Arbeiter:innenmacht

Wirtschaftskrise und politische Instabilität: Politisch-Ökonomische Perspektive 2023

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1214, 19. Februar 2023

Stagflation und instabile Regierungskoalition 2023

2023 wird die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten eintreten. Das ist die logische Folge aus schon länger fallenden Industrie-Profitraten und der gestiegenen Unsicherheit in Produktion und Kapitalverwertung. Diese Einschätzung teilen auch die wichtigsten bürgerlichen Wirtschaftsforschungsinstitute, das WIFO schreibt: „Nach der kräftigen Expansion im 1. Halbjahr 2022 befindet sich die österreichische Volkswirtschaft mittlerweile in einer Abschwungphase. Die Konjunkturabschwächung betrifft sämtliche Wertschöpfungsbereiche; das verarbeitende Gewerbe dürfte sogar in eine Rezession schlittern.“[1], und spricht von Stagflation.[2] Das Institut für Höhere Studien IHS prognostiziert für 2023 ein Wachstum von nur 0,3 % bei einer Inflationsrate von 8,6 %.[3] Die EU Kommission prognostiziert 2023 eine Rezession im gesamten Euro-Raum.[4]

Der Wirtschaftsabschwung 2023 hat denselben Hintergrund wie die Hochinflation 2022. Die Profitrate, also das Verhältnis von Profit zur Gesamtinvestition in Maschinen, Arbeitskraft, Miete usw., in der Industrie geht bereits seit Jahren zurück, was 2020 schon vor der Corona-Pandemie zu einem beginnenden Abschwung geführt hat. Der wurde dann aber von den Lockdownfolgen „überholt“ und aufgenommen. Am grundlegenden Problem (der Überakkumulation, siehe später im Text) hat sich aber nichts geändert, weil die in kapitalistischen Krisen übliche Vernichtung von Kapital durch Staatshilfen ersetzt wurde.

Fallende Profitraten befeuern auch die Inflation. Inflation ist im Großen die Summe aus individuellen Firmenentscheidungen, Preise zu erhöhen. Wenn ein:e individuelle:r Kapitalist:in auf zahlungsfreudige Nachfrage trifft, kann sie entscheiden mehr zu produzieren, oder mehr Geld zu verlangen. In einer unsicheren Wirtschaftssituation werden Kapitalist:innen eher die Preise erhöhen, statt zu investieren, und selbst die Firmen, die diese Entscheidung selber nicht getroffen hätten, „machen mit“ (blöd wären sie, wenn sie sich das entgehen lassen würden). Aber höhere Preise für dieselbe Warenmenge bremsen auch die Kapitalakkumulation, also die Verwandlung von Kapital in mehr Kapital durch Wieder-Investition. Eine Situation, in der die Kapitalakkumulation nicht funktioniert, läutet die Rezession ein, auch wenn einzelne Branchen noch hohe Profite machen.

Kapitalakkumulation funktioniert in drei Schritten: Aus Geld werden Waren (Produktionsmittel und Arbeitskraft), aus diesen Waren im Produktionsprozess andere Waren (die fertigen Produkte), und diese Waren werden zu mehr Geld gemacht (die Verwertung des Kapitals). Wenn einer der drei Übergänge ernsthaft unterbrochen wird, stockt die Akkumulation des Kapitals, eine Krise bricht aus. Die Kombination aus Corona, Klimakrise und Krieg hat an allen drei Übergängen Sand ins Getriebe geworfen.

Der Einfluss durch die globale Pandemie, die Auswirkungen der Klimakrise und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist besonders und zum Beispiel anders als die Krisendynamik der Finanzkrise ab 2008. Lockdowns in Produktionsstätten, Überschwemmungen und Dürren stören die Produktion, also die Verwandlung von Vorprodukten in Waren. Geschlossene Häfen und abgebrochene Wirtschaftsbeziehungen unterbrechen globale Produktionsketten, die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt wurden, um den tendenziellen Fall der Profitraten zu bremsen. Generell führt die neue imperialistische Blockbildung zu einer Art De-Globalisierung, und unterläuft damit das Geschäftsmodell vieler imperialistischer Staaten. Das gilt auch für Österreich, dessen Bank- und Handelskapital eng mit den Balkanstaaten und Russland verwoben ist.

