Arbeiter:innenmacht

40 Jahre Kampf für die 35: Arbeitszeitverkürzung zwischen Klassenkampf und sozialer Befriedungstechnik

Mattis Molde, Infomail 1277, 27. Februar 2025

Im Jahr 2024 jährte sich zum vierzigsten Mal der Streik der IG Metall um die 40-Stunden-Woche. Einige Artikel wagten Rückblicke.1 In Stuttgart, dem Zentrum des Kampfes, kamen schon im Frühjahr viele der damals Aktiven zusammen. Bei der IG Metall Baden-Württemberg gab es erst im Herbst eine Veranstaltung, die es schaffte, weder den Kampfgeist von damals wieder aufleben zu lassen noch Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen. Warum tut sich die IG Metall mit der Arbeitszeitverkürzung von damals heute so schwer? Wie könnte Arbeitszeitverkürzung heute wieder eine Rolle spielen, damit sie aus ihrem Rückwärtsgang herauskommt?

Im Tarifvertrag, der den Abbau von 35.000 Arbeitsplätzen bei VW ermöglicht, kommt es einerseits zu Arbeitszeitverlängerung für Beschäftigte, die aus alten Verträgen noch 33 bzw. 34 Stunden arbeiten, zum anderen werden nicht ausbezahlte Lohnerhöhungen und andere Entgeltbestandteile zurückbehalten, um demnächst Tausenden Beschäftigten eine Art betriebliche Kurzarbeit zu bezahlen, wenn ihre Arbeitsplätze verschwinden. Schon am 5. September, 3 Tage nachdem VW Massenentlassungen und Werksschließungen angekündigt hatte, hatte die IGM-Vorsitzende Benner die Arbeitszeitverkürzung ins Spiel gebracht. „Wir sollten nichts unversucht lassen, um die Beschäftigung zu erhalten“2, sagte sie laut Tagesschau.

Aber VW hatte bereits in den 90er Jahren eine 4-Tage-Woche. Und vor vierzig Jahren wurde der Streik der IG Metall für die 35-Stunden-Woche beendet, der den ersten Schritt zur Verkürzung von 40 auf 38,5 Stunden brachte. Wenn Christiane Benner unter Arbeitszeitverkürzung dasselbe verstehen würde, wie es vor 40 Jahren verstanden wurde, hätte ihr Ausspruch im September 2024 zu einem Aufschrei der Empörung gesorgt.

Damals hatten Metaller:innen für 7 Wochen gestreikt, die Unternehmen hatten Hunderttausende ausgesperrt, die Regierung hatte sich klar auf Seiten des Kapitals postiert, Kanzler Kohl hatte Arbeitszeitverkürzung „dumm und töricht“ genannt und den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit und Parteifreund Heinrich Franke angewiesen, Kurzarbeitergeld nicht an kalt Ausgesperrte auszuzahlen, was damals noch Rechtslage war.3

Beim Rückblick auf den glorreichen Kampf von 1984 lohnt es sich auch, genauer hinzusehen, wie die 35 umgesetzt wurden und mit welchen Folgen bzw. welche Rolle Arbeitszeitverkürzung heute in der Metall- oder Stahlindustrie spielt und vor allem in der Autoindustrie spielen könnte. Offensichtlich ist Arbeitszeitverkürzung nicht gleich Arbeitszeitverkürzung. Wo kann man Unterschiede festmachen?

… bei vollem Lohnausgleich!

1984 war dieser Zusatz zur Forderung nach der 35 Standard. Er war notwendig, um zaudernde Kolleg:innen zu überzeugen, und auch eine Kampfansage an diejenigen, die sich gegen die Arbeitszeitverkürzung stellten. Kohls Aussage mit dem „dumm und töricht“ zielte ja nicht nur darauf, zu beweisen, dass er, Kohl, der bestmögliche Chef des deutschen „ideellen Gesamtkapitalisten“, des bundesrepublikanischen Staates, sei, sondern zielte auch auf die rückständigen Schichten des Proletariats, auf diejenigen, die zwar einen anständigen Lohn haben wollten, aber die gottgegebene Ordnung im Betrieb nicht in Frage stellten.

Solche Kolleg:innen gab es auch in der Metall- und Elektroindustrie und in der Arbeiter:innenschaft insgesamt erst recht. Und natürlich sollten für den bevorstehenden Kampf die Metaller:innen isoliert werden. Es ist wenig Fantasie nötig, um sich vorzustellen, dass BILD und ähnliche Medien auch genau an dieser Stelle ihre Agitation ansetzten.

Diese war ja auch nicht wirkungslos. Innerhalb des DGB mit damals 17 Einzelgewerkschaften hatte sich auch ein Riss aufgetan. Um die IG Chemie-Papier-Keramik (IG CPK; eine der Vorläuferinnen der IG Bergbau, Chemie, Energie; IG BCE) hatte sich ein Block gebildet, der der „Lebensarbeitszeitverkürzung“, also Vorruhestandsregelungen, den Vorzug gab und die Wochenarbeitszeitverkürzung ausdrücklich ablehnte.

