Lucien Jaros, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021
Seit letzten Sommer hat es DWE nicht nur geschafft, eine große SammlerInnenstruktur mit ca. 1.600 Personen aufzubauen, was zahlreiche „Solidarische Orte“, lokale Kiez- und Hochschulgruppen einschließt, sondern auch die Zustimmung großer BündnispartnerInnen wie des Berliner Mietervereins und ver.dis, der GEW, IG Metall , IG-BAU- und DGB-Jugend sowie der Berliner Jusos gewonnen. Es gibt Gespräche mit verschiedenen linken Bezirksverbänden und Abgeordneten der Grünen und der SPD. Die Linkspartei unterstützt das Volksbegehren ebenso wie zahlreiche andere linke Initiativen, Vereine, Interessenvertretungen und politische Gruppierungen.
Zusätzlich wurde die Kampagne geographisch erweitert:
Aber auch die Gegenseite macht mobil: Eine Woche vor Start der zweiten Phase schikanierte die Polizei mehrere SammlerInnen, beschlagnahmte Material, erstattete Anzeigen wegen Plakatierens ohne Erlaubnis und Sachbeschädigung oder wurde in Treptow ertappt, wie sie selbst Plakate (bspw. in der Baumschulenstraße) entfernte. Innensenator Geisel berät weitere Schritte wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz. Derselbe Innensenator, der 441 Tage für die Freigabe des Volksbegehrens gebraucht hat, beeilt sich anscheinend, jetzt die Kampagne zu stören. Dabei ist politische Werbung zum Zwecke von Volksbegehren nach § 2 Abs. 5, Nr. 2 der Covid-Verordnung ausdrücklich erlaubt. Geisel ist dem rechten und der Immobilienlobby nahen Flügel der SPD zuzurechnen und bereits zuvor mit einer feindlichen Haltung gegenüber diversen Volksbegehren aufgefallen. Die Rate konservativer und neoliberaler Internettrolle steigt an und spammt die Kommentarspalten unter den Artikeln bürgerlicher Zeitungen zu. Und nicht zuletzt will der Immobilienlobbyverband GdW (Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen) 1,6 Millionen Euro für eine öffentliche Gegenkampagne bereitstellen, die durch Spenden der Mitgliedsverbände wie beispielsweise des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) und Sonderbeiträge der von der Vergesellschaftung betroffenen Immobilienkonzerne finanziert wird, und damit durch die Mieten der einfachen BerlinerInnen.
(Mehr zum Thema im Artikel „Wenn die Immobilienhaie rufen, kommt die Polizei“).
Das alles war zu erwarten und zeigt sehr gut, dass Vergesellschaftung zwar in Form des Volksbegehrens eine demokratische Frage ist, aber im Kern eine soziale mit klaren Klassenlinien und Lagern.
Aktuell läuft das Volksbegehren zufriedenstellend. In der 10. von insgesamt 18 Wochen wurden ca. 100.000 gültige Unterschriften von 175.000 benötigten abgegeben. Eine leichte Steigerung der Unterschriften ist in den letzten Wochen wahrscheinlich, da Einzelpersonen und Organisationen ihre am Ende gesammelt abgeben. Jedoch ist der Erfolg nicht sicher und es kommt bis zum Ende auf jede Unterschrift an. Daher:
Die Quote der „ungültigen“ Unterschriften liegt bei ca. 25 %. Hauptgrund ist die fehlende deutsche Staatsbürgerschaft. Dieser Sachverhalt zeigt einerseits deutlich, dass sich das Interesse an einer sozialen Wohnpolitik und dem Volksbegehren über die nationalen Milieus hinaus und entlang den Klassenlinien ausbreitet und damit die Trennung der ArbeiterInnenklasse entlang Sprach- und Kulturbarrieren überwunden werden kann. Und das ist ein Fortschritt im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten.
Andererseits sind migrantische ArbeiterInnen ohne Staatsbürgerschaft trotz ihrer Bereitschaft, die Berliner Wohnpolitik mitzubestimmen, von der politischen Willensbildung ausgeschlossen. Daher ist die Right-to-the-City-Kampagne und die Zusammenarbeit mit migrantischen Milieus und ihren Kämpfen wichtig und auszubauen, um gemeinsam für gleiche Rechte für alle zu kämpfen. Im Gegensatz zu linksliberalen Intellektuellen sind MigrantInnen im Vergleich zu anderen mehr von Armut betroffen und stellen daher viel solidere und langfristige BündnispartnerInnen dar. Der Erste Mai hatte das Potenzial dieser Zusammenarbeit verstärkt. Dieses wurde aber leider bisher nicht genutzt. Ein Teil von DWE hofft nämlich, dem Druck der feindlichen bürgerlichen Medien und der Wohnungsbaulobby ausweichen zu können, indem eine klare Positionierung zu diesen Fragen umgangen wird. In Wirklichkeit wird durch diese Anpassung versäumt, sich an solchen strategischen Milieus zu orientieren.
Man muss migrantische ArbeiterInnen und Jugendliche hier unterstützen und zwar genau dort, wo sie ihre Kämpfe führen, sei es im Betrieb, aber auch auf der Straße und auch, wenn es der Erste Mai ist. Der Erste Mai ist schließlich der internationale Kampftag der gesamten ArbeiterInnenklasse und nicht nur der Tag der deutschen Gewerkschaftsbürokratie. Als breite Kampagne muss DWE alle linken politischen Spektren und alle sozialen Milieus der lohnabhängigen Mittelschichten und ArbeiterInnenklasse, insbesondere aber die am meisten ausgebeuteten Schichten, ansprechen und als aktive MitstreiterInnen gewinnen.
