Markus Lehner, Neue Internationale 260, November 2021
Viele Jahrzehnte war Chile eines der Lieblingsländer von Wallstreet & Co. Das Land galt als Modell für den „Weg nach oben“ im Sinne des Neoliberalismus. Natürlich konnte schlecht bestritten werden, dass am Beginn dieser Erfolgsgeschichte die „unschöne“ brutale Militärdiktatur des Pinochet-Regimes mit seinen Toten und Folteropfern stand, aber nach der „Transition“ zu angeblich demokratischen Verhältnissen sei es zu einem Vorbild für den globalen Süden geworden.
Erfolgreich war die „Transition“ tatsächlich nur für die Reichen und globalen Konzerne, während die soziale Ungleichheit enorm zunahm. Die „Reformen“ der Militärdiktatur hatten praktisch alles nur Mögliche privatisiert. Die „Transition“ brachte zwar gewisse soziale Rechte zurück, aber die Gewerkschaften blieben in ein strenges Reglement eingespannt und konnten insbesondere im privaten Bereich kaum wirkungsvoll für Einkommenssteigerungen der arbeitenden Massen auftreten.
Auch die mit dem Gewerkschaftsverband CUT verbundenen Parteien (Sozial- und ChristdemokratInnen, KommunistInnen) brachten in den Jahren, als sie an der Regierung beteiligt waren, wenig Änderung. Allenfalls wurden die schlimmsten Folgen des Neoliberalismus abgefedert wie etwa durch Anhebungen von Mindest- und Soziallöhnen. So kommt es, dass im Paradies der Wallstreet heute der Monatsdurchschnittslohn eine/r ArbeiterIn bei 530 US-Dollar liegt.
Als im Oktober 2019 die Ticketpreise für die Metro in Santiago um fast 4 % erhöht werden sollten, kam es in Folge zu einem regelrechten Aufstand. Mit Verzögerungen schlossen sich auch die Gewerkschaften mit Arbeitsniederlegungen an – und drohten gar mit Generalstreik.
Das Ziel der Massenbewegung war schnell klar: das Ende des „chilenischen Modells“! Dieser Wunsch wurde auch noch durch die Reaktion der Herrschenden bestärkt, die einen Polizeieinsatz befahlen, der an die schlimmen Zeiten der Diktatur erinnerte. Insbesondere die Übergriffe gegen Frauen und Indigene führten zu einem Zusammengehen der schon vorher starken Frauen- mit der sozialen Bewegung, aber auch mit den Protesten gegen den Rassismus gegen Indigene. Der Ruf nach dem Rücktritt von Piñera war so stark, dass die Kommunistische Partei und die mit ihr verbündete Frente Amplio (Breite Front von Linksparteien; FA) zunächst die Aufforderung der Regierung zu Verhandlungen ausschlugen.
Während sich ArbeiterInnen, Frauen, Indigene, kommunale AktivistInnen immer mehr in selbstorganisierten Strukturen vernetzt hatten und auf den Sturz der Regierung hinarbeiteten, fanden die reformistischen BürokratInnen einen anderen Ausweg – die Einleitung der Erarbeitung einer neuen Verfassung, die die noch von Pinochet verantwortete und in der Transition kaum veränderte ablösen sollte. Auch wenn die Einleitung eines verfassunggebenden Prozesses mit demokratischen Vorgaben für die Wahl und Durchführung einer Konstituante von großen Teilen der Bewegung als Erfolg gefeiert wurde, blieb die Regierung damit an der Macht und konnte ihre Krisenpolitik weiter durchziehen und zusätzlich noch den Verfassungsprozess so gut wie möglich beschneiden.
Damit war auch klar, dass letztlich die Proteste weitergehen würden. Ihr Wunsch nach einer Kehrtwende weg von einem privatisierten Gesundheits-, Renten-, Erziehungssystem etc. war mit dem Versprechen einer neuen Verfassung in keiner Weise garantiert. Die reformistischen Organisationen versprachen, diese Reformen mit Hilfe der Wahlurne umzusetzen – im „Superwahljahr“ 2021. In diesem Jahr fanden nicht nur die Wahlen zur Konstituante (im Mai) und zu den Provinzregierungen statt, sondern steigt im November die erste Runde der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die eigentliche Entscheidung werden die Stichwahlen im Dezember bringen, da für beide Wahlen 50 % der gültigen Stimmen nötig sind, um die Präsidentschaft oder ein Abgeordnetenmandat zu erringen.
