Christian Gebhardt, Neue Internationale 262, Februar 2022
Die Omikronwelle ist angekommen. Eine Rekordzahl jagt die nächste! Ende Januar wurden über 200.000 Neuinfektionen an einem Tag registriert und die Kurve zeigt immer noch steil nach oben. Laut ExpertInnen und Gesundheitsminister Lauterbach können wir noch von einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen auf 400.000 + ausgehen.
Diese Zahlen sind beängstigend, vor allem wenn sie mit den bisherigen verglichen werden. Gleichzeitig versuchen die Sprachrohre der Regierung – namentlich der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Wieler, und Lauterbach -, den Eindruck zu erwecken, die Infektionslage sei unter Kontrolle: Ende Februar sei davon auszugehen, dass mit den ersten Lockerungen begonnen werden könne.
Wenn wir diese Aussage analysieren, müssen wir die derzeitige Situation unter dem Blickwinkel der bisher angewandten Methode der Pandemiebekämpfung betrachten: die „Flatten the curve“-Strategie. Bei dieser wird versucht, die Infektionszahlen so gering wie möglich zu halten, so dass es im Gesundheitssystem nicht zu einer Überlastung und damit einhergehend zu erhöhten Todesfällen oder gar zur Situation der Triage kommt. Infektionen sind somit per se eingerechnet. Es ist nur wichtig, den aktuell passenden Mittelweg zu finden, um die Krankenhäuser nicht überlaufen zu lassen, das wirtschaftliche Leben am Laufen und gleichzeitig die Todeszahlen unter Kontrolle zu halten.
Dies scheint den Verantwortlichen bisher in der Omikronwelle zu gelingen. Die Zahlen sind zwar um ein Vielfaches höher als die der vorherigen Höhepunkte, steigen auf den Intensivstationen jedoch noch nicht an. Ob dies so bleibt, muss abgewartet werden, aber auf dem Papier hat sich die Strategie bisher bewahrheitet. Dies liegt aber nicht an einem angeblich vorausschauenden Handeln der Regierenden, sondern schlicht und allein daran, dass wir derzeit das Glück haben, es mit einer vermeintlich milderen Virusvariante zu tun zu haben. Omikron ist zwar leichter übertragbar und besitzt auch eine erhöhte Fähigkeit, den Impfschutz zu umgehen, führt aber in den meisten Fällen zu einem leichten Infekt. Hier ist aber wichtig festzuhalten, dass dies meist nur auf geimpfte Personen zutrifft und bei ungeimpften weiterhin mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einen schweren Krankheitsverlauf annehmen kann.
Ein weiterer Punkt, den die Verantwortlichen für die eingeschlagene Strategie gerne vernachlässigen, ist Häufigkeit und Umgang mit den Langzeitfolgen nach einer Coronainfektion. Studien zufolge leiden rund 10 % aller Menschen danach an Long Covid. Hier ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich um 10 % aller Infizierten handelt und nicht nur der schwer Erkrankten. Somit kommen derzeit täglich 18.000 – 20.000 Long-Covid-PatientInnen pro Tag hinzu. Wie schwerwiegend und langwierig deren Symptome ausfallen werden, ist derzeit noch nicht genau abzusehen. Dennoch ist es unverantwortlich, dies in der Bewertung der „Flatten the curve“-Strategie außer Acht zu lassen – und das lässt dann die Bewertung des bisherigen Vorgehens in einem weniger guten Licht erscheinen.
Nimmt man noch zusätzlich die derzeit mehr oder wenig offene Durchseuchung der Schul- und Kitakinder mit dazu, dann scheint es, weniger ein Erfolgskonzept für die Allgemeinheit als für die Wirtschaft darzustellen. Diese kann durch die derzeitigen Regeln nicht nur ihre Produktion offener gestalten als in den bisherigen Wellen, sondern auch die Pandemiesituation dahingehend nutzen, um nicht nur Hilfsleistungen zu erbitten bzw. zu verlangen, sondern auch die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen auf die Coronapandemie zu schieben.
