Arbeiter:innenmacht

Fahrplanwechsel: 0,1 % Verkehrswende und ein halbes Stuttgart 21

Leo Drais, Infomail 1206, 11. Dezember 2022

Alle Jahre wieder treten zum zweiten Dezembersonntag neue Netzfahrpläne für Busse und Bahnen in Kraft. Wohin geht die Reise? Etwa in Richtung Verkehrswende? Ein Eisenbahner skizziert.

Mehr und teuerere Züge

Natürlich ist hier nicht der Raum, auf jede Regionalbahn, jeden Bus einzugehen (das merkt mensch ja auch selbst bei der täglichen Fahrt). Vielmehr geht es darum, einen allgemeineren Blick zu werfen, konkret: Gibt es mehr oder weniger ÖPNV (Öffentlichen Personennahverkehr) und SPFV (Schienenpersonenfernverkehr)? Was sollen sie kosten und wo liegen deren Probleme?

Im Fernverkehr werden einzelne Verbindungen verlängert, die Vergrößerung der Flotte wird fortgesetzt. Zwischen Stuttgart und Ulm wird eine Schnellfahrstrecke in Betrieb genommen, dazu unten mehr. Die Preise werden im Schnitt um 5 Prozent erhöht – bei 10 % Inflation kann das eigentlich niemanden überraschen.

Im Nahverkehr, der Sache von Verkehrsverbünden, sprich Ländern und Kommunen einerseits sowie Verkehrsunternehmen andererseits, ändert sich lokal unterschiedlich viel. In Berlin und Brandenburg tauschen beispielsweise ODEG und DB Regio verschiedene Linien. Erfahrungsgemäß können solche Umstellungen glattgehen oder wochenlang knirschen.

Egal, wie gut es laufen wird: Die Vergabe von Strecken an unterschiedliche Eisenbahnverkehrsunternehmen im Wettbewerb ist und bleibt eine Sinnlosigkeit, die einem Gesamtsystem Bahn schadet, und damit auch Reisenden. Es spricht kaum was gegen die Anschaffung neuer Züge (außer, dass es die bisher eingesetzten Fahrzeuge auch oft noch sehr gut tun), mit denen das Ganze oft garniert wird. Wohl aber sprechen viele gesamtgesellschaftliche Argumente gegen Wettbewerb im ÖPNV. Entgegen neoliberaler Fantasien bringt er keinen günstigeren Verkehr. Als Beispiel sei hier Abellio in Baden-Württemberg erwähnt, das mit einem unterfinanzierten Angebot Ausschreibungen gewonnen hatte – und dann insolvent ging. Der Staat sprang ein und half mit Steuergeldern. Ein anderes Beispiel aus den letzten Jahren ist das der S-Bahn Hannover: Weil DB-Regio hier die lukrative Ausschreibung verlor, wurde durch alle Instanzen geklagt – auch wieder auf Kosten von Steuergeldern. Zu guter Letzt bedeuten solche Umstellungen immer auch eine Belastung für Beschäftigte – bis hin zum Jobverlust oder Arbeitsortswechsel.

Überhaupt ist der Nahverkehr in Deutschland ein Zahlungsgerangel sondergleichen.

Die eine Hälfte sollen Fahrscheine einbringen, die andere Subventionen, also auch wieder: Steuergelder! Aus wessen Tasche die vor allem kommen? Immerhin sind Mehrwert- und Lohn-/Einkommensteuer, also Massensteuern, die größten Einnahmequellen. Bei all dem ist der Nahverkehr chronisch unterfinanziert, was auch alle Kolleg:innen in Bus, Tram und Zug in der eigenen Tasche spüren genauso wie die Bewohner:innen von Kleinkleckersdorf, die mit jedem neuen Verkehrsvertrag bangen, ob Zug oder Bus demnächst noch bei ihnen halten.

Jetzt soll das 49-Euro-Ticket als schlechter Ersatz fürs 9-Euro-Ticket kommen – nicht zum Fahrplanwechsel, sondern mit Glück vielleicht im Mai, dafür aber dauerhaft.