Die Frage des Lohnausgleichs hat sich so in die Hirne auf beiden Seiten eingebrannt, dass heute die Tagesschau im Fall von VW formuliert: „Die Vier-Tage-Woche wäre für den Konzern nichts Neues.“ Bereits 1994 waren verkürzte Arbeitszeiten ohne vollen Lohnausgleich als Reaktion auf eine Absatzkrise eingeführt worden. Damals ging es um den Erhalt von 30.000 Arbeitsplätzen. Im Jahr 2006 kehrte VW zur Fünf-Tage-Woche zurück. „Seit dieser Zeit gilt auch eine Beschäftigungsgarantie, die nun aufgekündigt werden soll.“4

Dabei macht die Formel mit dem Lohnausgleich eigentlich schon lange keinen Sinn mehr: 1984 erhielten Arbeiter:innen noch Stundenlohn, die Bezahlung war also direkt an die Anzahl der Stunden gekoppelt. Bei einer Verkürzung der tariflichen, also regelmäßigen, wöchentlichen Arbeitszeit musste also dieser Stundensatz entsprechend erhöht werden, um den Wochen- oder Monatslohn zu sichern.

Heute wäre das nicht mehr nötig. Alle Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie erhalten „Monatsentgelt“. „Lohn“ für Arbeiter:innen und „Gehalt“ für Angestellte sind formell abgeschafft. Auch das hat mit der Einführung der 35-Stunden-Woche zu tun: 1984 wurde die Wochenarbeitszeit im ersten Schritt auf 38,5 Stunden reduziert. Es folgten weitere Schritte, die sich bis weit in die 1990er Jahre hinzogen. In diesem Verlauf wurde auf Monatsentgelte umgestellt. (Neben der einfacheren Umrechnung hatte das aber auch mit einer anderen Begleiterin der 35 zu tun: der Flexibilisierung mit Gleitzeit, Zeitkonten, Vor- und Nachholschichten …).

Heute muss man also schlicht „bei gleichem Lohn“ fordern – oder „gleichem Entgelt“ in der Sprache der Tarifverträge –, wenn man Arbeitszeitverkürzung als offensive Forderung gegen die Kapitalist:innen richtet.

… ohne vollen Lohnausgleich

Die weiteren Verkürzungen der Wochenarbeitszeit in Westdeutschland fanden ohne Streiks statt. Am Verhandlungstisch wurden Pakete geschnürt, die Arbeitszeitverkürzung und Entgelterhöhung gemeinsam regelten, auch wenn sie in separaten Tarifverträgen kodifiziert wurden. Die Formel des „Lohnausgleichs“ war noch immer so stark im Bewusstsein der Metaller:innen, dass diese Verträge nicht groß hinterfragt wurden. „Aber wir haben die Arbeitszeitverkürzung natürlich eingepreist“, sagten beteiligte Tariftechniker:innen der IG Metall. Natürlich, gerade auch aus dem Rückblick.

Noch eine andere Historie belegt den Wandel des Lohnausgleichs: In der industriellen Krise Ende der 1980er Jahre schlug der damalige Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine, vor, die Arbeitszeit auch ohne Lohnausgleich zu verkürzen, was auf Empörung in Gewerkschaftskreisen traf, auch wenn es eigentlich die Realität der Arbeitszeitverkürzung in der Praxis beschrieb.

Schon rund 5 Jahre später praktizierte der damalige Bezirksleiter in Niedersachsen, Jürgen Peters, genau diese Arbeitszeitverkürzung mit Entgeltkürzung zur Rettung von VW in Form einer 28-Stunden-Woche. VW wurde gerettet. Die Arbeitszeit wurde später wieder verlängert und Jürgen Peters wurde in den Vorstand der IG Metall gewählt. Später wurde er Vorsitzender, aber erst mal Stellvertreter. In dieser Funktion war er Streikführer im Streik um die 35 im Osten. Nach der Niederlage wurde er gegen großen Widerstand des rechten Flügels, der „Modernisierer“ und der süddeutschen Autogesamtbetriebsratsfürst:innen dennoch zum Vorsitzenden gewählt.

Spielte der „Lohnausgleich“ eine Rolle bei diesem Konflikt? Vielleicht eine kleine. Das Lohnniveau im Osten war derart niedrig, dass eine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnverlust kaum tragbar gewesen wäre. Aber die entscheidenden Konflikte im Land und in der IG Metall waren andere: Ein Streik, der die Produktion der Autoindustrie gefährdete, war für deren Betriebsratsfürst:innen untragbar. Das Lag ganz auf der Linie des Autokanzlers Schröder, der damals mit der Lissabon-Agenda – in Deutschland als Agenda 2010 übersetzt – zur europäischen Attacke auf die wirtschaftliche Dominanz der USA ansetzte, eine Attacke, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie steigern musste und deshalb höhere Ausbeutungsraten und eine weniger wehrhafte Arbeiter:innenklasse brauchte. Der anfängliche Widerstand der IG Metall und anderen DGB-Gewerkschaften gegen die Agenda 2010 brach übrigens in Ersterer nach einem Treffen der Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Autokonzerne zusammen, das die Agenda befürwortete, also die Angriffe auf die Arbeitslosen, den Ausbau der Leiharbeit usw. Auf der so entstandenen Drohung, beim Verlust des (in der Autobranche gut bezahlten) Arbeitsplatzes in Arbeitslosigkeit und erzwungene Arbeit im Niedriglohnbereich zu stürzen, wurden die ganzen „Standortsicherungsverträge“ aufgebaut, die den Verzicht auf Lohn gegen vorgebliche „Arbeitsplatzsicherheit“ organisierten und das bis heute tun.

