Resa Ludivien, Neue Internationale 268, Oktober 2022
Was will Frau mehr?
Freiheit mich zu kleiden, wie ich will
Freiheit zu glauben, was ich will
Freiheit zu sein, wer ich will
Die Freiheit in Sicherheit zu sein.
Eine Frau ist tot. Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini wurde nur 22 Jahre alt. Die „Sittenpolizei“ verhaftete sie zunächst, weil sie angeblich die falsche Kleidung trug. Im Iran müssen Frauen ihren Kopf bedecken und bis zur Hüfte eine Art Mantel tragen, der Konturen und Arme bedeckt. Jina starb in Polizeigewahrsam, nachdem sie ins Koma gefallen war, ermordet durch die Polizei. Vermutlich war es ein Schädelbruch, so heißt es in Oppositionskreisen. Die Polizei kontert mit einem Video, das zeigen soll, wie Jina von selbst fiel.
Doch im Grunde ist das nebensächlich. Die Menschen sind nicht mehr bereit, dem zu glauben und der Idee zu folgen, es sei gerechtfertigt, ein junges Mädchen zu verhaften, weil es in den Augen des Staates falsch gekleidet war. Die Bestürzung ist groß, denn es hätte so viele andere ebenso treffen können. Diese Wut, Trauer und Angst tragen Frauen und Männer auf die Straße. Ihre Rufe richten sich gegen die Diktatur. Bisher sind in zahlreichen Städten Proteste bekannt geworden – und es werden trotz der brutalen Repression mehr. Als deren und der Solidarität Zeichen nahmen Frauen, nicht nur im Iran, ihre Kopfbedeckung ab und schnitten sich die Haare kürzer. Bereits zwischen 2017 – 2019 gab es Proteste gegen die Kleiderordnung im Iran, die in erster Linie Frauen einschränkt.
Die Reaktion des Staates darauf: aggressiv, brutal, despotisch. Auf Videos sind im Netz Wasserwerfer und bewaffnete Polizeitrupps zu sehen, die auch bereit sind, auf Menschen zu schießen. 36 Menschen sollen bis um 23. September bei Protesten bereits getötet worden sein. Die Regierung hingegen versucht, schnell wieder zum „business as usual“ überzugehen, mobilisiert reaktionäre regimetreue Demos und hetzt gegen die Demonstrant:innen. Präsident Raisi reist zur UN-Versammlung und hat als einzige Antwort auf den Mord zu sagen, dass man diesen aufklären würde. Die Massenproteste denunziert er als Werk von „Chaot:innen“. Unverhohlen drohen auch Militär und Geheimdienst den „Feinden“ und „illegalen Versammlungen“.
Längst geht nicht nur um den Mord an Jina Amini. Es geht bei den Protesten um so vieles mehr. Die wirtschaftliche Lage im Land ist verheerend. Neben den seit Jahren anhaltenden Sanktionen, die sich bspw. auch in der Coronapandemie und der Impfstoffbeschaffung auswirkten, trifft die Menschen seit Jahren eine massive Inflation. Sie wird für dieses Jahr nach offiziellen Angaben auf mindestens 50 % geschätzt. Auch wenn das Regime nach Protesten von Arbeiter:innen und Rentner:innen im Sommer diesen Jahres Löhne und Renten erhöhte, so ist das wenig mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein nach Jahren des Einkommensverlustes – und nachdem alle wissen, dass die Preissteigerungen jede Erhöhung rasch wieder auffressen. Ähnlich wie jetzt die demonstrierenden Frauen und solidarische Männer denunziert werden, wurden im Juni diesen Jahres Demonstrant:innen, die für höhere Einkommen auf die Straße gingen, als „ausländische Feind:innen“ gebrandmarkt.
Zusätzlich kommt der Wunsch vieler Iraner:innen nach mehr Freiheiten, der sich in Protesten junger Menschen immer wieder zeigt. In Jinas Fall kommt noch dazu, dass Kurd:innen national unterdrückt und jene aus anderen Ländern zumeist nur geduldet werden. Einher geht diese Duldung oft mit Schikane und noch schnellerer Gewaltausübung des Staates.