Eine Rezession wird zu Entlassungswellen und einem Einbruch der Arbeiter:inneneinkommen führen. Wenn wir aus der Erfahrung der Coronakrise schließen, werden die europäischen Regierungen rasch und schnell mit Subventionen eingreifen, die vor allem den Kapitalist:innen zugutekommen. Um die Verteilung der Krisenkosten wird wohl nicht mehr dieses Jahr gekämpft werden, die Regierung wird aber in der Zukunft auf Austerität, also Sparpolitik, und Deregulierung des Arbeitsrechts setzen. Insofern wird 2023 wohl von der Rezession und Abwehrkämpfen am Arbeitsplatz, aber noch nicht von Austerität und Widerstand dagegen geprägt sein. Dabei ist auch zu beachten, dass die Kosten für die Corona-Hilfen auch weiterhin stark auf den Regierungen lasten und noch nicht wieder zurückgeholt werden konnten. Das ist sicher auch einer der Gründe für die Unsicherheit im Handeln der jetzigen Regierung.

Die türkis-grüne Koalition ist instabil und angreifbar. Sie hat in den Umfragen massiv an Zustimmung verloren, die Minister:innen werden nicht anerkannt und die beiden Parteien streiten heftig, miteinander und intern. Das macht sie nicht weniger klassenbewusst (für die herrschende Klasse), sie verliert die Perspektive als „ideelle Gesamtkapitalistin“ aus dem Blick, weil der eigene Machtverlust bedrohlicher ist. Sie kann derzeit schon durch vergleichsweise wenig Druck auf der Straße und in den Betrieben zum Einlenken gezwungen werden.

Gleichzeitig setzt die ÖVP in solchen Fällen auf offenen Rassismus (Sachslehner: „Jeder Asylantrag ist einer zu viel“) und staatliche Schikanen vor allem gegen Asylwerber:innen. Auch die SPÖ hat nach der Wahl im Burgenland einen Kurs des offen hetzenden Rassismus eingeschlagen (Rendi-Wagner: „Wir haben ein Migrationsproblem“).

Die sozialdemokratische Opposition ist seit dem Abtreten von Sebastian Kurz schwach und fast handlungsunfähig. Ihre Strategie, die Regierung durch Untersuchungsausschüsse unter Druck zu setzen hat nicht funktioniert. Sicher auch deshalb, weil die ÖVP die Geschäftsordnung und Medienlandschaft geschickt navigiert, aber auch weil der Ausschuss-Fokus der SPÖ von Anfang an eine Vermeidungsstrategie war, um nicht auf die eigene Mitgliedschaft, die Betriebe, oder außerparlamentarische Oppositionsarbeit zurückzugreifen. Unter dem Eindruck von Krieg und Hochinflation arbeitet die Bundespartei als „loyale Opposition“, die Verbesserungsvorschläge macht und die langsame Umsetzung kritisiert. Die SPÖ präsentiert kein Alternativprogramm zur Regierungslinie und macht folgerichtig auch keinen Druck auf Neuwahlen oder wirksamen politischen Widerstand. Die Neuwahlen können natürlich trotzdem kommen, aber aus der Instabilität der Regierungskoalition wird sie den Sozialdemokrat:innen eher „passieren“.

In dieser Situation ist eine Annäherung der Nehammer-ÖVP an Kickl und die FPÖ möglich. Die Parteien stimmen in weiten Teilen ihrer Krisenpolitik überein, die aus rassistischer Spaltung und Politik im Sinne der Reichsten besteht. Die soziale Rhetorik der FPÖ ist auch nicht teurer als die Forderungen des Gewerkschaftsflügel in der SPÖ (als mögliche Alternative). Es ist nicht gesagt, dass die türkis-grüne Koalition platzen wird, sie ist aber viel Druck ausgesetzt. Eine Neuauflage des schwarz-blauen Rechtsblocks und seiner radikalen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist also durchaus im Bereich des Möglichen.