… bei vollem Personalausgleich/Arbeitsverdichtung

Schon in der Debatte um die Aufstellung der Forderung nach der 35-Stunden-Woche kam die Befürchtung auf, dass die Reaktion der Unternehmen eine Verdichtung der Arbeit sein würde. Diese Gefahr ist aber in verschiedenen Arbeitsbereichen verschieden groß. In Montage- und anderen Produktionsbereichen war damals die Arbeitsdichte über Akkorde geregelt, heute bestimmen die Takte automatisierter Prozesse die Arbeit. Typische Angestelltentätigkeiten, aber auch andere takt-ungebundene Arbeitsaufgaben waren damals wie heute viel stärker einem direkten Druck durch Vorgesetzte ausgesetzt. Arbeitshetze, sagte man früher, heute redet man vom Burn-out als Folge.

Damit die Arbeitszeitverkürzung nicht einfach durch verschärften Druck kompensiert wird, wurde die Forderung nach „vollem Personalausgleich“ diskutiert. Diese schaffte es aber nur in die eine oder andere Resolution, nie in einen offiziellen Forderungskatalog. Schon gar nicht die damit verbundene Forderung, dass die Betriebsräte eine Mitbestimmung bei der Personalbemessung haben sollten oder gar diese unter Kontrolle der Beschäftigten in den betroffenen Abteilungen stattfinden sollte.

Wenn heute Arbeitszeitverkürzung dort appliziert wird, wo Arbeitsvolumen durch Konjunktur, Produktionsumstellung oder Verlagerung entfällt, ist die Forderung nach Personalausgleich unnötig. Die Arbeitszeit wird ja dem schon geringeren Volumen angepasst. Nur wenn die Arbeit in der gesamten Gesellschaft oder einer großen Branche kollektiv verkürzt wird, ist es nötig, darum zu kämpfen, dass damit auch Neueinstellungen durchgesetzt werden.

2003: Die Niederlage im Osten

Die MetallerInnen im Osten wollten die 35-Stunden-Woche schon lange. Im Jahr 2003 war es so weit. Vor allem aus dem Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen lagen eindeutige Beschlüsse mit klaren Mehrheiten vor.

Dass die Kapitalist:innen diese nicht kampflos hinnehmen würden, war klar. Es kam zum Arbeitskampf. Dieser wurde über Wochen sehr erbittert geführt. Streikbrecher:innen wurden in großer Zahl gekauft und mit allen Mitteln in die Betriebe geschafft. Nicht nur, um die Produktion aufrechtzuerhalten, sondern für eine Propagandakampagne, dass die Westfunktionär:innen den armen Ossis einen nicht gewollten Streik aufzwingen würden. Die bürgerlichen Medien geiferten.

Was aber viel schlimmer war, war der dreifache Verrat aus den eigenen Reihen. Die gleichen Kräfte, die in der IG Metall im Hintergrund die Unterstützung für die Agenda 2010 betrieben, halfen auch, den Streik abzuwürgen: der sich zu dieser Zeit formierende rechte Flügel um den späteren Vorsitzenden Huber. Ihm stand der damalige zweite Vorsitzende Peters im Weg. Diesem sollte die Schuld am Debakel aufgehalst werden, er war offiziell für die Tarifpolitik zuständig. Es ging nicht nur um Posten, sondern auch darum, die ganze heutige rechte Politik in der damals noch als links und kämpferisch geltenden IG Metall auf den Weg zu bringen. Dass die rund 10 Jahre später beispielsweise einen Angriff auf das Streikrecht lancieren und durchsetzen würde, konnte sich damals kaum einer vorstellen.

Die schärfsten Verfechter:innen dieser Rechtswende waren – und sind – die Konzern- und Gesamtbetriebsratschef:innen der Autoindustrie. Sie wollten keine Solidaritätsaktionen und auch nicht, dass die fehlenden Teilelieferungen aus dem Osten zu Produktionsausfällen im Westen führen würden. Die betroffenen Beschäftigten hätten dabei übrigens Kurzarbeitergeld erhalten, die Streikkasse wäre geschont worden. Nein, die Profite „ihrer“ Konzerne waren ihnen wichtiger. „Wegen 10.000 Streikenden im Osten können wir doch nicht die Bilanz versauen“, „tarifpolitische Geisterfahrer“ – so wurde plötzlich in der Gewerkschaft argumentiert. Klaus Franz, damals Betriebsratschef von Opel, rief öffentlich zum Streikabbruch auf, der damalige IG-Metall-Vorsitzende Zwickel zog ihn – satzungswidrig und ohne Urabstimmung – durch.

