Martin Suchanek, Infomail 1188, 11. Mai 2022
Am 9. Mai starb Inge Viett im Alter von 78 Jahren, eine langjährige Genossin und mutige Kämpferin gegen Kapitalismus und Imperialismus. Alle, die sie kannten, alle, die mit ihr politisch zusammengearbeitet haben, verloren nicht nur eine verlässliche und solidarische Mitstreiterin. Unsere Anteilnahme, unser Mitgefühl gilt ihren Freund:innen und engsten Kampfgenoss:innen.
Mit Inge Viett verstarb eine Aktivistin, mit der wir trotz politischer Differenzen bei wichtigen Mobilisierungen solidarisch und fruchtbar zusammengearbeitet haben – sei es zum revolutionären 1. Mai in Berlin, gegen die Münchner SiKo, gegen den Afghanistankrieg oder den G8-Gipfel in Heiligendamm.
Mit Inge Viett verstarb aber auch eine Genossin, deren Lebensweg eine biographische Reflexion der (west)deutschen Linken darstellt. In der Rekonstruktionsperiode des westdeutschen Kapitalismus unter Adenauer und Co. groß geworden, durchlebte sie diese Verhältnisse als Pflegekind und Objekt sog. „Jugendfürsorge“. Die miefige, erzkonservative Realität des Nachkriegsdeutschlands erlebte sie von Kindheit an als repressive, entmenschlichende Wirklichkeit, fernab der damaligen und späteren Mythologisierung.
Der Aufbruch der 1968er, die Apo, die Student:innenrevolte, der Kampf gegen den Vietnamkrieg sowie die Eindrücke einer mehrmonatigen Reise nach Nordafrika trieben ihre Politisierung und Radikalisierung und prägten sie nachhaltig.
Sie entschied sich wie etliche der entschlossensten Kämpfer:innen ihrer Generation für den bewaffneten Kampf, für die Bewegung 2. Juni und später für die RAF als Teil eines internationalen antiimperialistischen Befreiungskampfes.
Ihre eigene Entschlossenheit vermochte freilich die inneren Widersprüche, Grenzen und strategischen Fehler des „bewaffneten Kampfes“ nicht zu überwinden. Wie jede Form des „individuellen Terrorismus“ ersetzt diese Strategie die bewusste Aktion der Arbeiter:innenklasse, sowohl die mühsame vorbereitende politische und organisatorische Arbeit wie die zielgerichtete Zusammenfassung ihre Kräfte in der Revolution durch die entschlossene Tat eine verschworenen Gruppe. Auch wenn dies nicht die Intention sein mag, so tritt anstelle der Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt eine Kleingruppe, deren Aktionen das System demaskieren und die Massen elektrisieren sollen.
Diese Strategie war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Dass aufrechte Revolutionär:innen und keinesfalls, wie die bürgerliche, aber auch reformistische Legendenbildung gern nachträglich darlegt, „Verrückte“ diesen Schritt gingen, muss aus dem historischen Kontext verstanden werden. Nicht nur die offen bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP, auch die SPD unter Brandt unterstützten den barbarischen imperialistischen Krieg gegen Vietnam, rollten dem Schah und seinen Schlägern den Teppich aus. Die SPD beteiligte sich an der Großen Koalition und stimmte deren Notstandsgesetzen 1968 zu. 1972 verabschiedete das sozialliberale Kabinett den Radikalenerlass, also weitreichende Berufsverbote im öffentlichen Dienst.
Trotz dieser Politik konnte ein Großteil der radikalisierten Studierenden über den vorgeblich linken Reformismus von Jusos und Teilen der SPD erfolgreich über den opportunistischen „Marsch durch die Institutionen“ reintegriert werden. Linkes Selbstbild und (klein)bürgerliche Karriere konnten so ganz nebenbei auch in Einklang gebracht werden.
Der radikale Teil der Apo war von der imperialistischen Politik der Brandt-Regierung und von diesem Opportunismus verständlicherweise abgestoßen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Genoss:innen wie Inge Viett den, wenn auch falschen Schluss zogen, sich dem bewaffneten Kampf als radikaler Alternative anzuschließen, die einen endgültigen Schlussstrich unter jede Kooperation mit dem Feind, mit dem Schweinesystem zog.
Nachdem sie rund ein Jahrzehnt dem bewaffneten Kampf gewidmet hatte, setzte sich Inge Viett 1982 in die DDR ab, wo sie unter neuer, wenn auch wechselnder Identität bis zur Wende arbeitete. Ihr Verhältnis zum „real existierenden Sozialismus“ blieb freilich ein problematisches. So scharf sie die Entfremdung der Arbeiter:innenklasse im westlichen Kapitalismus kritisierte, so blieb ihr Blick auf die DDR, genauer auf die politische Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiter:innenklasse verklärt. Die zunehmende Entfremdung der Lohnabhängigen von auf „ihrem“ Staat, den diese in Wahrheit kommandierte und nicht umgekehrt, vermochte sie nicht politisch und begrifflich zu fassen.
Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung wurde der deutsche Staat der „Terroristin“ habhaft. Inge Viett wurde im Juni 1990 verhaftet und 1992 zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, von denen sie bis Januar 1997 die Hälfe absitzen musste. Die Reststrafe wurde auf Bewährung ausgesetzt.