Es gibt keine tragfähige und politisch denkbare Koalition ohne ÖVP, es ist aber eine neue große Koalition mit einer deutlich nach rechts rückenden SPÖ denkbar. Das beschleunigt auch die Tendenzen innerhalb der ÖVP, die grüne Koalitionspartnerin anzugreifen.

Zusammengefasst ist die politische Ökonomie seit 2020 von den gleichzeitigen Auswirkungen der Gesundheitskrise, Klimakrise und der imperialistischen Zuspitzung geprägt. Daraus entstehen recht komplizierte Wechselwirkungen zwischen Produktion und Verwertung, die die kommende Rezession vertiefen werden.

Ausgangslage: Lockdowns und kapitalistische Reproduktion

Die grundlegende ökonomische Dynamik im Kapitalismus ist die Akkumulation von Kapital, die Marxist:innen in den „Reproduktionsschemata“ darstellen. Kapitalist:innen tauschen Kapital in Geldform (oft zumindest teilweise als Kredit) für Waren, besonders Produktionsmittel, Vorprodukte und Arbeitskraft. Wenn die im Produktionsprozess zusammenwirken, entstehen neue (andere) Waren. Werden diese verkauft, hält der/die Kapitalist:in am Ende wieder Kapital in Geldform in der Hand, im Idealfall mehr als am Anfang (die Verwertung des Kapitals). In einer nächsten Runde wird dieses Geld wieder in mehr Kapital investiert, dadurch vermehrt sich das gesellschaftliche Kapital ständig („Kapitalakkumulation“). Abgekürzt wird das als Geld – Ware – andere Waren – mehr Geld oder G – W – G‘ dargestellt.

Die Kapitalakkumulation ist der grundlegende Motor der kapitalistischen Entwicklung. Sie hat die Warenproduktion (W – W‘), die Kapitalverwertung (W‘ – G‘) und die Wieder-Investition (G‘ – W) als notwendige Bestandteile.

Im Produktionsprozess sinkt aber die Profitrate auf mittlere Sicht, weil bei beschleunigter Akkumulation immer mehr Kapital auf dieselbe Arbeitskraft kommt und damit weniger Mehrwert pro eingesetztem Kapitalstock entsteht. Eine Gegenstrategie (von mehreren) zur fallenden Profitrate ist die Beschleunigung des Kapitalumschlags (der Zeit zwischen G und G‘) durch reibungslose Logistik, globale Produktionsketten, aber auch kurzfristig verfügbaren Krediten.

Die Lockdowns ab 2020 haben diese beschleunigte Reproduktion immer wieder unterbrochen. Am offensichtlichsten war das anhand von geschlossenen Fabriken, aber auch großen chinesischen Häfen und Zusammenbrüchen in Containerschiffahrt oder LKW-Transporten. Die Zerstörung mehrerer russisch-europäischer Gaspipelines und die Einschränkung der Lieferungen durch die Pipelines in der Ukraine, aber auch die Sanktionen und Lieferembargos im Rahmen des Kriegs schlagen in dieselbe Kerbe.

Niedriginflation nach 2008, Hochinflation ab 2022

Nach der globalen Wirtschaftskrise ab 2008 folgte eine lange Zeit der Niedriginflation in den imperialistischen Zentren. Die von den Zentralbanken angestrebte Durchschnittsinflation von 2 % wurde nicht erreicht, das mit „unorthodoxer Geldpolitik“ günstig verborgte Geld kam nicht über die Banken hinaus. Statt in der Konsum- oder Investitionsnachfrage landeten die Zentralbank-Milliarden an den Börsen (wo es tatsächlich zu einer Preisexplosion von Finanzprodukten, also asset inflation kam). Die Niedriginflation war eine Krisenfolge und führte zu tatsächlichen Problemen in der Kapitalakkumulation. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass in den „Minwarenkörben“ der Arbeiter:innen sehr wohl Inflationsraten jenseits der 2 % erreicht wurden, einige neokoloniale Länder sogar in die Hyperinflation gingen.

