Arbeiter:innenmacht

Syrien: Der Sturz Assads und die Aufgaben der Arbeiter:innenklasse

Liga für die 5. Internationale, Infomail 1271, 14. Dezember 2024

Der Sturz Assads hat die Lage in Syrien grundlegend verändert. Million feierten und feiern die Flucht des Diktators und das Ende seiner Diktatur. Zu Recht! Assad und sein Regime sind für den Tod und die Folterung Hunderttausender, Vertreibung und Flucht von Millionen verantwortlich.

Warum stürzte Assad?

Die Vertreibung Assads und das Ende der Diktatur der reaktionären nationalistischen Baath-Partei (Arabische Sozialistische Baath-Partei) stellen einen Erfolg nicht nur der HTS-geführten Koalition dar, sondern auch der syrischen Massen. Sie müssen diese Lage jetzt nutzen, um den Kampf für die ursprünglichen demokratischen, sozialen, wirtschaftlichen Forderungen der syrischen Revolution erneut aufzunehmen.

Der rasche Vormarsch der HTS, der faktisch widerstandslose Rückzug der syrischen Armee, die Unterstützung des Vormarsches durch Minderheiten wie die Drus:innen sowie die Machtübernahme unterschiedlicher Kräfte, die aus der Opposition erwachsen sind, in verschiedenen Regionen verdeutlichen, dass der Sturz Assads einem tiefen Bedürfnis der Volksmassen entsprach.

Denn neben der sich seit 2011 stetig verschlechternden Lage in Syrien, wo fast 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, ist es dem Diktator nicht gelungen, die eigenen Reihen zu stabilisieren. Die internationalen Verbündeten des Regimes, welche die Diktatur seit dem Arabischen Frühling blutig an der Macht hielten – Russland, Iran und Hisbollah – waren selbst geschwächt. Seit dem Krieg in der Ukraine hat Russland kontinuierlich Truppen aus dem Land abgezogen. Der Iran und insbesondere die Hisbollah, die seit 2011 gemeinsam mit Assads Armee oppositionelle Gruppen am Boden massiv bekämpften, wurden von den jüngsten israelischen Angriffen erheblich geschwächt. Der Iran ist derzeit mit der Sicherung seiner eigenen Machtposition beschäftigt. Aber selbst mit vereinten und verstärkten Kräften wären diese nur schwer in der Lage gewesen, die verfaulte Diktatur weiter zu stützen, die keine soziale Basis in der syrischen Gesellschaft mehr aufweisen konnte.

Aber in den Jubel der Massen mischen sich zu Recht Sorgen um die weitere Zukunft. Auch wenn Assad gestürzt wurde, üben die islamistischen Kräfte, vor allem aber die HTS, jetzt dominierenden Einfluss aus. Auch wenn sich HTS von ISIS und Al-Qaida deutlich unterscheidet und keine faschistische Kraft ist, anders als die Syrische Nationale Armee (SNA) auch keine bloße Marionette der Türkei darstellt und selbst wenn sie einen „demokratischen Neuanfang“ verspricht, so sollte sich niemand über ihre reaktionären politischen Ziele Illusionen machen. Das gilt noch mehr gegenüber den mit der HTS verbündeten Milizen der SNA, die faktisch einen verlängerten Arm der Türkei bilden.

Wahrscheinlich hat die Türkei für die Operation der HTS grünes Licht gegeben, sie verfügt jedoch über keine umfassende Kontrolle über diese. Vielmehr besteht das Bestreben, die HTS als Verbündete an den Verhandlungstisch zu holen. Die SNA hingegen ist ein Sammelbecken aus nationalistischen und islamistischen Gruppen mit einem Hang zum türkischen Nationalismus, allerdings ist ihre interne Disziplin weniger ausgeprägt. Ihr primäres Interesse liegt an den von Kurd:innen kontrollierten Gebieten im Norden Syriens, während die HTS den Sturz des Regimes als oberstes Ziel definierte.