Der „Flatten the curve“ sowie der „Durchseuchungsstrategie“ wird weiterhin die von No oder Zero Covid entgegengehalten. Auch wenn diese hier in Europa zur Zeit als eine einer kleinen, linken Minderheit oder verschreckter Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen, angesehen wird, gibt es auch große Volkswirtschaften, die sie anwenden. Daher findet diese Debatte nicht nur in Europa statt, sondern auch auf internationaler Ebene.
Stellten in der öffentlichen Wahrnehmung hierzulande lange Länder wie Australien und Neuseeland die Gesichter der „No Covid“-Strategie dar, ist es nach deren Abkehr von dieser weiterhin China, das sie am deutlichsten verfolgt, um im Kampf gegen Omikron erfolgreich zu bestehen. Millionenstädte werden nur wegen einiger weniger positiv getesteter Personen in den Volllockdown geschickt, dort Massentests durchgeführt. Auch wenn gerne die bald startende Winterolympiade 2022 in Peking als Grund des harten Durchgreifens vorgeschoben wird, dient dies doch nur der Ablenkung von der eigentlich stattfindenden Strategiedebatte. China beweist in der Omikronwelle – wie auch in denen davor -, dass es in einem stark bevölkerten Land möglich ist, nicht nur die Infektionsfälle, sondern auch die Todeszahlen niedrig zu halten. Während in den westlichen imperialistischen Zentren oder in Russland jeweils Hunderttausende verstarben, konnte es seine Todeszahlen auf wenige Tausend eingrenzen. Auch wenn einzelne Angaben der chinesischen Regierung zweifelhaft und ein Teil ihrer Maßnahmen durchaus kritikwürdig sind, so liefern diese Zahlen bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden auch einen starken Beweis dafür, wie effektiv eine No-Covid-Strategie sein kann und Millionen Tote hätten weltweit verhindert werden können.
Traut man den chinesischen Zahlen jedoch nicht, kann man sich auch die der Übersterblichkeit in Deutschland im Vergleich zu Australien und Neuseeland anschauen. Die BRD weist eine stärkere als diese beiden Länder auf.
Auch wenn die Zahlen für sich sprechen, galt und gilt eine Strategie, die Ausbreitung des Virus an sich zu bekämpfen, in Deutschland immer als rein utopisch. Das liegt aber nicht nur daran, dass sie mit starken Einschränkungen, Lockdowns und autoritären Methoden verbunden wird. Sie wird auch vor allem von der Wirtschaft gefürchtet. Im internationalen Wettkampf möchte diese keine weiteren starken Lockdowns riskieren, besitzt eine Nationalökonomie im internationalen Wettbewerb doch deutliche Vorteile gegenüber Volkswirtschaften, die in einen stärkeren und lang anhaltenden Lockdown gehen. Die verschärfte Weltmarktkonkurrenz hat nun auch in den letzten Monaten dazu geführt, dass einige Länder von ihrer bisherigen Strategie abgerückt sind.
China scheint hier eines der wenigen verbliebenen zu sein. Aufgrund seiner enormen Bedeutung für Weltwirtschaft und globale Lieferketten beunruhigt dies auch die hiesigen Kapitale und Regierungen. Ein harter Lockdown gemäß dieser Strategie führt nicht nur zu einem Herunterfahren der Wirtschaftsleistung Chinas, sondern auch zu einer Behinderung der wirtschaftlichen Prozesse in Europa. Eine offensive Stimmungsmache gegen eine No-Covid-Strategie ist somit nicht nur dadurch zu erklären, dass die hiesige Bourgeoisie einen neuen Lockdown fürchtet, sondern auch dahingehend, dass sie China zu einem Strategiewechsel bringen möchte. Somit will sie ihm auch gleich die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass die deutsche und andere Ökonomien nicht mit dem von Olaf Scholz einst versprochenen „Wums“ aus der Krise kommen.