Die geschwundenen Illusionen darüber, was im Wahltheater und in einem jahrelangen Verfassungsprozess tatsächlich zu erreichen ist, drückten sich bereits in der geringen Wahlbeteiligung zur verfassunggebenden Versammlung aus (37 %) – im Jahr zuvor bei der Abstimmung über die Einberufung beteiligte sich noch über die Hälfte der ChilenInnen. Allerdings wurde der Plan der Herrschenden durchkreuzt, durch den Listenzwang etablierten Parteien wieder eine Mehrheit zu verschaffen. Die traditionell herrschenden Kräfte (die Konservativ-Liberalen Piñeras und die „Konzentration“ von Sozialistischer und Christdemokratischer Partei) fielen beide unter vernichtende 20 %. Nur die FA konnte ein nennenswertes Ergebnis erzielen, während Listenverbindungen unabhängiger BasiskandidatInnen große Erfolge aufwiesen. Die FA errang außerdem auch bei den Gouverneurswahlen wichtige Erfolge, z. B. mit dem Gewinn einer ihrer FrauenaktivistInnen in Santiago.
Mit Gabriel Boric liegt auch für die Präsidentschaftswahlen momentan der Kandidat der FA in den meisten Umfragen in Führung. Der 35-Jährige war selbst einer der führenden Köpfe der StundentInnenrevolte 2011 und später Frontfigur in verschiedenen unabhängigen linken Organisationen, die im Umfeld der KP standen und zum Kern der FA wurden. Obwohl Boric am besagten Abkommen mit Piñera beteiligt war, wird er vom Zentralorgan des globalen Liberalismus, dem britischen „Economist“, in dessen Ausgabe vom 30. Oktober als „gefährlicher Radikaler“ gekennzeichnet. Angeprangert wird vor allem, dass die Linke in der neuen Verfassung Strafen gegen die Glorifizierung der Militärdiktatur bzw. für Verharmlosungen von deren Folterregime fordert. Dies wird als Beginn einer „Unterdrückung der Meinungsfreiheit“ gesehen.
Ebenso bedenklich findet der Economist, dass die Verfassung auch gegen die Stimmen der bisher herrschenden Parteien durchgesetzt werden solle – natürlich ein schlimmer „antidemokratischer“ Akt: Die liberale Bourgeoisie betrachtet es offenkundig schon als antidemokratisch, wenn sie überstimmt wird (und die Liberalen in der chilenischen Konstituante vereinen weniger als ein Drittel der Mandate). An die Wand gemalt werden natürlich die schlimmen Folgen von ökologischen Auflagen für den Bergbau und die Ankündigungen von Wiederverstaatlichung, die Boric wie auch die Linke in der Konstituante äußern. Das Wahlprogramm der FA konzentriert sich tatsächlich auf solche Punkte wie die Wiedereinführung eines staatlichen Gesundheitssystems. Boric will z. B. ein System ähnlich dem NHS in Britannien in Chile einführen.
Nun sind einige dieser Programmpunkte sicherlich auch wichtige Forderungen der Protestbewegungen. Aber wäre bei einem Wahlsieg von Boric tatsächlich mit dem Ende des „Neoliberalismus“ in Chile zu rechnen?
Dem stehen mehrere Hindernisse entgegen. Die FA-Spitzen wollen im Parlament, in der Konstituante und auch in den Gewerkschaften weiterhin mit Teilen des Establishments, vor allem aus der „Konzentration“ (Sozialdemokratie, Christdemokratie), zusammenarbeiten. Sie und die „unabhängigen Linken“ in der Konstituante sind ihrerseits nicht wirklich zu einem entscheidenden Bruch mit dem bisherigen System bereit.
Dabei erweist sich die Behauptung, erstmal ginge es „nur“ um ein Ende des Neoliberalismus, als hochproblematisch. Sie geht nämlich von der falschen Vorstellung aus, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen speziell der krisenhaften Entwicklung in Lateinamerika eine andere, „menschlichere“ Form von Kapitalismus in Chile geben könnte und diese dauerhaft von der herrschenden Klasse akzeptiert würde. Eine Infragestellung der wichtigen Rolle Chiles in den internationalen Produktionsketten wird schnell zu einer Konfrontation mit den mächtigen Kapitalien im In- und Ausland führen. Auch eine von Boric geführte Regierung müsste sich entweder schnell mit dem internationalen Kapital arrangieren (mit ein paar sozialen Regulierungen im Gesundheitssystem als Brosamen) – oder zu einer radikalen Konfrontation mit dem Kapital gezwungen sein.