Kein Vertrauen in die HTS, kein Vertrauen in die Übergangsregierung!

Die HTS versucht zurzeit, eine neue Übergangsregierung auf die Beine zu stellen, die nicht nur die islamistischen Kräfte, sondern auch den Verwaltungs- und Staatsapparat des Assad-Regimes für einen kontrollierten Übergang einbinden soll. Zugleich soll eine solche den Gefallen der westlichen, imperialistischen Mächte, der UN und Türkei finden, um so internationale Anerkennung, Zugang zu Geldern und eine gewisse Stabilität zu erhalten. Darüber hinaus bekommt die HTS finanzielle Mittel von den Golfstaaten, vor allem von Saudi-Arabien, das so ebenfalls seinen Einfluss auf die Neuordnung Syriens geltend zu machen versucht. Die dadurch resultierende, potenzielle Abhängigkeit von imperialistischen Mächten ist vorhersehbar und erklärt auch die aktuelle Rhetorik seitens der HTS-Führung.
Ob eine solche Regierung auf Dauer zustande kommt und sich länger halten kann, bleibt abzuwarten. Denn selbst diesem Vorhaben stehen zahlreiche Hindernisse entgegen. So findet im Land weiter ein militärischer Kampf zwischen der reaktionären SNA und den kurdischen Verbänden, die die Autonome Administration Nord-Ost-Syrien (bekannt als Rojava) verteidigen, statt. Die Türkei versucht so, jede Form kurdischer Selbstverwaltung, nationaler und demokratischer Selbstbestimmung zu schwächen, wenn nicht zu zerstören. Umgekehrt treibt dies die kurdische Bewegung noch stärker in den Hände der USA, die in Rojava Militärbasen unterhält und sich als, wenn auch vollkommen unzuverlässiger Verbündeter der Kurd:innen präsentiert. Auch bleibt abzuwarten, wie die Übergangsregierung ihre Macht legitimiert, ob es zu Wahlen kommt und die islamistischen Kräfte, wenn solche nicht zu ihren Gunsten ausfallen sollten, von ihrer Macht abrücken.

Die reaktionäre Rolle der imperialistischen und Regionalmächte

Hinzu kommen die beständigen Bombardements seitens Israels, das nach dem Sturz Assads fürchtet, dass Kräfte an die Macht kommen, die, anders als Assad, zu Militärschlägen gegen den zionistischen Staat bereit sein könnten. Die Bombardements der Zionist:innen zeigen zugleich deutlich, wie idiotisch die Vorstellung ist, dass der Sturz Assads ein Plot zionistischer oder anderer fremder Mächte gewesen wäre.

Solange Regionalmächte wie die Türkei oder Israel willkürlich in Syrien militärisch eingreifen können, solange die Großmächte wie die USA und Russland dort weiter Militärbasen unterhalten und offen oder verdeckt in die syrische Politik intervenieren, kann von einem wirklich demokratischen und freien Syrien keine Rede sein. Daher treten wir für den sofortigen und bedingungslosen Abzug aller ausländischen Truppen ein und gegen jede Intervention von Seiten Israels, der Türkei, USA, EU, Russlands oder des Iran. Dass die USA und ihre NATO-Verbündeten die HTS weiter als Terrorist:innen brandmarken und ihnen Lektionen über Toleranz erteilen, während sie selbst den Völkermord Israels in Gaza unterstützen und ihre Verbündeten wie Ägypten und Saudi-Arabien ihre innenpolitischen Gegner:innen inhaftieren, ermorden und foltern, ist ein Beispiel für ihren totalen Zynismus. Die EU und die Türkei überbieten das noch, indem sie die Asylverfahren für syrische Flüchtling aussetzen und massenhafte Zwangsabschiebungen vorbereiten.