Auf den Einbruch 2020 und den Kriegsbeginn 2022 folgte dafür eine Hochinflationsperiode. Die Preise hatten bereits ab 2021 deutlich an Fahrt aufgenommen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und dem begleitenden Wirtschaftskrieg kam ein Preisschock auf den Energiemärkten dazu. Die liberalisierten Strom- und Gasbörsen auf dem Weltmarkt breiteten diesen Schock in alle Wirtschaftsbereiche aus.

Sowohl die Niedrig- als auch die Hochinflation zeigen systematische Probleme im Kapitalismus auf. Sie sind aber nicht für die Krise verantwortlich, sondern umgekehrt die Folge von erst niedrigen Profitraten und anschließend hoher Unsicherheit bei den erwarteten Profitraten. Die Antwort der Regierungen, besonders in den USA, ist eine Rezession einzuleiten, um die Konsumnachfrage zu schwächen. Die Inflation ist aber nicht durch „heißgelaufene“ Nachfrage ausgelöst worden und wird nicht im erhofften Ausmaß fallen. Trotzdem ist die Leitzinserhöhung ein wirkungsvoller Angriff, um die Krisenkosten auf unsere Schultern zu verteilen.

Neue Blockbildung und Positionierung der für den österreichischen Imperialismus zentralen Balkanstaaten

Nicht erst seit dem Krieg zeigt der weltweite Kapitalismus eine Tendenz zur Deglobalisierung. Das liegt einerseits an der neuen Blockbildung, grob zwischen den Polen USA/EU und China/Russland sowie den entstehenden Wirtschaftskriegen. Der zeitweise, wiederholte Zusammenbruch der internationalen Logistik, erst durch Ölpreisschwankungen Anfang 2020, dann durch Lockdowns, beschleunigte diese Tendenz. Die neue US-Administration führt hier im Großen und Ganzen die Trump-Politik einer weiteren Konfrontation mit China fort. Änderungen sind hier vor allem in Bezug auf 1) einen gemeinsamen Ansatz mit seinen traditionellen Verbündeten (EU, GB, Japan, Australien) aber auch neuen Verbündeten (Indien), 2) Zuspitzung auf zielgerichtetere Maßnahmen (Chips-Embargo statt Einfuhrzöllen). Im militärischen Bereich gibt es hingegen die größten Kontinuitäten (Quad, mögliche Verteidigung Taiwans gegen Angriff, etc.).

Die Blockbildung zieht sich aber auch durch Ost- und Zentraleuropa, für den österreichischen Imperialismus zentrale Regionen. Das österreichische Kapital konnte sich überhaupt erst durch den Zusammenbruch der stalinistischen Staaten und gezielte Investitionen des Bank- und Handelskapitals von Deutschland unabhängig machen. Bis heute ist Österreich am Balkan, in Zentraleuropa und in Russland über-exponiert. Das hat bereits 2011 zu massiven Verlusten österreichischer Banken geführt, als ein Rückzahlungseinbruch am Balkan mit der Rubelkrise zusammenfiel. Die teilweisen Versuche Russlands, serbische und ungarische Nationalist:innen auf ihre Seite zu ziehen, werden die Lage für das österreichische Kapital weiter anspannen und Angriffe auf die Arbeiter:innen zur Folge haben.