Bei allen guten Entwicklungen und optimistischen Aussichten ist das Ziel der Vergesellschaftung jedoch nicht sicher. Erstens weil das Volksbegehren letztlich alle Hoffnungen auf einen legalistischen Prozess setzt, der beim Gesetzgebungsverfahren eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus voraussetzt, also von der Unterstützung von Grünen, SPD und Linkspartei abhängt. Zweitens weil das Bündnis keine anderen Wege zur Vergesellschaftung aufzeigt, die im Falle einer Niederlage die Kampagne auffangen und umorientieren könnten. Die extrem einseitige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel im Interesse der Immobilienkonzerne zeigt trotz des Umstandes, dass ein Berliner Vergesellschaftungsgesetz formal rechtssicherer wäre, eine Bedrohung auf und beweist, dass man kein Vertrauen in bürgerliche Staatsorgane hegen darf.
Daher ist eine freie politische Diskussion über zusätzliche und alternative Wege und eine Strategie, vonnöten die mittels demokratischer Fragen Massen mobilisiert und organisiert. Das Volksbegehren ist erfolgreich, viele Menschen zu aktivieren, orientiert sie aber strategisch nicht über den institutionellen Rahmen hinaus. Sie müsste aber vielmehr ihre UnterstützerInnen nicht auf das Maß eines reinen Druckmittels auf die etablierte Politik reduzieren, sondern als entscheidendes Subjekt formieren, indem versucht wird, die Entscheidungsebene weg von Organen des bürgerlichen Staates (wie den Regierungsparteien, dem Abgeordnetenhaus und den Gerichten) auf eine (Klassen-)Ebene und auf das soziale Milieu der ArbeiterInnen und MieterInnen zu verschieben, wo DWE tatsächlich eine größere Hebelwirkung und Verankerung hat. Dieses Milieu muss sich durch Betriebsversammlungen, Gewerkschaften, lokale MieterInnenräte formieren und ihre Kämpfe auf den Ebenen der Straße, des Mietboykotts und politischer Streiks führen.
Als Motor und demokratisches Vehikel ist das Volksbegehren sehr gut geeignet und die Unterstützung durch die Gewerkschaften zeigt das. Unabhängig davon, wie der Kampf ausgeht, hat die Strategie ihr Potential verdeutlicht, eine demokratische Frage in eine soziale Massenmobilisierung zu transformieren. Wie der weitere Weg aussehen soll und sich das Volksbegehren in eine Gesamtstrategie in der Wohnungsfrage einbettet, muss offen diskutiert werden. Trotz der Schwerpunktlegung auf das aktuelle Sammeln, muss diese Diskussion um Alternativen und mögliche Negativszenarien geführt werden, denn davon hängt der nachhaltige Erfolg der Vergesellschaftung ab.
Denn die erfolgreiche zweite Phase wäre nicht nur ein Sieg für 300.000 MieterInnen. Es gibt das Potenzial, Bündnisse um die Losung der Enteignung, Überführung in Gemeineigentum und demokratische Kontrolle über die Wohnungsfrage hinaus aufzubauen. Die Veranstaltung und anschließende gemeinsame Erklärung zu „Gemeinwirtschaft statt Marktradikalismus“ im September 2020, die Stadtversammlung und der Enteignungsblock im April 2021 sind gute Ansätze für größere breitere Bündnisse. Dies muss jedoch ausgebaut werden. Damit könnten die Linke und die ArbeiterInnenklasse nicht nur nach Jahrzehnten des politischen Rückzugs endlich wieder in die Offensive kommen, sondern auch in Zeiten von Corona, Klimawandel und der kommenden Wirtschaftskrise dringende Sofortmaßnahmen und ein langfristiges Programm auf eine Grundlage stellen, von der die Masse der Menschen profitiert und damit ihr Überleben sichert.
Bürgerliche Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich lediglich gegen „spekulative Auswüchse“, nicht gegen das auch der Wohnungsfrage zugrunde liegende Besitz- und Kapitalverhältnis. Die Stärke des DWE-Volksbegehren besteht hier darin, mit dieser Politik im Ansatz zu brechen und den markt- und preisbestimmenden Immobilienkonzernen und damit dem Markt Wohnungen zu entziehen und sie in Gemeineigentum umzuwandeln. Zusammen mit der demokratischen Kontrolle durch MieterInnenräte will DWE zentrale Ansätze einer proletarischen Wohnungspolitik verwirklichen, bleibt hier aber auf halbem Weg stecken, da die Nachhaltigkeit der Errungenschaft vergesellschafteten und demokratisierten Wohnraums von der Systemfrage abgekoppelt wird. Ob sich eine soziale Insel im Meer des Kapitalismus langfristig halten kann, ist nämlich fraglich.
Die Entwicklung der Wohnungsgenossenschaften und ihre heutige Politik bezüglich Mietendeckel und Vergesellschaftung ist ein Indikator dafür, was passiert, wenn man die Kampagne programmatisch sozialdemokratisch ausrichtet und demokratisches Gemeineigentum oder andere Formen der demokratischen Gemeinwirtschaft langfristig im Kapitalismus einrichten will. Daher muss für eine konsequente soziale Wohnpolitik und Nachhaltigkeit der DWE-Forderungen der unabhängige Klassencharakter weiterentwickelt und der Anspruch erhoben werden, kommunales und öffentlich-rechtliches Eigentum und Demokratisierung über die eigenen Bestände und über Wohnpolitik hinaus auszudehnen. Denn auch wenn man für Reformen und Teilverbesserungen kämpfen muss, ist jeder Erfolg durch die Existenz des Marktes und des bürgerlichen Staates bedroht. Daher ist die Lösung der Wohnungsfrage untrennbar mit der Ablösung der Marktwirtschaft verbunden.