Arbeiter:innenmacht

Französische unterdrückte Jugendliche fordern Gerechtigkeit für Nahel!

Quelle: https://nouveaupartianticapitaliste.fr/communique-du-npa-a-nanterre-la-police-tue-toujours/

Marc Lassalle, Paris, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

27. Juni, Nanterre (Banlieue von Paris): Zwei Polizisten halten ein Auto an, einer von ihnen richtet eine Pistole aus nächster Nähe auf den Fahrer und schreit: „Mach auf oder ich schieße dir eine Kugel in den Kopf!“. Ein Schuss und Sekunden später: Der 17-jährige Nahel Merzouk ist tot. Im offiziellen Bericht heißt es, die Polizei habe in Notwehr gehandelt. Ein Video zeigt, dass dies eine Lüge ist, beweist das Gegenteil und geht viral. Zehntausende von Jugendlichen gehen daraufhin in Nanterre auf die Straße.

In den folgenden Nächten strömen sie in ganz Frankreich auf die Straßen. In Paris, Lyon, Marseille, Strasbourg fordern sie Wahrheit und Gerechtigkeit, greifen die Polizei und öffentliche Gebäude an. Auch außerhalb Frankreichs, in Brüssel, aber auch in den französischen Kolonien bis hin nach La Réunion und Französisch-Guayana haben Jugenddemonstrationen stattgefunden.

Systematische rassistische Gewalt

Der Grund für die Wut ist, dass dieser Mord und die Lügen der Polizei darüber kein Einzelfall sind: Im Jahr 2022 wurden 12 Menschen von der Polizei unter ähnlichen Umständen getötet und in den meisten Fällen gab es keine ernsthaften Ermittlungen, geschweige denn Anklagen. Ein 2017 verabschiedetes Gesetz ermächtigte die Polizei, bei „Gehorsamsverweigerung“ zu schießen, was von dieser schnell als das Recht interpretiert wurde, ungestraft zu töten. In den meisten Fällen dienen die offiziellen Berichte, Ermittlungen und Disziplinarorgane nur dazu, die Wahrheit zu vertuschen.

Die Haltung der Polizei gegenüber jungen Menschen nordafrikanischer Abstammung wie Nahel ist unverhohlen rassistisch. Im gemeinsamen Kommuniqué der Polizeiverbände heißt es: „Angesichts dieser wilden Horden reicht es nicht mehr aus, um Ruhe zu bitten, wir müssen sie erzwingen […] Es ist nicht Zeit für gewerkschaftliche Aktionen, sondern für den Kampf gegen dieses Ungeziefer.“

Obwohl Präsident Emmanuel Macron den Mord zunächst als „unentschuldbar“ bezeichnete, wandte er sich schnell gegen die „Randalier:innen“. In der Tat sind er und seine Vorgänger als Präsident, François Hollande, Nicolas Sarkozy und Jacques Chirac, maßgeblich für diese Vorfälle verantwortlich. Sie alle griffen auf eine immer stärker bewaffnete Polizei zurück, als „Lösung“ für die drängenden sozialen Probleme der Banlieues – Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse, Drogen – und wiesen die Polizei an, eine rassistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Während ein weiteres Einwanderungsgesetz in Vorbereitung ist – eine weitere Gelegenheit, Migrant:innen zu stigmatisieren –, übt der Minister für Inneres und die Überseegebiete, Gérald Darmanin, auf der Insel Mayotte, einem „französischen Überseegebiet“ vor dem südlichen Afrika, eine massive rassistische Repression aus, bei der Blechhütten zerstört werden und Tausende ohne Dach dastehen oder von Abschiebung bedroht sind.

In den Banlieues führt die Polizei regelmäßig Kontrollen und Durchsuchungen durch und geht auch gegen junge Menschen vor, insbesondere gegen Angehörige „rassischer“ Minderheiten, und Morde wie der an Nahel haben schon früher zu Massenaufständen geführt. Im Jahr 2005 starben auf tragische Weise Ziad und Bouna, zwei Jugendliche, die auf der Flucht vor der Polizei durch Stromschlag getötet wurden. Dies löste Unruhen aus, die mehrere Wochen andauerten. In jüngster Zeit fand die BLM-Bewegung ein starkes Echo in Frankreich: Die Situation dort ähnelt den Ghettos in den US-amerikanischen Städten.

Extreme Armut

Extreme Armut konzentriert sich in heruntergekommenen Wohnsiedlungen mit hoher Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlten, unsicheren Jobs. Nahel war kein Krimineller, sondern ein Fast-Food-Kurier und versuchte gleichzeitig, eine Ausbildung als Elektriker zu absolvieren. In diesen Wohnvierteln mangelt es an grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich öffentlicher Verkehrsmittel. Und obwohl „Égalité“ (Gleichheit) in leuchtenden Buchstaben auf allen öffentlichen Gebäuden steht, ist das ein schlechter Scherz.