Anders als einige andere ehemalige Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni distanzierte sich Inge Viett nie öffentlich vom bewaffneten Kampf. Kritisch bemerkte sie aber an, dass dieser eine Unterstützung in tragfähigen Teilen der Bevölkerung voraussetze. Diese Bemerkung versucht zweifellos, ein reales Problem dieser Strategie aufzufangen, jedoch ohne deren grundlegenden, inneren Widerspruch in den Griff zu bekommen.
Die Schwäche des bewaffneten Kampfes oder aller Strategien des individuellen Terrors, wie sie schon der Bolschewismus scharf kritisierte, liegt nicht darin, dass der Kampf auf einer bestimmten Stufe auch bewaffnet geführt werden muss. Wäre dem so, müssten wir auch jede militante Selbstverteidigung von Streiks, jeden Schutz gegen Angriffe von repressiven Kräften, Streikbrecher:innen oder Rechten ablehnen. Im Gegenteil. Wer die Herrschaft des Kapitals brechen will, muss auch die Mittel akzeptieren, die dazu notwendig sind. Die Bewaffnung des Proletariats und das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie sind unerlässliche zentrale Aufgaben jeder sozialistischen, jeder proletarischen Umwälzung.
Aber diese revolutionäre Zuspitzung kann nicht durch die für sich genommen sehr entschlossene, gewaltsame Tat einer kleinen Gruppe herbeigeführt werden. Vielmehr erfordert diese erstens eine massenhafte Eruption der inneren Widersprüche einer Gesellschaft, zweitens eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die der unterdrückten Klasse eine Stoßrichtung und Führung zu geben vermag.
Zu dieser Kritik konnte sich Inge Viett nie durchringen, auch wenn sie ihren Kampf, ihren Aktivismus keinesfalls als bloß individuelle Konzeption, sondern immer als Teil eines globalen Befreiungskampfes, des Klassenkampfes verstanden wissen wollte.
Dass sich Inge Viett von ihrer Vergangenheit nicht zum Gefallen der bürgerlichen Öffentlichkeit distanzierte, gereicht ihr zur Ehre und unterscheidet sie wohltuend von den vielen nachträglichen Bekenner:innen und Kronzeug:innen.
Für die bürgerliche Öffentlichkeit, das heißt vor allem für die vom Staat und von privaten Konzernen monopolisierte veröffentlichte Meinung, blieb Inge Viett zeitlebens ein Objekt des Hasses, des Anstoßes, der Verleumdung.
Dabei ging es keineswegs nur darum, ob sie nachträglich Reue empfinde oder sich von ihren Taten distanziere. Im Grunde geht es bei diesen ritualisierten Bekenntnissen niemals nur um eine Abwendung von einzelnen Taten oder Aktionen, sondern immer auch um eine Abkehr von den Zielen. Was nützt der herrschenden Klasse schließlich eine „Terroristin“, die sich kritisch zu einzelnen Taten verhalten mag, sich gleichzeitig jedoch weiter zum Ziel des Kommunismus bekennt und diesen mit revolutionären Mitteln herbeiführen will?
Genau diesen Zielen hat Inge Viett nie abgeschworen – und das machte sie zu einer Persona non grata, einer Aussätzigen im öffentlichen Betrieb. Die bürgerlichen Medien griffen dabei auf eine recht typische, doppelte Form der Diffamierung zurück.
Einerseits überzogen sie Inge Viett mit sarkastischen Bemerkungen, mit Hohn und Beleidigungen, weil sie als „Terroroma“ nicht nur alt, sondern auch aus der Zeit gefallen sei. Die einst gefährliche Verrückte wäre jetzt nur noch eine harmlose Närrin.
Andererseits schien man sich der Sache doch nicht so sicher. Inge Viett wurde zugleich dämonisiert. Schon wer sich mit ihr auf ein Podium zur Diskussion setzte, geriet in den Geruch, Staatsfeind zu sein. So geschehen bei der damaligen Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch, gegen die 2010/11 eine regelrechte Hetzkampagne von Spiegel und Co. gestartet wurde, weil sie vorhatte, mit Inge Viett öffentlich über „Wege zum Kommunismus“ zu diskutieren.
Entgegen den Intentionen ihre Verbreiter:innen tragen freilich beide Formen der Diffamierung ein Moment in sich, das die ganze Übung vom Standpunkt der bestehenden Verhältnisse aus fragwürdig macht – und zwar nicht nur bei Inge Viett, sondern bei allen, die als Kämpfer:innen gegen das bestehende System auf diese doppelte Weise diskreditiert werden sollen.
Stimmt es nämlich, dass es sich im Grunde um harmlose, von der Zeit überholte Figuren handeln würde, stellt sich die Frage, warum diese auch noch dämonisiert werden müssen, also als gefährlicher hingestellt werden, als sie sein sollen. Sind die Dämon:innen vielleicht doch Gefahrenherde, fragt man sich unwillkürlich. Könnte womöglich an einer Kapitalismuskritik, die angeblich längst „überholt“ wäre, doch etwas dran sein?
Dass Inge Viett nie aufgeben hat, sie auch nach ihrer Entlassung als Autorin und Aktivistin gekämpft hat, das vermochte ihr die bürgerliche Gesellschaft nie zu verzeihen. Im Zentrum ihre Kritik stand und steht, was Revolutionär:innen an Inge Viett schätzen: ihre Entschlossenheit, ihren Mut, ihre Standhaftigkeit, ihren Hass auf das kapitalistische System und ihren unbeugsamen Willen. Diese werden für alle, die sie kannten, für alle, die sich mit ihr als antikapitalistische Aktivist:innen beschäftigten, eine Inspiration bleiben. Inge, der Kampf geht weiter!