Bestandaufnahme: österreichische Wirtschaft 2022

2021 und 2022 hat das österreichische Kapital hohe Wachstumsraten erzielt. Das Bruttoinlandsprodukt ist um jeweils fast 5 % gestiegen. Der Arbeitsmarkt hat sich so weit erholt, dass es 2022 sogar zu einer Arbeitskräfteknappheit kam. Diese erstreckt sich von angelernten Niedriglohnberufen bis zu Facharbeiter*innen, ist also ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Das Wachstum war aber von Aufholeffekten getragen. 2021 produzierte die Industrie mehr als 2020, weil damals Fabriken und Transportwege teilweise geschlossen waren. 2022 waren es Tourismus und Hotellerie, die im Vergleich zu den Lockdownmonaten höhere Einnahmen hatten. Der Einbruch 2020 ist damit aber nicht ausgeglichen, wobei die staatlichen Hilfszahlungen hier viele Unternehmen vor der Insolvenz retten konnten. Das bedeutet aber auch, dass die Ursachen der Rezession, nämlich Überakkumulation und niedrige Profitraten, weiter auf den Ausbruch warten. Die Bruttoinvestitionen und der Privatkonsum sind 2022 bereits zurückgegangen.

Die österreichischen Banken sind gleichzeitig überexponiert, also hohem Risiko ausgesetzt, vor allem durch die Investitionen in Ost- und Zentraleuropa sowie Russland. Ein plötzlicher Einkommensverlust bei Facharbeiter:innen könnte außerdem die Kreditrückzahlung bei Hypotheken in Wanken bringen. Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.

Eine globale Finanzkrise ist aber durchaus im Rahmen des Möglichen. 2022 gab es Liquiditätsprobleme und sogar Insolvenzen bei Energieunternehmen, die auf liberalisierten Strom- und Gasmärkten ähnlich wie Finanzinstitute agieren. Gleichzeitig kam es an den großen Aktienbörsen zu einem anhaltenden Kursverfall im ersten Halbjahr 2022, und die Kryptowährungs-Börsen erlebten Zusammenbrüche. Sowohl bei der Deutsche Bank, Credit Suisse als auch bei Blackrock wurden Finanzierungslücken öffentlich. So kann bei fallenden Finanzrenditen die Blase platzen und zu einem „Lehman Moment“ wie 2008 führen, also dem ersten großen Bank-Dominostein, der umfällt. Egal ob die Krise vom Finanzsektor ausgeht oder der Finanzsektor als Multiplikator darunter liegender Krisendynamiken funktioniert, wird mit der Rezession ab 2023 auch eine Finanzkrise einhergehen. Die Banken werden keinesfalls stabilisierend wirken können, sondern im Gegenteil die Geschwindigkeit der Krisenentwicklung weiter anheizen.

Türkis-Grüne Umverteilungsmaschine

Die türkis-grüne Regierung ist in allererster Linie instabil. Die beiden Parteien halten sich aneinander fest, für die ÖVP geht es um den Machterhalt nach dem Zusammenbruch von Schwarz-Blau, für die Grünen um die erstmalige Regierungsbeteiligung. Die politische Schnittmenge der Koalition ist gering.

Im Gegensatz zur rot-schwarzen großen Koalition sind aber bei türkis-grün die Arbeiter:inneninteressen nicht einmal mehr indirekt vertreten. Der Einfluss der Gewerkschaften im SPÖ-Parlamentsklub hat die Klasse zwar politisch gelähmt, aber sie waren nie bereit ihre grundlegenden Interessen aufzugeben. Worauf sich ÖVP und Grüne einigen können, ist eine breite Bereitstellung von Staatsmitteln an das Kapital, mit Detailfragen zu Klein- oder Großkonzernen und wie wichtig der Öko-Fokus bei den Förderungen sein soll. Außerdem wissen die Grünen, dass ihr nächstes Wahlergebnis davon abhängt, wie glaubwürdig sie ihre soziale Rhetorik formulieren.