Auch hier gab‘s das übliche Finanzierungsgerangel zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Sollten letztere auf Finanzierungslücken sitzen bleiben, wird das Ticket zum Gegenteil aller Absichtsbekundungen führen: Dann werden Linien und Leistungen abbestellt, die Kleinkleckersdörfer:innen fahren Auto oder laufen.

Trotzdem: Zunächst mal ist das 49-Euro-Ticket im Vergleich zum tariflichen Flickenteppich, der seit dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets wieder herrscht, sicher ein Fortschritt, auch wenn es für Geringverdiener:innen viel zu teuer und von einer preislichen Verkehrswende weit weg ist. Einen wirklichen Fortschritt hätte eine Fortführung des 9-Euro-Tickets darstellen können oder noch besser: ein kostenloser Nahverkehr (das hätte übrigens auch viel gespart: Fahrkartenautomaten z. B.).

Wendlingen – Ulm: im Betonrausch

Die größte Änderung im deutschen Schienennetz stellt die Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke zwischen Wendlingen und Ulm dar. Für Reisende verkürzt sich damit die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm um 15 Minuten – vorausgesetzt sie sitzen in einem Zug mit passender Zugsicherung. Weil auf der Strecke das Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System) verbaut ist, kann der TGV Paris – München hier z. B. noch nicht fahren – seine Software passt nicht zu der der Strecke.

Lichthauptsignale hat man hier gespart genauso wie auf den Strecken Leipzig/Halle – Erfurt – Nürnberg vor einigen Jahren bereits. Solange ETCS funktioniert – kein Problem. Wenn es ausfällt, gibt es kein technisches Alternativsystem, es bleiben nur betriebliche Rückfallebenen.

Die Rennstrecke durch die Schwäbische Alb („durch“ im wahrsten Sinne) ist beispielhaft für die Art und Weise, wie Schienennetzausbau in Deutschland läuft. Während er ermöglicht, dass Fernzüge die enge, steile und langsame Geislinger Steige umgehen können, trifft das für Güterzüge nicht zu – die neue Strecke ist noch steiler als die alte. Das hat Tradition und ist zugegeben kein rein deutsches Phänomen. Sowohl die ICE-Neubaustrecken Köln – Frankfurt, Nürnberg – Ingolstadt wie auch Ulm – Wendlingen weisen eine zu große Längsneigung für Güterzüge auf. Zwischen Nürnberg und Leipzig wird es je nach Zuglast ziemlich früh auch eng.

Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, wie gesamtgesellschaftlich und ökologisch sinnvoll der milliardenschwere Schnellfahrstreckenbau überhaupt ist, vor allem, da er der einzige Neubau ist, den die Deutsche Bahn kennt.

Um 74 km wächst das deutsche Schienennetz in diesem Jahr – darunter die 60 km Wendlingen – Ulm. Letztes Jahr wuchs das Schienennetz gerade mal um 4,2 km, zwei kleine Nadelöhre in Frankfurt und Berlin wurden beseitigt. Im selben Jahr wuchs das Straßennetz um 10.000 km (Neu- und Ausbau).

Das Schienennetz ist seit der Bahnreform deutlich geschrumpft. Dem schleppenden Halbausbau des Kernnetzes steht der rapide Rückzug aus der Fläche gegenüber. Während die Güterverkehrsleistung seit 1994 auf der Schiene um 83 Prozent zunahm, schrumpfte das Netz um 15 %. Gleichzeitig wuchsen die Tunnelkilometer – allein seit 2015 um 70 km auf über 500 km im deutschen Netz.

Mitunter sind Tunnel natürlich unvermeidbar, besonders im Bahnbetrieb und hier besonders im Schnellverkehr. Zur Betrachtung gehören aber auch noch zwei andere Größen: Tunnelbau ist beton- und damit CO2-intensiv; und – mit jedem weiteren Kilometer steigt das statistische Risiko von Unfällen und Bränden in deren Röhren, dem Alptraum schlechthin. Bei vergangenen Unfällen war bereits viel Glück im Unglück dabei. Auch die neue Strecke ist tunnelreich.