Die Bürokrat:innen schieben immer die Schuld auf die Massen. Das taten sie auch 2003. Natürlich gab’s im Osten Streikunwillige und Streikbrecher:innen. Natürlich gab’s Kolleg:innen im Westen, deren Solidarität nicht sehr ausgeprägt war. Natürlich hatten auch Peters und seine Leute Schuld daran, nicht vorher ausreichend in der ganzen Organisation mobilisiert zu haben. Aber die wirklichen Streikbrecher:innen waren die SPD an der Regierung, die rechten Huberleute und die Gesamtbetriebsratschef:innen aus den Automobilherstellerbetrieben.

VW 2006

12 Jahre hatte die 28-Stunden-Woche bei VW Bestand, dann erfolgte die Rückkehr zur 35 bei einer 5-Tage-Woche. Die 4-Tage-Woche war also nur eine Übergangsmaßnahme gewesen. Sie sollte nicht zum Signal werden, eine weitere gesellschaftliche Verkürzung einzuleiten, z. B. auf 32 Stunden in der Metallindustrie.

Es war die Zeit der Agenda 2010, die in der Autoindustrie mit der Demontage der betrieblichen übertariflichen Bezahlung und anderer Errungenschaften wie hoher Betriebsrenten etc. einherging. Es war der Beginn der „Standortsicherungen“ im großen Stil, in denen die Besitzstände für die bestehende Belegschaft festgeschrieben wurden und zugleich neue, niedrigere Standards für zukünftige. Dafür wurde die Beschäftigung „gesichert“, für einzelne Unternehmen oder gar nur Werke – gegen die anderen, vor allem die im Ausland. Die gewohnte gewerkschaftliche Solidarität ist seitdem zerfallen.

2005 gingen nicht nur die nur Beschäftigten von Mercedes-Benz Untertürkheim gegen das „Erpresswerk“ – die Mutter aller Standortsicherungen dieses Typs – auf die Straße, einschließlich einer spontanen Blockade der B10, sondern auch Metallerinnen und Metaller aus anderen Betrieben in Stuttgart. Sie wussten, dass dort eine Niederlage drohte, die auch sie treffen würde. Heute ist der Kampf der Audi-Kolleg:innen in Brüssel den Vertrauensleuten in Bayern noch nicht mal ’ne Solierklärung wert.

Es war die Zeit nach der Agenda 2010, in der massive Angriffe auf die Arbeitslosen erfolgten. Wer seitdem arbeitslos wird, stürzt sozial total ab. In den Betrieben war das die Peitsche zum Zuckerbrot der „Beschäftigungsgarantien“, die in die Standortsicherungen eingebaut wurden.

Es war auch die Zeit, in der es den Betriebsratschef:innen der großen Autohersteller wichtiger war, dass „ihr“ Unternehmen volle Kanne produziert und nicht durch eine kalte Aussperrung wegen des Streiks für die 35 im Osten lahmgelegt wird. Der Gesamtbetriebsratschef von Opel rief öffentlich zum Streikbruch auf, der von Daimler sprach von „tarifpolitischen Geisterfahrern“ im Osten.

2006 war eine Zeit, die dringend eine gesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung gebraucht hätte, als solidarische Bewegung gegen Arbeitslosigkeit und Teil einer gewerkschaftlichen Kampagne gegen die Agenda 2010. Dass sie nicht kam, ist ein wichtiger Grund für die Schwäche der deutschen Gewerkschaften und der Arbeiter:innenbewegung.

2013: nach dem Crash

Das Echo in den Medien war gar nicht so schlecht und die Resonanz in der arbeitenden Bevölkerung erstaunlich gut und durchweg positiv. 100 Professor:innen, Gewerkschafter:innen und Politiker:innen:innen wandten sich im Februar 2013 an die Gewerkschaftsführungen mit einem Appell für eine 30-Stunden-Woche:

„Deutschland und die ganze Europäische Union befinden sich in einer schweren ökonomischen und sozialen Krise.“ Die Arbeitslosigkeit hat in Europa unerträgliche Größenordnungen erreicht. Besonders erschreckend ist die Jugendarbeitslosigkeit, die in einzelnen Ländern über 50 Prozent hinausgeht. In Deutschland ist zwar die Zahl der Jobs in den letzten Jahren gestiegen, aber es sind überwiegend Kurz-Jobs, die als Lebensgrundlage nicht ausreichen (sog. prekäre Beschäftigungsverhältnisse).“

Statt diesen Appell also zu einem Neustart der Diskussion zu machen, ließ sich die IG Metall in Talkshows und anderen Medienereignissen zur Kronzeugin gegen die Arbeitszeitverkürzung umpolen. Zum Thema „Jugendmassenarbeitslosigkeit in Europa“ hatte die IG Metall 5 Wochen nichts zu sagen, dann forderte sie in einer lahmen Erklärung eine Umstellung europaweit auf das erfolgreiche deutsche Modell der dualen Berufsausbildung (Betrieb und Berufsschule).