Die republikanische Gleichheit wird in der Regel zitiert, wenn es darum geht, „positive Maßnahmen“ abzulehnen oder gar das Ausmaß der Ungleichheit zu beklagen, unter der die Kinder und Enkelkinder derjenigen leiden, die ursprünglich aus dem französischen Kolonialreich stammen. Man fragt sich, warum auch Schulen Ziel der Unruhen sind. Das liegt daran, dass auch sie oft als Teil des rassistischen Systems angesehen werden: Die jüngsten Kampagnen in den Schulen, die von der Regierung initiiert, aber von einigen Lehrer:innen unterstützt werden, setzen die Stigmatisierung und Unterdrückung religiöser Minderheiten, vor allem der Muslim:innen, aufgrund ihrer Kleidung fort und berufen sich dabei auf den „republikanischen Laizismus“.

Reaktion der rassistischen Polizei

Macron reagierte darauf mit der Mobilisierung von immer mehr Polizist:innen: mehr als 40.000 jede Nacht, darunter auch Spezialeinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern. Doch die ultrareaktionären Polizeigewerkschaften fordern noch mehr Waffen, noch mehr Sondergesetze. Sie behaupten, dass sie sich im Krieg mit „wilden Horden“ befinden würden. Sollten sie keine weiteren mörderischen Mittel erhalten, drohen sie als nächsten Schritt unverhohlen mit „Widerstand“, d. h. rassistischer Meuterei.

Sie schließen sich den Positionen der reaktionäreren Kräfte wie der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen an und fordern Ausgangssperren und die Verhängung des Ausnahmezustands. Laut RN sind die Unruhen das Ergebnis von „vierzig Jahren verrückter Einwanderungspolitik“ – und das, obwohl die meisten der Jugendlichen auf der Straße sowie ihre Eltern französische Staatsbürger:innen sind. Der erzreaktionäre, rassistische Journalist Éric Zemmour, ein Präsidentschaftskandidat für 2022, bezeichnet die Unruhen als Beginn eines Bürgerkriegs, der von einem ethnischen und rassistischen Krieg begleitet wird, und fordert eine „brutale Repression“ durch den Staat.

Linke

Auf der populistischen Linken fordert Jean-Luc Mélenchon, Anführer von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) , „eine tiefgreifende Reform der nationalen Polizei, die eine besser ausgebildete republikanische Polizei ohne Rassismus sein muss“. Dies ist natürlich eine Utopie ebenso wie sein gesamtes Projekt eines starken republikanischen Staates, der soziale Reformen durchführen soll. Nie wird der Klassencharakter des bürgerlichen, ja imperialistischen Staates deutlicher, als wenn seine Repressionskräfte Recht und Ordnung gegen alle verteidigen, die sich ihm widersetzen, seien es streikende Arbeiter:innen, die Gilets Jaunes (Gelbwestenbewegung), Umweltaktivist:innen oder die Jugend der Banlieues.

Die linke Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) hingegen verteidigte in ihrem Communiqué vom 27. Juni die Demonstrant:innen grundsätzlich und zeigte ein korrektes Verständnis der Rolle der Polizei.

„Die Polizei ist nicht dazu da, uns zu schützen. Diese Institution, die nur dazu dient, die Macht der Reichen und der Bosse zu erhalten, ist von Natur aus feindlich gegenüber unserer Klasse und wird niemals unseren Interessen dienen. Diese Polizei ist rassistisch, sie verfolgt eine gegenüber Migrant:innen feindliche Politik und wendet regelmäßig Gewalt gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund an! Diese Institution, die in Arbeiter:innenvierteln mordet und den staatlichen Rassismus anführt, ist dieselbe, die Demonstrant:innen unterdrückt, die sich gegen die Politik der Regierung stellen.

Diese Polizei existiert nur, um die Ordnung für Darmanin, Macron und die Unternehmer:innen, die sie sponsern, aufrechtzuerhalten. Es ist dringend notwendig, sie zu entwaffnen und die Wahrheit über ihre Verbrechen einzufordern, aber mehr noch, es ist höchste Zeit, diese Institution und diese kapitalistische Gesellschaft abzuschaffen, die nichts als Gewalt und Elend für die große Mehrheit der Bevölkerung bringt.“

Es ist höchste Zeit, dass die Arbeiter:innenbewegung, von der Basis bis zu den Gewerkschaftsverbänden und linken Parteien, sich mit den Jugendlichen solidarisiert und sie gegen die Massenverhaftungen und Brutalitäten verteidigt. Sie sollte die Polizeigewalt anprangern und ein sofortiges Ende der allgemeinen Repression, die Freilassung der weit über Tausend Verhafteten und die Aufhebung aller repressiven und rassistischen Gesetze fordern. Auch wenn Macron vorerst seine Rentenreform durchsetzen konnte, sind der Präsident und seine Regierung immer noch Gegenstand eines berechtigten Zorns. Wenn wir uns mit der Jugend zusammenschließen, können wir auch die schändlichen Lügen der extremen Rechten und ihre rassistische Propaganda anprangern.

  • Gerechtigkeit für Nahel! Organisierte Selbstverteidigung in den Banlieues gegen Polizeiübergriffe!
  • Schluss mit allen rassistischen und diskriminierenden Gesetzen – an den Schulen, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben!
  • Arbeiter:innen und Jugendliche sollten Hand in Hand marschieren, um die rassistische Repression zu stoppen, sich den Ausgangssperren zu widersetzen und der Straflosigkeit der Polizei ein Ende zu setzen.
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