Seit der Iranischen Revolution 1979, die sich schnell zu einer Konterrevolution entwickelt hatte, regieren die erzkonservativen islamischen Ajatollahs. Der Sturz des Schah bedeutete auch, dass die USA einen zentralen politischen Vasallen in der Region verloren und das Nachfolgeregime auf ihre erbitterte Feindschaft, aber auch die seitens Regionalmächten wie dem Irak (unter Saddam Hussein), Saudi-Arabien und Israel traf. Diese Konfrontation nutzt das islamistische Regime bis heute, um seine Diktatur als eine Art „alternativen Entwicklungsweg“ jenseits imperialistischer Kontrolle zu präsentieren. Die „Kritik“ am imperialistischen System wurde zur Kritik am „Westen“ oder gar der „Moderne“ mit mehr Gleichberechtigung verkürzt.
Natürlich entstand die Unterdrückung der Frau allein aus einer Religion noch erst durch die Mullahs. Die systematische Unterdrückung stützt sich vielmehr auf Jahrtausende einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, die die bürgerliche Herrschaftsform übernimmt und ins Kapitalverhältnis integriert, umformt und zugleich reproduziert. Es macht daher unerlässlich, nicht nur gleiche demokratische Rechte zu erkämpfen, sondern auch die Produktionsverhältnisse zu ändern, um eine endgültige Gleichheit der Frauen in der Fabrik, Familie und Gesellschaft zu erzielen.
Massenproteste Millionen mutiger Frauen und solidarischer Männer stellen einen ersten Schritt dar, um dieses System ins Wanken zu bringen, die Kleiderordnung und die Regierung in Frage zu stellen. Sie werfen zugleich die Frage nach einer weiteren Perspektive auf, wie der Ruf nach dem Sturz des Mullahregimes bei den Aktionen zeigt, wenn wütende Protestierende staatliche Institutionen und Gebäude stürmen und sich Straßenschlachten mit den Repressionskräften liefern.
In den letzten Jahren hat es immer wieder Proteste und auch Streiks der Arbeiter:innenklasse gegeben. Der Kampf für die Rechte der Frauen könnte zum Funken werden, der die Flamme eines neues Aufstandes entzündet und diese Bewegungen zusammenführt.
Um den Widerstand gegen die reaktionäre Kleiderordnung und die Unterdrückung der Frauen mit jenem gegen die Preissteigerungen und Verelendung der Arbeiter:innenklasse und der Masse des Volkes zu verbinden und zum Erfolg zu führen, müssen die Proteste aber auch in den Betrieben und Büros Wurzeln schlagen. Ein Massenstreik im Land könnte eine Kraft entfalten, die das Mullahregime nicht nur erschüttern, sondern auch stürzen kann, eine Kraft, die den Apparat der „Sittenpolizei“ und sämtlicher Repressionskräfte zerbricht. Ein solcher Streik und massive Proteste müssten durch Streik- und Aktionskomitees koordiniert und durch Selbstverteidigungsorgane geschützt werden. Zugleich könnten diese die Basis für Machtorgane einer neuen Gesellschaft abgeben, die mit dem Mullah-Regime aufräumt und sich nicht vor den Karren westlicher, imperialistischer Kräfte spannen lässt, sondern mit dem iranischen Kapitalismus selbst Schluss macht, das Kapital enteignet und die sozialen und ökonomischen Probleme durch einen Notfallplan angeht, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird.
Natürlich kann dieser Kampf in einem Land allein nicht zu einer anderen, sozialistischen Gesellschaft führen. Aber die Bewegung im Iran könnte einen wichtigen Schritt in diese Richtung setzen. Daher braucht sie die Solidarität der gesamten internationalen Arbeiter:innen-, Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung und der gesamten Linken!