Türkis-grün wird medial und von der Opposition vor allem als zurückhaltend und inkompetent dargestellt. Tatsächlich hat die Regierung aber als Umverteilungsmaschine von unten nach oben effektiv funktioniert. Das zeigt sich am Wachstum der Profite durch COFAG-Hilfen bei gleichzeitigen Reallohnverlusten, der Preistreiberei staatlicher Energiekonzerne (zugunsten der privaten Minderheits-Shareholder) und auch an den Vorschlägen für Verschärfungen im Arbeitslosenversicherungs- und Pensionsgesetz (auf die sich die Koalitionspartnerinnen aber nicht einigen konnten).

Für direkte Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist die Koalition derzeit aber zu schwach. Auch wenn die Bundes-SPÖ desorganisiert ist, haben die Gewerkschaften mit Warnstreiks und der Mobilisierung für Preissenkungen im Herbst klar gemacht, dass sie noch Kampfmittel haben. Daraus erklärt sich auch die Zurückhaltung bei Erzwingungsstreiks bei den Kollektivvertragsverhandlungen, eine Mobilisierungsniederlage hätte diese Drohung abgeschwächt.

Auch eine Neuauflage der großen Koalition ist denkbar, für die ÖVP und die hinter ihr stehenden Kapitalfraktionen aber weniger attraktiv als Schwarz-Blau und Schwarz-Grün. Diese Koalition würde den Rechtsruck der SPÖ weiter beschleunigen, die parteiinternen Konflikte beruhigen aber hinter der Fassade weiter zuspitzen. Eine SPÖ, die die Krisenausterität mitträgt, würde die Gewerkschaft nachhaltig schwächen, aber oppositionelle Kräfte in ihr stärken.

Die Instabilität der Koalition geht aber mit einem entschlossenen Kurs einher. Beide Parteien wollen dringend an der Macht bleiben, für die Grünen steht perspektivisch mal wieder die Existenz im Parlament, für die ÖVP das Umkrempeln der Partei nach Mitterlehner auf dem Spiel. Vor allem wollen sie ihre Kern-Kapitalfraktionen an sich binden, die sich wegen dem Tumult der letzten Jahre auch auf andere Kräfte (vor allem NEOS und FPÖ) orientieren könnten.

Wenn Nehammer und Kogler gemeinsam an der Macht bleiben, werden sie in die Offensive gehen müssen. Zerbrechen sie an dieser Herausforderung, droht eine neue Rechtsblock-Regierung.

Schwache Opposition

Die parlamentarische linke Opposition wird in Österreich vor allem von der Sozialdemokratie gestellt. Sie hatte bis in die 1990er-Jahre eine entscheidende Rolle im Aufbau und der Verwaltung des österreichischen Kapitals. Wegen der zentralen Rolle der verstaatlichten Industrie übernahm die Verwaltungsbürokratie die unterstützende Rolle, die andere Kapitalfraktionen für normale bürgerliche Parteien einnehmen. Damit hatte die SPÖ eine soziale Basis sowohl in der organisierten Arbeiter:innenklasse als auch im Management der Kernindustrien. Die ideologische Entsprechung war die Sozialpartner*innenschaft mit jährlichen Lohnverhandlungen und hoher kollektivvertraglicher Abdeckung als Abstimmungsmechanismus.

Die ökonomische Grundlage der Sozialpartner:innenschaft war die historische Schwäche des österreichischen Kapitals nach dem zweiten Weltkrieg. Sie war kein Zugeständnis an eine besonders kämpferischen Arbeiter:innenklasse, sondern ein Einbinden in die nationale Akkumulationsstrategie. Nachdem die ganz gut funktionierte und das österreichische Kapital ab 1990 sogar eigenständig imperialistische Bestrebungen durchführen konnte fiel die ökonomische Basis der Sozialpartner:innenschaft weg. Der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in Ost- und Zentraleuropa schuf einen Nährboden für einen eigenständigen österreichischen Zusammenbruch, gleichzeitig fiel die „Systemalternative“ weg, die viele Zugeständnisse motiviert hatte. Firmen haben, bis auf Ausnahme- und Krisensituationen, kein Interesse mehr an Sozialpartner:innenschaft, die entsprechenden Rechtsformen und die Ideologie existieren aber weiterhin.

