Martin Suchanek, Infomail 1127, 26. November 2020
Seit dem Morgen des 26. November erfasst ein weiterer Generalstreik Indien. Die Gewerkschaften rechnen mit bis zu 250 Millionen TeilnehmerInnen. Begleitet wird die Arbeitsniederlegung außerdem von Massenaktionen von Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen gegen neue drakonische Gesetze, die Farm Laws, die die Arbeit auf dem Land (de)regulieren sollen.
Zur Vorbereitung und Durchführung des Generalstreik haben sich zahlreiche landesweite Verbände und regionale Organisationen in der Joint Platform of Central Trade Unions (CTUs; Vereinigte Plattform der Gewerkschaftszentralen) zusammengeschlossen.
Diese besteht aus folgenden Verbänden Indian National Trade Union Congress (INTUC), All India Trade Union Congress (AITUC), Hind Mazdoor Sabha (HMS), Centre of Indian Trade Unions (CITU), All India United Trade Union Centre (AIUTUC), Trade Union Coordination Centre (TUCC), Self-Employed Women’s Association (SEWA), All India Central Council of Trade Unions (AICCTU), Labour Progressive Federation (LPF) und United Trade Union Congress (UTUC). Politisch repräsentieren sie das volle Spektrum von der bürgerlich-nationalistischen Kongresspartei nahestehenden Verbänden über die den kommunistischen Parteien verbundenen bis hin zu unabhängigen, teilweise radikaleren klassenkämpferischen Organisationen. Wenig überraschend fehlt mit Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der „gewerkschaftliche“ Arm der regierenden, hinduchauvinistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), die sich faktisch wieder einmal als gelber Verband von StreikbrecherInnen betätigt.
Der Generalstreik am 26. November richtete sich – wie schon jene der letzten Jahre, die mehr als 100 Millionen Lohnabhängige mobilisieren konnten – gegen einen fundamentalen Angriff durch die KapitalistInnenklasse und die Modi-Regierung. Die Regierung brachte seit 2019 vier neue Arbeitsgesetze in die Look Sabha (Parlament) ein, die 44 bisher gültige ersetzen sollen. Im Grunde sollen damit die Überreste der Beziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit, wie sie nach der Unabhängigkeit Indiens etabliert wurden, endgültig beiseitegeschoben werden. Dieser Prozess begann zwar mit der neoliberalen Wende der Kongress-Partei und der Öffnung der indischen Wirtschaft nach 1980, beschleunigte sich jedoch seit dem Ausbruch der globalen Krise 2007 und der Regierungsübernahme der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata Party (BJP) 2014. Das ist auch der Grund, warum sich entscheidende Fraktionen des Großkapitals vom Kongress, der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie, abwandten und, ähnlich den imperialistischen Großunternehmen, in der BJP die verlässliche Sachwalterin ihrer Interessen sehen.
Die Ideologie des Hindutva, nach der Indien ausschließlich den Hindus gehöre und in der religiöse Minderheiten wie Muslime, Indigene, die „unteren“ Kasten, Frauen und sexuelle Minderheiten BürgerInnen zweiter Klasse sein sollen, bildet den Kitt, um große Teile der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums und rückständige ArbeiterInnen vor den Karren des Kapitals zu spannen. Die „größte Demokratie der Welt“ bildet die Fassade für die zunehmend autoritäre, bonapartistische Herrschaftsform des Regimes Modi, das sich dabei auf extrem reaktionäre und auf faschistische Massenorganisationen stützen kann. In den letzten Jahren forcierte sie die Angriffe auf demokratische Rechte und ging brutal gegen Proteste vor, die sich gegen die nationalistische „Reform“ der Melde- und Staatsbürgerschaft richteten. Vielerorts, wie in Delhi provozierten Parteiführer der BJP Pogrome gegen Muslime und Protestierende. Indien annektierte Kaschmir und beendete dessen formal autonomen Status endgültig. Die „Reform“ der Arbeitsgesetze stellt ein, wenn nicht das klassenpolitische Kernstück der Politik der Modi-Regierung dar. Hier nur einige zentrale Aspekte:
All diese Maßnahmen zielen auf die Ausweitung der UnternehmerInnenfreiheit. Die weitgehende Entrechtung, die schon heute die Lage eines großen Teils der indischen ArbeiterInnenklasse prägt, der in verschiedene Formen der Kontraktarbeit (wie Tagelöhnerei, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, …) gezwungen wird, soll weiter ausgedehnt werden. Auch bisher „regulär“ Beschäftigte sollen von ihr erfasst werden.
