KD Tait, Infomail 1168, 4. November 2021
Am Samstag, dem 16. Oktober, nahmen Zehntausende an einer antifaschistischen Demonstration in Rom teil, zu der der Gewerkschaftsbund CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro; Italienischer Allgemeiner Bund der Arbeit) aufgerufen hatte, um auf einen faschistischen Angriff gegen den Sitz der Gewerkschaft in der vorangegangenen Woche zu reagieren.
Am 9. Oktober hatten Tausende Menschen an einer Demonstration gegen den sogenannten Grünen Pass teilgenommen, der als Nachweis einer Corona-Impfung, eines negativen Tests oder einer kürzlich erfolgten Genesung dient.
Giuliano Castellino, der Stellvertretende Vorsitzende der rechtsextremen Partei Forza Nuova (Neue Kraft) und ihr Anführer in Rom, hatte diesen Angriff von der Bühne einer Kundgebung auf der römischen Piazza del Popolo (Platz des Volkes) aus angezettelt:
„Wisst ihr, wer zugelassen hat, dass der Grüne Pass Gesetz wurde und dass Millionen unserer Landsleute damit erpresst werden und von Arbeitslosigkeit bedroht sind? Sie haben bestimmte Namen: CGIL, CISL (Confederazione italiana sindacati lavoratori; Italienischer Gewerkschaftsbund) und UIL (Unione Italiana del Lavoro; Italienische Arbeitsunion). Wisst ihr, was freie BürgerInnen tun? Sie belagern die CGIL … Lasst uns gehen und alles holen, was uns gehört.“
In einer absichtlichen Nachahmung des Aufstands am Kapitol in Washington marschierten die DemonstrantInnen zum italienischen Parlament. Nachdem die Polizei ihren Versuch einzudringen zurückgeschlagen hatte, griff der von FaschistInnen angeführte Mob die Büros der CGIL an. Obwohl ein führender Politiker den Angriff im Zentrum Roms angekündigt hatte, erlaubte die Polizei den RandaliererInnen, das Gebäude zu zerstören.
PolitikerInnen der italienischen Regierungsparteien verurteilten den Angriff. Die FührerInnen der Demokratischen Partei und der Fünf-Sterne-Bewegung forderten sogar die Auflösung der Forza Nuova. Die ArbeiterInnen können jedoch nicht auf die kapitalistischen Parteien vertrauen, die in einer Koalition mit der Lega (Nord) von Matteo Salvini regieren.
Senator Salvini, der die Koalition unterstützt hat, aber nicht Teil der Regierung ist, hat seine AnhängerInnen gegen eben jene Corona-Maßnahmen aufgehetzt, für die die Abgeordneten seiner Partei gestimmt haben.
Hintergrund dieser Demonstrationen ist die Entscheidung der Regierung, den Grünen Pass, der bereits für den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und einigen Arbeitsplätzen erforderlich war, am 15. Oktober für alle Arbeitenden verbindlich zu machen. Diejenigen, die sich weigern, müssen Tests in Höhe von insgesamt 180 Euro pro Monat zahlen – weit über 10 Prozent des Durchschnittslohns. Wer gegen die Vorschriften verstößt, muss mit einer unbezahlten Freistellung und Geldstrafen von bis zu 1.500 Euro rechnen.
Die meisten ItalienerInnen unterstützen das Corona-Zertifikat, und bisher wurde die Antiimpfbewegung von populistischen und rechtsextremen Organisationen dominiert, die die Bosse von kleinen und mittleren Unternehmen mobilisierten, deren Profite durch die Kosten der Corona-Beschränkungen bedroht sind. Die antifaschistische Demonstration, zu der die CGIL aufgerufen hatte, die das verpflichtende Corona-Zertifikat befürwortet, war zahlenmäßig zehnmal größer als die Antiimpfkundgebung.
Die Ausweitung des Passes auf alle ArbeiterInnen löste jedoch Streiks und Blockaden an Häfen im ganzen Land aus, organisiert von Basisgewerkschaften wie Cobas (Comitato di Base Scuola) oder USB (Unitaria di Base; Basiseinheit) und anderen syndikalistischen „Basiskomitees“, die von der Regierung kostenlose Tests für alle ArbeiterInnen fordern.
Die Regierung sagt, die Einführung des Passes würde „die Sicherheit am Arbeitsplatz erhöhen und die Impfkampagne stärken“. Dieselbe Regierung weigerte sich aber, einen Lockdown zu verhängen, bis Streiks zu einer Schließung der Betriebe führten, nachdem Tausende gestorben waren. Sie beendete den ersten Lockdown zu früh, wodurch eine zweite tödliche Welle ausgelöst wurde. Ihr neu entdecktes Engagement für die Sicherheit am Arbeitsplatz ist sowohl zynisch als auch willkürlich.
Der eigentliche Grund ist eher prosaisch. Da die Erntezeit bevorsteht und die Weihnachtsvorbereitungen in vollem Gange sind, wollen Italiens Bosse unbedingt einen weiteren Lockdown vermeiden.
Italien hat eine der höchsten Impfraten der Welt: 80 Prozent der über 12-Jährigen sind vollständig geimpft, aber es gibt immer noch fast 2,5 Millionen ungeimpfte ArbeiterInnen. Die Impfablehnung ist bei älteren Lohnabhängigen und MigrantInnen am höchsten. Außerdem verweigert die EU bisher dem russischen Sputnik-Impfstoff die Zulassung bzw. Anerkennung.
Eine möglichst hohe Impfquote in der ganzen Welt ist wünschenswert, aber SozialistInnen sollten sich in dieser Situation gegen eine Impfpflicht aussprechen, die kontraproduktiv und potenziell diskriminierend ist. Die Gewerkschaften sollten sich für eine massive Ausweitung der öffentlichen Gesundheits- und Informationskampagne unter Kontrolle durch die ArbeiterInnen einsetzen, die ihre Sicherheit über den Profit stellt. Dies wäre weitaus wirksamer.
Die Reaktion der KapitalistInnen auf die Pandemie war in allen Ländern von der Sicherung ihrer Profite geleitet. Statt rascher und massiver Investitionen in die Gesundheitsfürsorge, die Sicherheit am Arbeitsplatz, die Aufklärung über Impfstoffe und die öffentliche Beschaffung und Verteilung der Vakzine nach einem internationalen Plan zur Ausrottung des Virus haben sich die Bosse und ihre Regierungen für eine Rückkehr zur „Normalität“ eingesetzt, d. h. für die ununterbrochene Anhäufung privater Profite.
Der Grüne Pass wird die Impfkampagne durch einfache kapitalistische Logik „verstärken“: Lass’ dich impfen (und arbeite) oder verhungere! Die Pandemie ist also eine Klassenfrage.
Wir sagen: Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind. Dem Kampf für „Zero Covid“ liegt eine politische Frage zugrunde. Es geht darum, ob die gesellschaftlichen Ressourcen für die Produktion von Profiten oder für die Rettung von Leben durch eine weltweite Kampagne zur Eliminierung des Virus eingesetzt werden sollen.
Deshalb fordern wir: