Peter Main, Neue Internationale 269, November 2022
Der zwanzigste Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verlief vorhersehbar und nach Plan. Nun ja, fast. Dem Parteivorsitzenden Xi Jinping gelang es endlich, alle 24 Plätze im Politbüro und die sieben Plätze im Ständigen Ausschuss mit seinen eigenen Anhänger:innen zu besetzen. Obwohl er 2012 die Unterstützer:innen von Hu Jintao und Li Keqiang, dem vorherigen Präsidenten und dem bis Ende diesen Jahres noch amtierenden Premierminister, ausgeschaltet hatte, war er gezwungen, sie bis jetzt im höchsten politischen Gremium, dem Ständigen Ausschuss, zu behalten.
Die einzige Unterbrechung der sorgfältig inszenierten Inszenierung monolithischer Einheit erfolgte in der letzten Sitzung, als der Kongress über seine geänderten Statuten, d. h. die Bedingungen der Parteimitgliedschaft, abstimmen sollte. Plötzlich wurde Hu von Beamt:innen von seinem Platz am obersten Tischende entfernt und weggeführt. Beim Gehen warf er einen Blick auf Xi und klopfte Li leicht auf die Schulter.
Wir werden vielleicht nie genau erfahren, was hinter dieser außergewöhnlichen Episode steckt, aber viele haben bemerkt, dass Hu unmittelbar vor seiner Absetzung die rote Mappe vor ihm geöffnet hatte, die Berichten zufolge geschlossen bleiben sollte, bis Xi gesprochen hatte. Wurde er, der frühere Parteivorsitzende, der die Erholung von der Großen Rezession beaufsichtigte, einfach wegen eines Verstoßes gegen das Protokoll abgesetzt? Befürchtete man, er könnte Xi unterbrechen? Oder war es einfach nur eine Demonstration, dass es absolut niemandem erlaubt ist, von dem von Xi festgelegten Drehbuch abzuweichen?
An die offizielle Version, dass Hu erkrankt war und ihm zu seinem eigenen Wohl weggeholfen wurde, scheint jedoch niemand zu glauben.
Was auch immer daran wahr sein mag, der gesamte Kongress hat auf jeden Fall deutlich gemacht, dass Xi jetzt die volle Kontrolle innehat. Für den Fall, dass irgendjemand Zweifel hatte, verpflichtet die Änderung der „Satzung“ alle Parteimitglieder, seinen Status als „Kern der Parteiführung“ zu wahren.
Eine solche Beweihräucherung, eine solche monolithische Einheit, wirft sofort die Frage auf: „Wovor hat er Angst?“ Sicherlich sind solche Maßnahmen nur dann notwendig, wenn es irgendeine Art von Bedrohung gibt. Selbst in einem so streng kontrollierten Land gibt es in der Tat Anzeichen von Dissens. Eine Woche vor Beginn des Kongresses erklärten zwei führende Mediziner, George Fu Gao und Zhong Nanshan, dass die durch Abriegelungen erzwungene Pandemiestrategie, die als das Markenzeichen von Xis Politik gilt, nicht mehr zu erreichen sei. Am nächsten Tag widerlegte die Tageszeitung People’s Daily diese Idee und lobte die Politik in den höchsten Tönen.
Am ersten Tag des Kongresses ließ eine einsame Figur ein Transparent von einer Straßenbrücke in Peking herunter, unter den vielen Slogans lautete der erste: „Wir wollen keine Tests, wir wollen Essen!“ Der „Brückenmann“, wie er jetzt genannt wird, in offensichtlicher Anspielung auf den „Panzermann“, der sich nach dem Tiananmen-Massaker im Juni 1989 einer Panzerkolonne widersetzte, fasste die Gefühle von Millionen Menschen treffend zusammen.
Er wies auch auf die entscheidende Schwäche von Xis Diktatur hin: Wenn seine Herrschaft so vollständig ist, dann ist er direkt für alle Fehler, alle Misserfolge verantwortlich – und angesichts der weltweiten Verbreitung von Covid wird die Abriegelungsstrategie scheitern. Die Gesundheitsbehörden wissen es, die lokalen Regierungsvertreter:innen wissen es, zweifellos wissen es auch viele Parteimitglieder – aber man darf es nicht sagen, und man kann es nicht korrigieren. In dieser Frage hat sich Xi selbst in eine Ecke gedrängt. Langfristig führt dies zu einer politischen Lähmung: Xi kontrolliert die Partei, die Partei kontrolliert alles, wenn Xi abgesetzt würde, wäre das gesamte Regime bedroht.
Die Abriegelung ist nur eines der Themen, aus denen Xis Gegner:innen in der Partei und im ganzen Land Kraft schöpfen werden. Ein weiteres ist die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten fand der Kongress vor dem Hintergrund einer sich abschwächenden Wirtschaft statt. Die Industrieproduktion ist 2022 bis Juli nur um 0,4 % gestiegen. Die Quartalsvergleichszahl des Bruttoinlandsprodukts, die während des Kongresses veröffentlicht werden sollte, sich aber bis an dessen Ende verzögerte, wies eine jährliche Wachstumsrate von 3,9 % auf, geplant waren 5,5 %.
Die von Xi verhängten Abriegelungen sind zum Teil dafür verantwortlich, da sie die Produktion, die Lieferwege und den Inlandsverbrauch stören. Seine Gegner:innen weisen auch darauf hin, dass die Vereitelung jeglicher Hoffnung auf eine Lockerung der Politik durch den Kongress internationale Folgen zeitigte. Am Morgen nach Ende des Kongresses erlitt der Nasdaq-Index der in den USA notierten chinesischen Unternehmen mit einem Minus von 14,4 % seinen bisher größten Tageseinbruch. Auch der Hang-Seng-Index Hongkongs verzeichnete mit einem Minus von 1,6 % den stärksten Rückgang seit der Krise von 2008.
Chinas wirtschaftlicher Abschwung ist jedoch nicht nur Ergebnis einer verfehlten Politik. Im Inland unterliegt es ebenso den zyklischen Mustern der kapitalistischen Produktion wie jede andere kapitalistische Wirtschaft. Das rasante Wachstum nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 endete in der Krise von 2008. Der Aufschwung wurde durch enorme staatliche Ausgaben für die Infrastruktur angeheizt, wurde aber durch den Börsencrash von 2016 gestoppt, der Xi dazu veranlasste, gegen einige der kapitalistischen Kreise vorzugehen, die er anfangs gefördert hatte. Seitdem sind die Wachstumsraten stetig gesunken.
Auf internationaler Ebene hat der Aufstieg des Landes zu einer großen kapitalistischen Wirtschaft, einer imperialistischen Macht, es in Konflikt mit den bereits bestehenden Weltmächten gebracht, vor allem mit den USA. Die US-Sanktionen gegen China, die unter Obama begonnen und seither aufrechterhalten wurden, bringen nun schwerwiegende Auswirkungen mit sich, vor allem in den Bereichen, in denen Spitzentechnologie nicht nur industriell, sondern auch militärisch genutzt werden kann.
Dies sind die Faktoren, die Xis Politik geprägt haben, die im Allgemeinen durch eine größere Kriegslust auf internationaler Ebene und die Unterdrückung potenzieller Rival:innen im Inland gekennzeichnet ist. Wie der Brückenmann gezeigt hat, gibt es jedoch weitverbreitete Ressentiments und Feindseligkeit gegenüber der Einparteiendiktatur und dem angeblich allmächtigen Führer. Er hat auch gezeigt, vor wem Xi Jinping wirklich Angst hat, nämlich nicht vor den Amerikaner:innen, sondern vor den Chines:innen.