Die Sozialdemokratie orientiert sich also weitgehend an einem Gesellschaftsentwurf, den es nicht mehr gibt. Ihre Strategie in der Regierung und in der Opposition ist die Befriedung von Klassenkämpfen bei gleichzeitiger Verlangsamung von Verschlechterungen für die eigene soziale Basis. Ihre programmatische Stoßrichtung ist aber leer und die Partei kommt auch deshalb nicht aus ihrer Krise heraus. Angesichts einer rechten Wähler:innenmehrheit bedeutet das einen massiven Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten.

Die parlamentarische Opposition hat das dadurch entstehende Vakuum nicht füllen können. Die KPÖ ist, bis auf die Steiermark, zu schwach, um ihr eigenes linksreformistisches Programm verwirklichen zu können. Noch weniger ist sie in der Lage, eigene Kämpfe gegen die Regierung zu führen oder effektiv auf die parlamentarische Ebene zu tragen.

Die Grünen als bürgerliche Partei konnten nach dem Aufflammen der Klimaproteste im ersten Halbjahr 2019 bei den Wahlen im Herbst 2019 deutlich profitieren – vor allem auf Kosten der SPÖ. Doch mit dem Regierungseintritt Anfang 2020 verlor einerseits die breite Klimabewegung an Fahrt (vielmehr ging der Fokus nach einer Pandemie-Pause auf radikalere, aber kleinere Aktionsformen über), andererseits enttäuschten die Grünen in der Regierung mit ihrer zaghaften Klimapolitik.

Aber auch die außerparlamentarische Opposition ist gleichzeitig schwächer geworden, statt den Bedeutungsverlust des Reformismus für sich zu nutzen. Wir haben es nicht geschafft, einen Fuß in die Tür zu den Gemeindebauten und Arbeiter*innenbezirken zu bekommen, als sie langsam hinter der SPÖ zugegangen ist. Zu keinem Zeitpunkt wurde außerparlamentarischen Gruppen das Vertrauen entgegengebracht, dass die SPÖ zu ihren Hochzeiten genoss, nämlich die Anliegen der Arbeiter:innen und Erwerbslosen effektiv zu vertreten.

Aber auch die klassische Rolle der außerparlamentarischen Linken, gegen die richtigen Dinge zu protestieren und scharfe Kritik zu äußern, hat sie in der Bevölkerung verloren. Gegen den Aufstieg der FPÖ, gegen Rassismus und auch gegen die eskalierende Klimakrise hatten wir noch Antworten mit Massenwirkung gefunden, auch wenn sie nicht mehrheitsfähig waren. Wir haben es aber nicht geschafft, auf Pandemiepolitik und Krieg Antworten zu finden, die breiter in der Arbeiter:innenklasse oder den fortschrittlichsten Schichten verankert wären. Die Mobilisierungsfähigkeit der radikalen Linken und der linken „Zivilgesellschaft“ ist 2022 massiv gesunken. Das ist ein ordentliches Problem, wenn wir uns auf ein Jahr der Abwehrkämpfe vorbereiten.

Perspektiven

Die Weltwirtschaft wird 2023 in eine Rezession übergehen, bei weiterhin hoher Inflation in den imperialistischen Zentren. Die ist durch die Unsicherheit in der Kapitalakkumulation getrieben, die wiederum auf den Krieg, die Pandemie, und Auswirkungen der Klimakrise zurückgeht. Das wird Österreich besonders betreffen, weil die Abhängigkeit von Energie aus Russland, und der wirtschaftlichen Entwicklung Osteuropas besonders groß ist. Das österreichische Bankensystem ist in Gebieten überexponiert, die von der neuen Blockbildung betroffen sind, wirkt aber stabil genug um nicht der Auslöser einer tiefen Krisendynamik zu sein.