Knut Giesler, Bezirksleiter der IGM in NRW, meinte: „Einfach zu sagen, wir reduzieren auf 30 Stunden und verteilen auf alle – das funktioniert in so einer komplexen und globalisierten Wirtschaft, wie wir sie jetzt haben, leider nicht mehr.“

2018: Der Osten lässt nicht locker

2018 kam die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung nur durch massiven Druck aus dem Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen überhaupt auf die Tagesordnung. Die Kolleg:innen aus den Betrieben nutzten alle Konferenzen und Veranstaltungen der Gewerkschaft für ihr Anliegen. Wider Willen musste der damalige Vorsitzende Jörg Hofmann die Forderung übernehmen. Aber In den Präsentationen und Reden des Vorstandes und der Bezirksleitungen im Westen tauchte das Thema höchstens ganz am Rande auf, meistens gar nicht. Der Pilotabschluss kam in NRW zustande, die Arbeitszeitverkürzung im Osten kam nicht vor. Ein Papier, das Gespräche dazu im Osten versprach, wurde von der Unternehmensseite nach der Tarifrunde zerrissen.

2020: Das weiße Kaninchen

Als Krönung seiner Amtszeit zauberte er sie aus dem Zylinder: Jörg Hofmann verkündete einen Neustart der Arbeitszeitverkürzung, die so lange zum Tabu erklärt worden war. Eine Arbeitszeitverkürzung des neuen Typs: individuell oder betrieblich, nicht branchenweit; ganz oder überwiegend selbstbezahlt; immer im Konsens mit dem Unternehmen; Abfederung des Arbeitsplatzabbaus statt Kampf um mehr Arbeitsplätze.

Entsprechend wurden Tarifverträge in der Metall-, Elektro- und Stahlindustrie vereinbart, wie wir sie oben beschrieben haben. Es gibt daran einen möglichen positiven Aspekt. Die Möglichkeit, die Arbeitszeit für Kindererziehung oder Pflege individuell zu verkürzen, erlaubt eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Die bislang oft einzige Möglichkeit dazu war die Teilzeit, die beantragt und genehmigt werden musste. Eine Regelung, die die Betroffenen, meist Frauen, aber auch nur im Einverständnis mit der Gegenseite wieder rückgängig machen konnten. Die Unternehmen nutzten dies gerne für Karriereknicks oder zur Bestrafung von gewerkschaftlich aktiven Kolleg:innen. Hier sind die 8 zusätzlichen freien Tage aus dem Tariflichen Zusatzgeld (T-Zug) eine kleine Abhilfe, nicht die Lösung.

Auch der Tarifkonflikt im Osten wurde auf dieser Schiene beendet, wenn auch auf dem Abstellgleis. Im Tarifgebiet Berlin-Brandenburg-Sachsen wurden einzelbetriebliche Vereinbarungen ermöglicht. In jedem Betrieb, in dem das Unternehmen es möchte, wird einzelbetrieblich geregelt, wie die Beschäftigten ihre Arbeitszeitverkürzung selbst bezahlen. Mecklenburg und Thüringen hängen an IG-Metall-Bezirken dran, die westlich dominiert sind (Küste und Mitte). Das heißt nicht, dass dort Westtarife gelten, sondern nur, dass sie es dort sehr schwer haben, ihre Ostinteressen zu pushen.

Gekürztes Entgelt

Auf jeden Fall basieren die Arbeitszeitverkürzungen in allen IG-Metall-Tarifverträgen der letzten Jahre auf Entgeltkürzungen. So wurde für die Metall- und Elektroindustrie 2018 das Tarifliche Zusatzgeld A eingeführt, eine jährliche Sonderzahlung neben dem „Weihnachtsgeld“ und dem Urlaubsgeld. Es ist an den individuellen Lohn gekoppelt, steigt also bei Tariferhöhungen und entspricht wertmäßig dem Entgelt für 8 Arbeitstage. Eine Arbeitszeitverkürzung um diese 8 Tage jährlich kann individuell beantragt werden zur Kinderbetreuung, Entlastung bei Schichtarbeit oder für Pflegeaufgaben. Oder Betriebsrat und Firmenleitung machen eine kollektive Vereinbarung für die ganze Belegschaft oder Teile derselben, dass alle diese freien Tage nehmen müssen und das entsprechende Entgelt entfällt.

Das ist nicht die einzige Regelung nach diesem Strickmuster: „Mit dem Tarifabschluss 2021 hat die IG Metall weitere tarifliche Optionen zur Wandlung von Geld in Zeit geschaffen (etwa das Transformationsgeld oder den Transformationsbaustein), die Betrieben mehr Spielraum zur Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung geben …“ Bei allen kollektiven Optionen zur Wandlung von Geld in Zeit gilt jedoch: Der/Die Arbeit„geber“:in darf nicht allein entscheiden. „Der Betriebsrat muss zustimmen.“5

021: Ein Blumenstrauß an Sonderentgeltformen

Während das Tarifliche Zusatzgeld noch das Ziel formuliert, die persönliche Arbeitszeit zu gestalten, ist die Aufgabe des Transformationsgeldes ganz klar, die Produktionsumstellungen zu erleichtern. Das Geld muss nicht ausgezahlt, wahlweise kann auch die Arbeitszeit abgesenkt werden. Das kann jede/r Beschäftigte individuell tun, es können aber auch betriebliche Regelungen zwischen Betriebsrat und Management vereinbart werden.