Was letztere betrifft, ist die weitere Entwicklung und Verstärkung der sozialen Proteste von entscheidender Bedeutung. Nachdem einige der mit Corona begründeten Einschränkungen jetzt im Oktober gelockert worden waren, hat sich diese Bewegung wieder in ihrer vollen Radikalität gezeigt. Gerade zum Jahrestag des 2019er Protestes kam es wieder zu Straßenschlachten, bei denen die Hauptlosung laut „Economist“ die Forderung nach dem Ende des Kapitalismus war. Einmal mehr ging die Polizei mit aller Härte vor und es kam landesweit zu 3 Todesopfern. Natürlich benutzen die bürgerliche Presse und ihre FreundInnen im liberalen Ausland die Zuspitzung auf der Straße, um vor der „Anarchie“ und der „Zertrümmerung“ der ökonomischen Sicherheit zu warnen, sollte Boric die Wahlen gewinnen.
Bezeichnend auch, was sich dann im bürgerlichen Lager getan hat: War lange Zeit der „gemäßigte“ Liberale Sebastián Sichel der Piñera-Gruppierung der Wunschkandidat der Bourgeoisie, so rückte jetzt der Pinochetfan José Kast in den Vordergrund. In einigen Medien wird bereits behauptet, er würde Boric in den Umfragen überholen. Das Projekt Kast setzt ganz auf die Law-and-Order-Schiene, die Abwendung der drohenden „Anarchie“ – daneben verkündet Kast den Bau von Grenzbefestigungen gegen die „Migrationsflut“, die angeblich den chilenischen Wohlstand bedroht, wie auch entschiedene Maßnahmen gegen „kriminelle“ Mapuche.
Dies zeigt, dass die krisenhafte Entwicklung in Lateinamerika nun auch in Chile wie zuvor in Brasilien zur Konfrontation zwischen der Linken und einer Bourgeoisie führt, die nicht mehr davor zurückschreckt, solche Clowns und Rassisten wie Bolsonaro oder Kast als ihre „Retter“ aufs Schild zu heben, so wie es Marx schon am Aufstieg des Louis Bonaparte beschrieben hatte.
Eine politische Zuspitzung ist in der kommenden Periode daher unvermeidlich. Programm und Strategie der KP und FA bilden dabei jedoch selbst ein zentrales Problem für die Lösung der Krise im Interesse der Lohnabhängigen, der Bauern/Bäuerinnen und Unterdrückten. Warum? Weil sich ihre Volksfrontpolitik, also das Verfolgen eines Regierungsbündnisses mit den gemäßigten Teilen der herrschenden Klasse, wie schon unter Allende als Fessel für den heroischen Kampf der chilenischen Massen erweisen wird müssen. Andererseits stützen sich KP und FA auf die Gefolgschaft von Millionen und feste Stützen in den Gewerkschaften. Daher werden weit über eine Million Lohnabhängige und AktivistInnen der sozialen Bewegungen diesen Parteien ihre Stimme geben, um so die verschiedenen Fraktionen des chilenischen und internationalen Kapitals zu schlagen.
Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, diesen Prozess zu vertiefen und zuzuspitzen. Zur Zeit gibt es in Chile keine alternative, revolutionäre Partei der Klasse, auch wenn verschiedene linke Organisationen in Teilbereichen über eine gewisse Verankerung verfügen. Dazu zählt sicherlich auch die PTR („Revolutionäre ArbeiterInnenpartei“, chilenische Sektion der „Trotzkistischen Fraktion“). Mit ihren wenigen Kräften trat sie im Mai bei den Wahlen zur Konstituante an und erzielte 50.000 Stimmen – sicherlich ein achtbares Ergebnis, aber mit 0,8 % weit von einem signifikanten Einfluss in der Klasse entfernt. Für die kommenden Wahlen ging die PTR ein Wahlbündnis mit anderen linken Kleingruppen ein, die „Front für ArbeiterInneneinheit“.
Sehr wahrscheinlich wird diese Kandidatur angesichts der Konfrontation von FA und der Rechten kein sehr viel besseres Ergebnis als die PTR für die Konstituante erzielen. Hinzu kommt, dass das Programm dieses Wahlblocks zwar korrekte Kritik an der FA und ihrem Verrat mit dem „Abkommen“ enthält, selbst aber kein revolutionäres, antikapitalistisches Aktionsprogramm aufstellt. Es enthält zwar richtige Forderungen nach Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle, es fehlt jedoch das Aufzeigen der notwendigen Mittel zu ihrer Durchsetzung wie die Frage des Kampfes um eine ArbeiterInnenregierung, des Bruches mit dem bürgerlichen Staat und der Errichtung der Räteherrschaft der ArbeiterInnenklasse. Die Kandidatur stellt somit auch auf programmatischer Ebene keine revolutionäre, sondern bloß eine zentristische, zwischen Reform und Revolution schwankende, Alternative dar.