Wem diese Art des Streckenbaus natürlich besonders viel bringt, ist der Bauindustrie. Im Ländle Baden-Württemberg sitzt mit Herrenknecht einer der Weltmarktführer im Geschäft mit Tunnelvortriebsmaschinen. Er war und ist einer der größten Fans von und Verdiener am tunnelintensiven Stuttgart 21. Das ist zwar offiziell ein eigenständiges Projekt, aber nur damit macht die Führung der neuen Strecke über Wendlingen überhaupt erst richtig Sinn. Eine Beseitigung der Geislinger Steige wäre mit deutlich weniger Tunnelstrecke und sogar für schwere Güterzüge einfacher möglich gewesen.

Blick in die Röhre: S21

Überhaupt, S21. 2025 soll es tatsächlich in Betrieb gehen. Der Bau mag ingenieurtechnisch noch so spektakulär (und pannenhaft) sein, bahnbetrieblich bleibt er problematisch bis schwachsinnig (Kapazitätsverringerung, Bahnsteigeigung, Gleisneigung in den Tunneln, ETCS ohne Lichthauptsignale als Rückfallebene, schwieriger Brandschutz, noch mehr schwer zu evakuierende Tunnel, Kappung der Gäubahn, Entfremdung des Reiseerlebnisses in der Unterwelt, kaum Ausweichmöglichkeiten im Störungsfall, so gut wie keine bahnbetriebliche Flexibilität, … ).

Von dem Projekt haben mittlerweile alle Verantwortlichen gesagt, dass sie es heute nicht mehr bauen würden. Gebaut wird‘s trotzdem! Man kann nicht anders, denn wo kämen wir hin, brächen wir laufende Verträge?

Dabei ist das Projekt weder zwangsläufig noch alternativlos. Bis heute werden von Ausbaugegner:innen sogar solche formuliert, die am Baustand ansetzen. Aber das ist alles längst gesagt im Autoland Deutschland. Geht S21 in Betrieb und wird der jetzige Bahnhof abgerissen, darf sich Stuttgart über den Status einer im Stadtbild eisenbahnfreien Großstadt freuen – insbesondere im Hause Daimler und Porsche wird das so sein.

Kleine und große Baustellen

Das allermeiste bleibt nach dem Fahrplanwechsel, wie es ist: gestört, verbaut und verspätet. Der Bahnbetrieb wie überhaupt der Nahverkehr sind unterfinanziert, und wo Geld ausgegeben wird, wird es im schwäbischen Boden vergraben.

All das ist eine politische Frage, denn das Geld ist da. Es müsste nur der Autoindustrie weggenommen werden, deren Enteignung nach wie vor eine Voraussetzung für eine echte Verkehrswende darstellt. Mit der FDP im Verkehrsministerium ist das natürlich unmöglich.

Bezeichnenderweise stellte VW (Volker Wissing) neulich die Finanzierung des zweigleisigen Ausbaus der Weddeler Schleife zwischen Braunschweig und Wolfsburg inmitten der Arbeiten daran (!) in Frage. Ist halt keine Autobahn …

Die aktuellen Probleme sind in Wirklichkeit dauerhafte, die eher noch größer werden. Bei der Bahn gehen in den nächsten 10 Jahren etwa 70 % der Betriebspersonale in Rente. Das aufzufüllen, wird der Staatskonzern DB mit seiner Vergütung und Personalpolitik nicht schaffen. Warum soll ich zur Bahn in den Schichtdienst, wenn ich bei BMW in der Fabrik das Doppelte kriege?

Gäbe es bei der Bahn nicht so extrem viele Schienennerds und Herzbluteisenbahner:innen, den Karren würde keine:r mehr aus dem Dreck ziehen.

Daneben lahmt der Netzausbau oder wird weiter nur in Projekten gedacht, die jenem unter der Alb ähneln (tunnelintensive Schnellfahrstrecke Hanau – Fulda – Gerstungen (vielleicht entsteht hier der längste Tunnel Deutschlands); Hannover – Bielefeld; Fernbahntunnel Frankfurt … ).