Zugleich werfen diese Maßnahmen auch ein bezeichnendes Licht auf das Geschäftsmodell des indischen Kapitalismus. Die vom Weltmarkt und den internationalen Finanzmärkten abhängige halbkoloniale Ökonomie kann die Profitabilität der wachsenden kleineren Kapitale nur sichern, wenn diese weiter die Arbeitskräfte extrem ausbeuten, also unter ihren Reproduktionskosten kaufen und verwerten können. Ansonsten sind sie nicht in der Lage, sich auf dem Markt zu halten, die Vorgaben von Konkurrenzbedingungen, die das multinationale Großkapital aus den imperialistischen Ländern diktiert, zu erfüllen. Zugleich begünstigt diese Form der Überausbeutung auch die indischen Großkonzerne, die ihrerseits um größere Anteile am Weltmarkt ringen.
Diese Ausweitung selbst erschwert schon die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Organisierung massiv, die durch neue legale Einschränkungen zusätzlich eingeschränkt werden sollen.
Ergänzt werden die Angriffe auf die Arbeitsgesetze auch durch drastische Verschlechterungen für die Landbevölkerung, also für die ärmsten Schichten der Bauern und Bäuerinnen sowie für LandarbeiterInnen. Das ist auch der Grund, warum das All India Kisan Sangharsh Coordination Committee (AIKSCC) den Generalstreik unterstützt und mit Aktionstagen am 26. und 27. November verbindet.
Über die Forderung nach Abschaffung der gesamten reaktionären Reformen des Arbeitsgesetzes hinaus verlangen die Gewerkschaften außerdem eine monatliche staatliche Unterstützung von 7.500 Rupien (rund 85 Euro) für alle Familien, die keine Einkommenssteuer zahlen müssen, sowie 10 Kilogramm kostenloser Lebensmittel für alle Bedürftigen. Diese und ähnliche Forderungen verdeutlichen, dass die Corona-Pandemie und die kapitalistische Krise Millionen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in Not und Elend stürzen, sie gegen Armut, Hunger und Tod ankämpfen müssen.
Der Generalstreik der indischen Gewerkschaften erfordert unsere Solidarität – und zwar weltweit.
Zugleich macht er aber – gerade vor dem Hintergrund etlicher Massenstreiks der letzten Jahre – deutlich, dass die ArbeiterInnenbewegung und alle Bewegungen von Unterdrückten gegen das Hindutva-Regime eine Strategie brauchen, die über beeindruckende, aber auch nur auf einen Tag beschränkte Aktionen hinausgeht. Die Regierung Modi wird sich davon nicht stoppen lassen. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Wie die letzten Monate verdeutlicht haben, wird sie auch die Pandemie und die Krise zu nutzen versuchen, weitere Angriffe durchzuziehen.
Es geht daher darum, dem permanenten Angriff einen permanenten Widerstandskampf entgegenzusetzen – auf den eintägigen Generalstreik einen unbefristeten gegen die Arbeitsgesetze und für ein Mindesteinkommen und Mindestlohn für alle in Stadt und Land vorzubereiten und durchzuführen.
Die Koordinierung der Gewerkschaften und BäuerInnenorganisationen muss sich einer solchen Aufgabe stellen und zur Bildung von Aktionskomitees in den Betrieben, den Stadtteilen, in den Gemeinden und auf dem Land aufrufen, also Kampforgane bilden, die alle Schichten der Lohnabhängigen und der Klein- und MittelbäuerInnen einschließen, unabhängig von Religion, Nationalität, Kaste, Geschlecht oder sexueller Orientierung.
Angesichts der staatlichen Repression und der reaktionären hinduchauvinistischen Verbände müsste ein solcher Streik auch Selbstverteidigungsstrukturen aufbauen.
Ein politischer Generalstreik, der das Land dauerhaft lahmlegt, würde unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und somit auch die Möglichkeit und die Notwendigkeit, vom Abwehrkampf zur Offensive überzugehen. Diese erfordert freilich mehr als nur gewerkschaftlichen Widerstand. Sie erfordert die Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen alle Formen der Unterdrückung, die Verbindung des Kampfes gegen die BJP-Regierung mit dem gegen den Kapitalismus, den Aufbau einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen stützt und die für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung kämpft, die eine Räteherrschaft errichtet, das Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt.
Zur Zeit existiert keine politische Kraft in Indien, die ein solches Programm vertritt. Die verschiedenen kommunistischen Parteien haben sich vom revolutionären Sturz des Kapitalismus faktisch schon lange verabschiedet, die radikale Linke ist zersplittert und oft desorientiert. Die politische Krise zu überwinden, erfordert daher nicht nur die Unterstützung der Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse und sozialen Bewegungen. Alle, die nach einer sozialistischen und internationalistischen Antwort suchen, stehen auch vor der Aufgabe, in Diskussion um die programmatischen Grundlagen einer revolutionären Partei zu treten und deren Aufbau in Angriff zu nehmen.