Ebenso wenig kann unter der Herrschaft einer HTS-geführten Koalitionsregierung, egal ob sie Teile des alten Staatsapparates oder gar Vertreter:innen nationaler oder religiöser Minderheiten anfänglich einbinden mag oder nicht, eine solche Entwicklung erwartet werden. Jede solche Regierung wird von einem starken islamistisch-reaktionären Einfluss teilweise oder ganz geprägt sein. Sie wird darüber hinaus versuchen, die politische und soziale Krise des Landes in Absprache mit den westlichen Großmächten und deren Finanzinstitutionen sowie im Interesse ihren eigenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klientel zu „lösen“. Das heißt, die Masse der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, ja selbst der städtischen Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums sowie Millionen Vertriebene und Geflüchtete und die nationalen und religiösen Minderheiten werden die Kosten dieser Politik tragen müssen. Auch daher wird eine solche Übergangsregierung von Beginn an einen autoritären, repressiven Charakter tragen.

Daher dürfen Revolutionär:innen einer solchen Regierung kein Vertrauen, keine Unterstützung entgegenbringen. Sie müssen vielmehr die ländlichen und städtischen Massen vor deren reaktionärem Charakter warnen, ihnen helfen, die aktuellen Spielräume für die eigene politische, gewerkschaftliche und soziale Organisierung zu nutzen, Formen der Selbstorganisationen auf betrieblicher und lokaler Ebene zu schaffen sowie, wo möglich, eigene Selbstverteidigungskräfte, um die Sicherheit in Stadt und Land zu organisieren.

Der Arabische Frühling hat gezeigt, wozu die kämpfende Masse der Arbeiter:innen und Unterdrückten fähig ist, aber auch, was die Gründe für ihre Niederlage waren. Die spontane Erhebung der Massen und ihre Ausbreitung hat schon 2011 in Syrien deutlich gezeigt, dass die Menschen Forderungen nach einem besseren Leben in Freiheit stellen und bereit waren, dafür unter Einsatz ihres Lebens zu kämpfen. Aber als die Zeit verging und das Regime immer brutaler und mörderischer gegen die eigene Bevölkerung vorging, wurden zwei wesentliche Schwächen deutlich: Es fehlte an einer Zentralisierung der Bewegung und einem Programm, das aufzeigt, wie mit welchen Forderungen gekämpft werden sollte und was nach dem Sturz Assads kommen könnte. Die Arbeiter:innenklasse trug zwar die Bewegung, aber sie verfügte über keine eigene, klassenbewusste Vorhut und damit Kraft.

Revolutionäre Partei und Programm der permanenten Revolution

Daher gilt es, aus den entschlossensten Kämpfer:innen der Arbeiter:innenklasse und den fortschrittlichsten Teilen der Intelligenz und Jugend eine eigene, revolutionäre Arbeiter:innenpartei zu schaffen.

Eine solche Partei muss einen politischen Weg weisen, um aus dem Sturz Assads einen wirklichen, dauerhaften politischen Erfolg der Massen zu schaffen, um zu verhindern, dass eine reaktionäre Allianz aus mehr oder weniger „moderaten“ Islamist:innen und ehemaligen Gefolgsleuten Assads eine neue Diktatur errichtet.

Dazu muss sie die demokratischen und sozialistischen Aufgaben für den Aufbau eines neuen Syriens miteinander verbinden.

Eine solche Partei muss sich für das Rückkehrrecht alle Vertriebenen und Geflüchteten einsetzen, für deren gesicherte Unterbringung und Mindesteinkommen. Sie muss für die konsequente Trennung von Staat und Religion, für die demokratischen Rechte und Gleichheit der Frauen und sexuell Unterdrückten eintreten. Sie muss das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen, allen voran der Kurd:innen, anerkennen – und zwar in der Form, wie diese es wünschen, ob als autonome Region in einem vereinten Syrien oder als eigener Staat. Und sie muss an den demokratischen Hoffnungen der Massen anknüpften. Daher treten wir als Alternative zu einer  Übergangsregierung und einer von ihr ausgearbeiteten Neuordnung des Landes für eine unabhängige konstituierende Versammlung eine, die über die politische und soziale Verfassung des Landes offen diskutiert und entscheidet und die auch allen Geflüchteten das Wahlrecht sichert. Die Wahlen zu einer solchen Versammlung müssen selbst von Komitees der Arbeiter:innen, Jugend, Frauen und Bäuer:innen kontrolliert werden.