Dazu kommen planungsrechtliche Bremsen. Wenn z. B. das von der Bundesregierung formulierte und unzureichende Ziel einer 75 %igen Elektrifizierung im Schienennetz bis 2030 erfüllt werden soll, bedeutet das, 500 km Strecke jährlich mit Oberleitung zu versehen. Davon sind wir ewig weit entfernt. Das Problem geht hier bereits damit los, dass eine elektrische Aufrüstung rechtlich als Neubau gilt, ergo das komplette, langwierige Planfeststellungsverfahren durchlaufen werden muss. Wäre diese Regierung ernsthaft eine klimafreundliche, würde sie hier sofort ansetzen, das Planungsrecht für Elektrifizierungen entsprechend vereinfachen.

Aber sie ist keine Klimaregierung, wie der Kapitalismus auch kein klimafreundliches System ist.

System Bahn, in der Tat eine Systemfrage

Das Netz ist voll und kollabiert eigentlich täglich irgendwo. Eine Verkehrswende ist mit diesem Schienennetz nicht möglich. Zugleich ist die Vorstellung einer Verkehrswende auf Seiten der Konzernbosse und Regierung auch eine falsche.

Es muss nämlich nicht darum gehen, die heutigen Pendlerströme und Verkehrsmassen einfach auf die Schiene zu packen – zuerst bedeutet Verkehrswende Verkehrsvermeidung. Das aber kann nur eine demokratische Planwirtschaft leisten, eine Reorganisierung von Stadt, Land und Industrie. Alles andere bedeutet, dass ein Netz morgen immer zu klein ist. Das kapitalistische Wachstum lässt grüßen.

Der Verkehr, der dann noch bleibt, sollte die Schiene als Herzstück haben. Den Ausbau müssen Reisende, Pendler:innen und vor allem Beschäftigte demokratisch kontrollieren.

Das ist nicht so utopisch, wie es vielleicht scheint. Vorrangig braucht es nicht unbedingt Rennbahnen, sondern Knoten- und Flächenausbau. Für hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten und Pünktlichkeitswerte in einem europäischen Netz sind entflochtene Knoten letztlich sogar entscheidender. Weniger Tunnel braucht es ebenfalls, auch wenn hier und da eine Schnellfahrstrecke Sinn machen kann, wobei sich die Frage stellt, welche Trassierungsparameter für das Gesamtsystem am sinnvollsten sind (Anbindung von Orten, Nutzung auch für Güterzüge, Vermeidung von aufwendigen Kunstbauten so weit wie möglich … ).

Die Organisierung von öffentlichen Verkehrsträgern steht näher an der Planwirtschaft als viele andere Bereiche, immerhin heißt es – Fahrplan.

Fahrdienstleiter:innen wissen genau, wo Weichen fehlen. Sie könnten Vorschläge erarbeiten, über die demokratisch entschieden wird, wo sie hingehören müssten, und dann das Ganze dem Bahnbau übergeben. Dafür braucht es keine langjährigen Planfeststellungsverfahren.

Genauso wissen Lokführer:innen, welche Umläufe und Fahrzeugbedarfe Sinn machen.

Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Das Ganze muss keine Wunschvorstellung bleiben, aber damit aus Träumen Realität wird. heißt es für alle Beschäftigten im Nah- und Fernverkehr heute, dass sie beginnen müssen, sich selbst in Betriebskomitees zu organisieren und nicht nur diese oder jene Wünsche und Beschwerden auszusprechen. Das nächste Jahr bietet dafür möglicherweise Gelegenheit: Sowohl EVG wie GDL haben ihre Tarifrunde und zeigen sich streikbereit. Die Gewerkschaften tun gut daran, die Verkehrswende mit der Bezahlung der Beschäftigten zu verbinden, damit das Fahrplanjahr 2023 vielleicht zu einem Startpunkt einer Bewegung für die Verkehrswende wird – Beschäftigte und Klimabewegung im Schulterschluss!

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