Im Grunde befindet sich jedoch die Coronapolitik der Bundesregierung auf dem Nullpunkt. Sie setzt auf eine Mischung aus Impfung und rascher Durchseuchung durch Omikron, damit die Pandemie so „mild“ verläuft, dass nicht zu viele gleichzeitig krank, die Intensivstationen nicht überlastet werden und das kaputtgesparte Gesundheitssystem über die Runden kommt.
Alle bereits vor zwei Jahren offenbar gewordenen Probleme – Personal- und Geldmangel im Gesundheitssystem, fehlende Schutzeinrichtungen für Schulen und Kitas usw. usf. – wurden faktisch nicht behoben. Mit der raschen Entwicklung von Vakzinen erschien die Seuche nur noch als Impfproblem.
Dabei war und ist absehbar, dass sie auch mit Omikron nicht vorüber sein wird, weil weitere Mutationen folgen werden. Ob diese weniger tödlich bleiben, ist fraglich. Die langfristigen Folgen von Long Covid werden gänzlich ausgeblendet. Vor allem aber fällt einmal mehr die globale Dimension der Pandemie unter den Tisch. Für zahlreiche Länder, deren Gesundheitssysteme keine Unterstützung finden, stehen bis heute keine oder viel zu wenige Impfstoffe zur Verfügung stehen, während Konzerne wie Pfizer- BioNtech Milliarden scheffeln, stellt anscheinend kein Problem dar.
Genau dieser Aberwitz ist ein entscheidender Grund, warum die QuerdenkerInnenbewegung als politische Alternative zur Regierung erscheinen kann. Natürlich repräsentiert diese zur Zeit nur eine Minderheit, bringt aber wöchentlich Zehntausende bundesweit auf die Straße.
Die deutsche wie auch die radikale Linke hingegen hat dem Thema entweder den Rücken zugekehrt und hofft darauf, dass die Pandemie bald vorbei ist, um sich endlich wieder mit „richtigen“ Themen beschäftigen zu können. Dies war von Beginn an und ist auch heute noch leider ein folgenreicher Trugschluss. Sie wie auch ihre Auswirkungen werden uns nicht einfach von heute auf morgen verlassen. Vielmehr wirken sie als Katalysatoren der stärker werdenden Krisentendenzen des kapitalistischen Systems.
Zugleich kann und muss jedoch in dieser Situation sehr eindrucksvoll und effektiv für die Vorzüge einer Plan- gegenüber der Anarchie einer Marktwirtschaft argumentiert werden. All diese Vorteile wie auch Möglichkeiten gibt jedoch die Linke aus der Hand, da sie sich des Themas nicht annehmen möchte.
Notwendig wäre der Aufbau einer Bewegung, die sich auf Mobilisierungen auf der Straße, in Betrieben, an Schulen und Universitäten stützt. Hier sollten die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung vorangehen und Aktionskomitees in Betrieben, Ausbildungsplätzen, Bezirken und Stadtteilen aufbauen, um die Mobilisierung nicht nur in die Breite zu streuen, sondern auch effektiv an der Basis die Argumente der QuerdenkerInnen zu kontern.
Einen Ansatz für eine solche Bewegung können die vereinzelten Gegenproteste gegen die „Spaziergänge“ bilden wie auch die Maßnahmen von SchülerInnen und Elternvertretungen, die sich gegen die Pandemiepolitik in den Bildungseinrichtungen zur Wehr setzen möchten. Einer solchen Bewegung würden wir auch vorschlagen, sich eindeutig kritisch gegenüber der derzeitigen Politik der Bundesregierung zu äußern und für eine klare Perspektive im Sinne einer internationalen Zero-Covid-Strategie wie die der Kampagne #ZeroCovid zu positionieren.
Krankenhäuser gehören in die öffentliche Hand wurde vergessen.