Auch eine solche konstitutierende Versammlung wäre immer noch eine bürgerlich-demokratische Institution. Aber der Kampf dafür würde der Arbeiter:innenklasse und einer revolutionären Partei ein günstiges Terrain verschaffen, um erstens den antidemokratischen Charakter der HTS und ihrer Verbündeten zu entlarven und an den weit verbreiteten Hoffnungen auf ein demokratisches, neues Syrien anzuknüpfen.

Zugleich muss diese Agitation und Propaganda von Beginn an mit dem Kampf für eine sozialistische Umwälzung verbunden werden. Auf Grundlage einer kapitalistischen Profitwirtschaft können die Not, Zerstörung, Verarmung von Millionen nicht gleich und rasch überwunden werden. Ein kapitalistisches Regime – ob nun mehr oder weniger islamistisch – kann nicht für Gerechtigkeit und soziale Entwicklung sorgen. Um die unmittelbaren Bedürfnisse der Massen nach ausreichender Versorgung mit Lebensmitteln, Wohnraum, Medizin zu sichern und einen Wideraufbau des Landes in Angriff zu nehmen, braucht es einen Notplan, dessen Umsetzung von der Arbeiter:innen kontrolliert werden muss. Die Mittel dazu müssen erstens aus den Reichtümern der Stützen des Assad-Regimes kommen, deren Besitz und Geldvermögen konfisziert werden müssen. Ebenso muss das Eigentum der herrschenden Kapitalist:innen und Großgrundbesitzer:innen beschlagnahmt und für diesen Notplan verwendet werden. Und schließlich kämpfen wir dafür, dass internationale Hilfe von den imperialistischen Staaten geleistet wird – und zwar ohne jegliche Bedingungen, deren Verteilung und Verwendung von Komitees aus der Arbeiter:innenklasse kontrolliert wird.

Ein solches Programm, das wir hier nur grob skizzieren können, kann von keiner bürgerlichen Regierung umgesetzt werden. Es braucht dazu eine Arbeiter:innenregierung, die den alten Staatsapparat zerbricht und sich auf Räte der Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Volksmassen sowie auf eine bewaffnete Arbeiter:innenmiliz stützt. Dazu wird eine neue, eine sozialistische Revolution notwendig sein, die aus dem Kampf um demokratische und soziale Rechte hervorgeht, die an den Arabischen Frühling anknüpft und ihn zu Ende bringt, was damals nicht gelang und von der Konterrevolution unterdrückt wurde.

Eine solche Perspektive der permanenten Revolution kann nicht auf Syrien beschränkt bleiben. Sie ist untrennbar mit dem Eintreten für eine sozialistische Föderation im gesamten Nahen Osten, mit der Vertreibung aller imperialistischen Mächte und mit dem Kampf gegen die Unterdrückung des palästinensischen Volkes verbunden.

Als revolutionäre Internationalist:innen teilen wir die Freude der syrischen Massen über den Sturz des verhassten Diktators Assad. Wir freuen uns mit den syrischen Geflüchteten auf der gesamten Welt. Doch uns ist auch bewusst, dass die Vertreibung Assads nur eine Etappe, nur ein Teilsieg im Kampf um Befreiung darstellt. Damit aus diesem keine Niederlage wird, damit sich keine neue reaktionäre Diktatur etabliert und die Hoffnungen von Millionen nicht ein weiteres Mal blutig enttäuscht werden, braucht es den Kampf für ein neues, demokratisches und sozialistisches Syrien.

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