokratischen Fragen, den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht mit dem Kampf um eine sozialistische Umwälzung in der gesamten Region verbinden. Dazu braucht es ein Programm und eine politische Organisation, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Internationale.