Weil mit dem Transformationsgeld von 2,3 % nicht mal eine Arbeitsstunde pro Woche finanziert werden kann, eröffnet der Tarifvertrag auch noch die Möglichkeit, das Urlaubs- und „Weihnachtsgeld“ dafür einzusetzen. Das nennt sich dann „Teillohnausgleich“ und blufft damit: Es ist kein „Lohnausgleich“ in dem Sinne, dass ein Teil der Arbeitszeitverkürzung vom Unternehmen „ausgeglichen“ würde, sondern die Beschäftigten verlieren exakt den Betrag, den sie erarbeitet hätten. Es ist nur eine Verschiebung von Entgelt, das für andere Zwecke, wie Weihnachten oder Urlaub, gedacht war und den Beschäftigten ohnedies zusteht.

VW-Debakel

In dem „Weihnachtswunder“, in dem die IG Metall im Dezember 2024 mit dem VW-Konzern eine Vereinbarung abschloss, die dem Vorstand erlaubt, binnen 4 Jahren 35.000 Arbeitsplätze der Stammbelegschaft zu vernichten unter der Bedingung, dass keine Entlassungen stattfinden, kommt die Arbeitszeit erst mal als Verlängerung vor.

Den Belegschaftsmitgliedern, die vor 20 Jahren mal eine verkürzte Arbeitszeit auf 34 bzw. 33 Stunden bekommen haben, wird die Arbeitszeit auf 35 verlängert gegen eine Abschlagszahlung in der Nähe des Mindestlohn-Stundensatzes. Sie tragen also erst mal dazu bei, Arbeitsplätze zu vernichten.

Zum Zweiten wird ein Topf geschaffen aus den Geldern, die die Belegschaft erhalten hätte, wenn die Erhöhung des Flächentarifs auch auf VW angewendet worden wäre, wie aus Kürzungen der Sonderzahlungen und Prämien. Aus diesem Topf sollen zukünftig Leute bezahlt werden, deren Arbeit entfällt, wenn Produkte verlagert, fremdvergeben werden oder wegfallen. Eine Art kollektiv selbstfinanzierte Kurzarbeit nach Gutdünken der Bosse.

Das fällt noch deutlich hinter die Andeutung der Vorsitzenden Benner aus dem September zurück und der VW-Vereinbarung von 1994, bei der die Arbeitszeitverkürzung zwar von der Belegschaft selbst finanziert, aber im Grundsatz allen die Arbeitszeit gleichmäßig auf 4 Tage/Woche verkürzt wurde. Die perverse Verteilung der Arbeit im Kapitalismus – die einen arbeiten sich zu Tode, die anderen macht die Arbeitslosigkeit kaputt – wird auch noch auf einen einzelnen Konzern übertragen.

Das ist einerseits ein Beleg dafür, dass die Gier des Kapitals, noch aus der individuellen Selektion der Arbeitskräfte Extraprofit zu generieren, keine natürlichen Grenzen kennt. Andererseits ist das ein trauriger Beleg dafür, dass bei der Anpassung der IG Metall an die Profitinteressen des größten Autokonzerns der Welt die Verteidigung einigermaßen ähnlicher Arbeitsbedingungen kein Wimpernzucken mehr wert ist.

Arbeitszeitverkürzung zurückgewinnen

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist und bleibt zentral, um gegen das kapitalistische Krisenregime zu kämpfen. Es geht um die Umverteilung der Arbeit auf alle und darum, die Einheit der Klasse im Kampf gegen das Kapital und seinen Staat herzustellen.

Es gilt also, die Reduzierung dieser Forderung auf ein individuelles Recht und erst recht die Perversion zu einem Mittel zur kampflosen Umsetzung und Gestaltung von Angriffen des Kapitals aufzuzeigen und zu bekämpfen.

  • Arbeitszeitverkürzung muss bei vollem Lohn geschehen, bei Beibehaltung des monatlichen und jährlichen. Keine Verrechnung von Sonderzahlungen etc. mit Kürzungen des Monatsentgelts.
  • Die Arbeitszeitreduzierung muss immer alle Beschäftigten im Bezugsbereich betreffen, dem betroffenen Betrieb, der Branche oder Klasse. Es muss immer das Ziel sein, das auf alle auszuweiten, alle einzubeziehen, so wie es immer das Ziel gewerkschaftlichen Kampfes sein muss, gegen die Konkurrenz der Kapitalist:innen die Einheit der eigenen Klasse zu setzen, gerade auch international.
  • Die alte Forderung nach „Personalausgleich“ gilt natürlich weiterhin, damit die Unternehmen oder Behörden nicht den Arbeitsstress erhöhen und die Arbeitslosen wieder eingegliedert werden können. Gegen das Argument, dass ja eh das Arbeitsvolumen zurückgehe, müssen wir die Forderung nach „Arbeiter:innenkontrolle“ setzen. Delegierte der Abteilungen oder Bereiche sowie die gewählten Vertretungen, Betriebsräte und Vertrauensleute sollen die Zahlen des Unternehmens überprüfen. Die Beschäftigten in jedem Bereich sollen entscheiden, wie viel Personal zukünftig nötig ist, und am besten selbst die Bewerberinnen auswählen.