Die Regierungskoalition ist instabil, sie muss sich gleichzeitig um das Vertrauen von entscheidenden Kapitalfraktionen und ein Mindestmaß an Zustimmung aus der Bevölkerung bemühen. In dieser Konstellation rechnen wir nicht mit breiten Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, aber großzügigen Mitteln für das Kapital und Umverteilung von Unten nach Oben. Einzelne scharfe Verschlechterungen, beispielsweise bei Erwerbslosen und rassistische Angriffe sind aber zu erwarten. Außerdem wird 2023 bestimmt ein Sparpaket vorbereitet und eventuell schon stückchenweise umgesetzt werden.

Die rechte Opposition um FPÖ und NEOS wird weiter stärker werden, sie bündelt auch effektiv die Unzufriedenheit in verschiedenen Teilen der Bevölkerung.  Ein Koalitionsbruch mit kurzem „freiem Spiel der Kräfte“ und anschließender Rechtsblock-Regierung ist eine reale Gefahr.

In dieser Situation werden sich auch die Konflikte innerhalb der SPÖ zuspitzen, die im Niedergang der Sozialpartner:innenschaft keine strategische Orientierung mehr hat. Durch den rassistischen Rechtsruck der Parteiführung sind Konflikte mit den Jugendorganisationen wahrscheinlich. Aber auch in den Gewerkschaften kann ein Streit über die Ausrichtung der eigenen Arbeit und die fehlende Kampfbereitschaft der Führung entstehen.

Kommunist:innen und Revolutionär:innen starten also mit großen Aufgaben und wenigen Ressourcen ins Jahr 2023. Um überhaupt außerparlamentarisch wirkmächtig zu werden, müssen sie eine stringente Analyse der Periode weiterentwickeln und klare Antworten auf die Fragen von Inflation und Krieg geben. Wir müssen außerdem klären und erklären, welches Feindbild in dieser Situation angegriffen werden kann – die Umverteilungsregierung, die Überprofit-Konzerne und die rechten Hetzer:innen.

In den kommenden Auseinandersetzungen, wie schon bei den rotesten um die Kollektivvertragsverhandlungen 2022, können wir den Kontakt zu organisierten Arbeiter:innen aufbauen und Zusammenarbeit mit gewerkschaftlichen Strukturen suchen. Auch die sich radikalisierende Klimabewegung und antirassistische Mobilisierungen sind Felder, wo gemeinsamer Protest und kritische Diskussionen notwendig sind.

Die immer tieferen, immer komplexeren Krisen des Kapitalismus zeigen auf, dass es eine Alternative zum bestehenden System braucht. Das bedeutet nicht nur, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen, sondern auch Organisationsformen und eine Partei aufzubauen, die die Unterdrückten vereint und mit der sie erfolgreich siegen können. In Österreich bedeutet das, den Kräften links der reformistischen Organisationen ein revolutionäres Programm vorzulegen, und sie in der gemeinsamen Aktion von einer revolutionären Methode zu überzeugen.

Endnoten

[1] WIFO Presseaussendung am 7. Oktober 2022. „Stagflation in Österreich. Prognose für 2022 und 2023.“

[2] Stagflation ist ein Begriff aus der Volkswirtschaftslehre. Bürgerliche Ökonom*innen gehen davon aus, dass Inflationsraten gedämpft werden wenn die Wirtschaft schrumpft, weil die sinkende Nachfrage auch die Preise dämpft. In den Ölpreiskrisen der 1970er-Jahre hat dieses „Patentrezept“ (das auf Kosten von Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau geht) versagt, weil die Inflation weder von Konsum- und auch nicht von Investitionsnachfrage getrieben wurde. Von damals stammt auch das Wort Stagflation.

[3] IHS Presseinfo am 6. Oktober 2022. „IHS-Direktor Klaus Neusser zur Herbstprognose der österreichischen Wirtschaft 2022–2023: „Wir kommen mit ein paar Schrammen gut durch den Winter.“

[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/eu-kommission-herbstprognose-bip-inflation-101.html

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