Vor allem aber beantwortet die Kandidatur eines Bündnisses kleiner linker Gruppierungen nicht die Frage, welche Haltung RevolutionärInnen in der Konfrontation zwischen Boric und den offen bürgerlichen KandidatInnen bei den Präsidentschaftswahlen einnehmen sollen bzw. zwischen denen der FA/KP und den offen bürgerlichen Kräften bei den Parlamentswahlen.
Die aktuelle zugespitzte Situation erfordert, in dieser Konfrontation zur Wahl von Boric und der FA/KP aufzurufen. RevolutionärInnen müssen deutlich machen, dass sie diese gegen den unvermeidlichen Angriff der herrschenden Klasse und direkt konterrevolutionärer Kräfte verteidigen. Zugleich müssen sie von der FA/KP fordern, mit den offen bürgerlichen Kräften – konkret jenen der „Konzentration“ zu brechen.
Dies ist umso wichtiger, als ein großer Teil der organisierten ArbeiterInnenklasse, der sozial Unterdrückten und selbst der AktivistInnen der Protestbewegung weiterhin der Führung reformistischer Organisationen folgt. Das betrifft vor allem die Kernschichten der Lohnabhängigen. Trotz „Neoliberalismus“ hat sich in Chile der „informelle Sektor“ (deregulierte Beschäftigungsbedingungen) nur auf unter 30 % belaufen, während er im Rest des Kontinents auf über 60 % gestiegen ist. In Chile hat sich das Bruttosozialprodukt von 1990 bis 2015 verdreifacht. Auch wenn, wie anfangs ausgeführt, für die Masse der Bevölkerung dabei nur Brosamen abfielen, so hat sich doch eine besser bezahlte mittlere Schicht von ArbeiterInnen herausgebildet, die auch stark in den Gewerkschaften vertreten ist und für die reformistischen Parteien (KP und SP) eine feste soziale Basis darstellt. Sicher ist auch, dass ohne den Gewinn dieser Schichten und der Gewerkschaften keine wirkliche Umwälzung in Chile möglich sein wird.
Gerade die Krise der letzten Jahre hat auch viele dieser besser bezahlten ArbeiterInnen getroffen und zwingt sie zu einer politischen Neuorientierung. Die politische Stärkung der FA gegenüber der „Konzentration“ ist ohne diese Entwicklung gar nicht zu erklären – natürlich ebenso wie der Aufstieg Kasts durch die sich bedroht fühlenden Mittelschichten.
Ein Wahlaufruf für Boric bedeutet nicht, die Kritik an seinem Programm und seiner Rolle beim „Abkommen“ zurückzustellen. Aber er bedeutet, dass man den Millionen ArbeiterInnen und sozial Unterdrückten, die für ihn stimmen wollen, erstens sagt, dass es uns nicht egal ist, ob Boric oder Kast (oder ein anderer bürgerlicher Kandidat) siegt. Vielmehr geht es darum, Boric zu helfen, sie zu besiegen.
Gleichzeitig gilt es, deutlich zu machen, den Kampf für die Forderungen von Boric tatsächlich auf der Straße fortzuführen. Schon jene nach einem frei zugänglichen Gesundheitswesen für alle oder Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle werden sich nur durch Massenmobilisierungen erzwingen lassen. Diese würden zugleich eine Grundlage für die Bildung von Aktionsräten in den Betrieben und Kommunen schaffen. Diese Konfrontation mit dem Kapital würde die Frage aufwerfen, welche Klasse herrscht – und damit die Bildung einer ArbeiterInnenregierung auf die Tagesordnung setzten, die zur Enteignung der Bourgeoisie und der Zerschlagung ihres Staates schreitet. Dies wäre eine Taktik, mit der tatsächlich sowohl die Masse der Protestbewegung wie auch die kämpferischen Teile von Gewerkschaften und AnhängerInnen der reformistischen Parteien für ein revolutionäres Projekt gewonnen werden könnten. Die Kräfte der sozialen Revolution in Chile sind dabei, sich herauszubilden – es kommt jetzt darauf an, dass auch eine politische Führung entsteht, die diese zum Sieg über den chilenischen Kapitalismus führt.