Um der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung wieder Dynamik zu verleihen, hilft es überhaupt nicht, wenn die gewerkschaftliche und politische Linke an die Gewerkschaftsführung appelliert, diese doch wieder „richtig“ zu machen. Der IG-Metall-Vorsitzende Hofmann hatte nicht einen Fehler bei der Umsetzung begangen, als er dieses Ziel wieder ausgegeben hatte. Er hat nach einem Weg gesucht, wie die Umsetzung der Ziele des Kapitals, Personalkosten zu senken, von der IG Metall „vertretbar“ begleitet werden kann. So wie er 2022 einen Weg gesucht hat, wie Reallohnsenkungen nach der Covid-Krise und zur Sicherung der Unternehmensgewinne trotz des Drucks der gewerkschaftlichen Basis nach Lohnerhöhungen und gegen die Inflation durchgesetzt werden können, und mit Scholz die Lösung in den steuer- und abgabefreien Einmalzahlungen gefunden hatte.

Genauso wenig reicht es, diese Forderung wie eine Zauberformel nur möglichst oft zu wiederholen, damit so immer mehr arbeitende Menschen in ihren Bann gezogen würden. Oder diese Forderung als Frage eines schöneren Lebens oder einer gerechteren Gesellschaft zu präsentieren, wie dies aus Attac und anderen kleinbürgerlichen Vereinigungen immer wieder geschieht. Es bleibt eine Frage des Klassenkampfes und die Frage ist, wo stehen die Gewerkschaften in diesem.

Die reformistischen Führungen der Gewerkschaften stehen am Ende immer auf der Seite der herrschenden Klasse und ihres Systems. Je mehr dieses in die Krise kommt, je mehr es nötig ist, dass die Massen für diese Krise zahlen sollen, desto schwieriger wird der Eiertanz der Gewerkschaftsbürokratie, die Interessen der Arbeitenden im Munde zu führen und in der Praxis dem Kapital zu dienen.

Das aber kann die Stunde der sozialistischen und kommunistischen Kräfte sein, die Illusionen anzugreifen, dass mit der Politik der Reformist:innen in Gewerkschaften, Die Linke und der SPD noch irgendetwas für die Klasse zu gewinnen ist, noch nicht einmal „das Schlimmste zu verhindern“, was ja seit einiger Zeit das Beste ist, was Reformist:innen offerieren.

Dafür ist es natürlich nötig, die Bürokratie mit Forderungen und Vorschlägen für die Führung des Kampfes zu konfrontieren. Für vereinzelte kämpferische Kolleg:innen in Betrieben und Gewerkschaftsstrukturen ist auch meist nicht mehr drin in der momentanen Kräftekonstellation. Aber um diese zu ändern, müssen wieder mehr Kolleg:innen in die Lage versetzt werden, im Betrieb den Unmut über diese Führung zu organisieren. Sie müssen erklären können, warum die Gewerkschaftsführungen verraten, warum deren Politik des Alles Mitmachens und dabei das Schlimmste zu verhindern Versuchens die Gewerkschaften und Belegschaften schwächt und keine Perspektive aufzeigt, wie sie bekämpft werden können.

Das erfordert, sich mit dem Kapitalismus auseinanderzusetzen, mit seiner Überwindung und den Hindernissen und Fehlern, die dabei aufgetreten sind. Die Gewerkschaftsbürokratie ist dabei eines dieser Hindernisse. Es ist eben nicht wie im Lehrbuch, dass die Arbeiter:innen sich in Gewerkschaften organisieren zum Zwecke des Klassenkampfes. Die Gewerkschaften werden geführt von einer Bürokratie, die eine andere soziale Interessenlage repräsentiert als die Klasse. Sie sucht sich ein warmes Plätzchen im Kapitalismus, und dafür hält sie die Klasse auch in diesem System gefangen. Dabei stützt sie sich sozial auf die Arbeiter:innenaristokratie, die gehobenen Schichten der Klasse, die im Staatsapparat arbeiten oder in Industrien, in denen Extraprofite möglich sind. Vor allem aber stützt sie sich darauf, dass der gewerkschaftliche Kampf zwar Klassenbewusstsein erfordert und erzeugt, aber kein sozialistisches, kein revolutionäres Bewusstsein. „Linkes, kämpferisches“ gewerkschaftliches Bewusstsein, das dafür argumentiert, „das Beste aus jedem Kampf herauszuholen“, ist ebenso wie das „rechte“, das „das Schlimmste verhindern“ will, bürgerliches Bewusstsein. Es verbleibt im Rahmen des Kampfes um den Preis der Ware Arbeitskraft, sieht nicht die Notwendigkeit dessen für die Aufhebung der Lohnarbeit.

Schon früh in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung hat dies zur Trennung von gewerkschaftlichem und politischem Kampf geführt. Der „Sozialismus“ wurde der Partei, in Deutschland der SPD, überantwortet, dort als Fernziel vor sich hergetragen und letztlich fallengelassen. Linke Reformist:innen wie DKP oder Teile der Die Linke halten es auch heute noch verbal hoch, in der Praxis machen sie durchweg bürgerliche Politik. Trotz dieser praktischen historischen Erfahrung und der theoretischen Begründungen von Marx, Lenin und Trotzki, warum das so ist und warum von daher ein politischer Kampf nötig ist, ignorieren auch subjektiv revolutionäre Linke und Gewerkschaftsaktivist:innen diese Tatsache, dass sich aus dem spontanen Kampf, sei er auch noch so energisch und fähig, in einer ersten Phase die Hindernisse der Bürokratie zu überrennen, kein Bewusstsein von der Notwendigkeit des Sturzes der Grundfesten der bügerlichen Gesellschaft aus sich heraus entwickelt, er vielmehr letztlich diese politische Bewaffnung braucht, um den Reformismus als politische Ideologie, als bewusste Unterordnung und Fesselung an dieses System durch die Trägerin dieser Ideologie, die Gewerkschaftsbürokratie, zu bekämpfen und die Gewerkschaften und die Klasse von dieser Fessel zu befreien.

Die Forderung nach der 35-Stundenwoche konnte in den achtziger Jahren noch mit einem kämpferischen, reformistischen Bewusstsein offensiv vertreten werden. Der Nachkriegsboom hatte dem Kapitalismus wieder ein hoffnungsfrohes Mäntelchen umgehängt und die Exportstärke (West-)Deutschlands erlaubte Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse. Natürlich war auch gewerkschaftliche Kampfkraft 1984 nötig, aber Leute wie Bernd Riexinger verbreiten Illusionen, wenn sie behaupten, dass mit Kampfkraft alleine auch heute soziale Fortschritte zu erzielen seien.

In gewisser Weise hatte also der Metallbürokrat Giesler recht, als er meinte: „Das funktioniert nicht in so einer komplexen und globalisierten Wirtschaft, wie wir sie jetzt haben.“ Der Kapitalismus in seiner globalen Krise, die einhergeht mit einer ständig schärfer werdenden Konkurrenz unter den Monopolen und imperialistischen Staaten, bietet keinen Spielraum für soziale Zugeständnisse, und wenn es der Klasse doch irgendwo gelänge, mit heftigsten Kämpfen einen Sieg zu erringen, wären die Bourgeoisie und ihr Staat sofort gezwungen – mit allen Mitteln bis hin zum direkten Angriff auf die Klasse und ihre Organisationen –, dies zu revidieren.

Gieslers „Realismus“ führt ihn zur Unterstützung der Angriffe des Kapitals. Unser Realismus muss den Kampf für Arbeitszeitverkürzung mit allen anderen Kämpfen zur sozialen Verteidigung verbinden und mit der Frage der Macht:

  • So wie die Klasse die Umverteilung der Arbeit auf alle selbst in die Hand nehmen muss und nicht der Personalabteilung, staatlichen Stellen oder der Gewerkschaftsbürokratie überlassen darf, müssen auch alle anderen Kämpfe, für mehr Lohn, zur Verteidigung der gewerkschaftlichen und demokratischen Rechte, gegen Unterdrückung von Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen und Minderheiten aller Art, zur Verteidigung gegen Übergriffe des Staates oder der Rechten und Rassist:innen auf demokratische Weise selbst organisiert werden.
  • Die reformistischen Apparate müssen dazu unter Druck gesetzt werden, dies entweder zu unterstützen oder das Feld zu räumen. So kann dieser Kampf auch zu einem werden, die Gewerkschaften voll in den Dienst der Arbeiter:innenklasse zu stellen.

Als Zauberformel hat die Arbeitszeitverkürzung ihre Wirkung schon lange verloren, als Instrument der sozialen Befriedung ist sie ein Hindernis, im Rahmen eines revolutionären Übergangsprogramms ein unabdingbarer Bestandteil, bei einem Aufschwung der Arbeiter:innenbewegung kann sie neue Kraft entfalten.

Endnoten

1 https://gewerkschaftsforum.de/leben-lachen-lieben-kaempfen/

2 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/vw-krise-102.html#:~:text=Angesichts%20der%20Krise%20bei%20Volkswagen%20hat%20sich%20IG-Metall-Chefin

3 Kalte Aussperrung: Beschäftigte in der Produktion, die nicht arbeiten können, weil das durch einen Streik in einem anderen Betrieb unmöglich ist. Heißes Aussperren bezeichnet eine Kampfmaßnahme der Unternehmen, die durch die Eskalation des Streiks die Kosten für die Gewerkschaft hochtreiben wollen. Heiße Aussperrung kann es nur in einem Kampfgebiet geben, kalte Aussperrung auch in anderen Tarifbezirken

4 siehe Endnote 2

5 https://www.igmetall.de/tarif/tarifrunden/metall-und-elektro/tarifliches-zusatzgeld-oder-acht-freie-tage

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2 thoughts on “40 Jahre Kampf für die 35: Arbeitszeitverkürzung zwischen Klassenkampf und sozialer Befriedungstechnik”

  1. jens speckenbach sagt:

    Liebe Redaktion, welche marxistische Partei haltet ihr aktuell für nicht reformistisch sondern für kämpferisch im Sinne der Ziele der Arbeiterklasse?

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