Tobi Hansen, Infomail 1079, 6. Dezember 2019
Die SPD-Basis hat sich gegen die VertreterInnen des Parteiestablishments, Finanzminister und Vizekanzler Scholz und die Bundestagsabgeordnete Geywitz entschieden. Im 2.Wahlgang votierten letztlich 16.000 Mitglieder mehr für das Duo Walter-Borjans/Esken, die 114.995 Stimmen gegenüber 98.246 Stimmen für Scholz/Geywitz erhielten. Mehr Mitglieder als 54 % konnte die entscheidende Runde jedoch nicht mobilisieren, sicherlich dem scheintoten Zustand der Partei geschuldet, auch wenn die Stimmen für Walter-Borjans/Esken als ein womöglich letztes Lebenszeichen gedeutet werden können.
Für die gesamte Parteiführung der SPD stellt das Ergebnis eine schallende Ohrfeige, eine weitere Niederlage dar. Schließlich hatten sich in der Stichwahl fast alle „prominenten“ und „erfahrenen“ SozialdemokratInnen für Scholz/Geywitz ausgesprochen. Fast niemand aus dem Kabinett hielt sich an die interne „Verabredung“, keine Wahlempfehlungen auszusprechen. Vielmehr positionierten sich fast alle für Scholz/Geywitz. Die Parlamentsfraktion war erst recht deutlich gegen Walter-Borjans/Esken aufgestellt. Für diese Kräfte ging es nicht nur um die Parteiführung, sondern zugleich auch um das Weiterleben der Großen Koalition, in die sie die Partei nach der verheerenden Niederlage bei den Bundestagswahlen 2017 manövrierte hatten.
Die dritte CDU/CSU/SPD-Koalition unter Merkels Kanzlerschaft stand nie unter einem guten Stern, jetzt könnten ihre letzten Wochen angebrochen sein. Die Krise der Union wie auch eine mögliche Neuausrichtung der SPD lassen Neuwahlen 2020 wahrscheinlicher werden.
Auch die bürgerlichen Medien hatten in den letzten Wochen Vizekanzler Scholz äußerst wohlwollend begleitet, würdigten selbst seine Steuerfahndungsabteilung für Reiche. Zahlreiche bürgerliche ExpertInnen und JournalistInnen stellten der Großen Koalition gar eine „sozialdemokratische Handschrift“ aus – so als hatte die SPD von der Öffentlichkeit unbemerkt Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse umgesetzt.
Trotz aller Schönfärberei verloren der „Scholzomat“ und damit auch die aktuelle Regierungsmannschaft und Führung der SPD.
Die Wahl kommt durchaus einer Zäsur in der Partei gleich: Das Führungspersonal, das die Bundesregierungen seit 1998 mitgestaltet hat, das verantwortlich ist für Jugoslawienkrieg und Agendapolitik, wurde 20 Jahre später endgültig abgewählt. Die Frage bleibt nur: Kämpfen die neu gewählten Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen für einen wirklichen Bruch mit dieser Politik und damit mit der Großen Koalition oder werden selbst ihre linkeren reformistischen Versprechen und der von ihnen geforderte Bruch mit dem Neo-Liberalismus auf dem Altar der „Parteieinheit“ geopfert, wird der Regierung und der Parlamentsfraktion unter linkeren Vorsitzenden praktisch eine Fortsetzung ihrer Politik gestattet?
Für die Boulevardmedien und das aufgeschreckte BürgerInnentum Deutschlands stellt die Wahl eine Katastrophe dar. „Der SPD ging es doch schon schlecht, jetzt stürzt sie sich ins Chaos“, titelte die „Süddeutsche Zeitung“ am 30. November, die FPD zitierend. HinterbänklerInnen und Unerfahrene würden nicht nur die SPD in den Ruin, sondern auch die Republik in die Neuwahlen treiben. So wettern diejenigen, die sich stets gut auf die RegierungssozInnen verlassen konnten und nun Zweifel daran haben, dass der neue Vorstand ähnlich willfährig ist.
Auch der ehemalige NRW-Finanzminister Walter-Borjans (2010–2017) wie auch die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken nährten diese „Befürchtung“, schließlich wollten sie zumindest den aktuellen Koalitionsvertrag neu verhandeln. Der Frage nach der Zukunft der Großen Koalition wichen sie jedoch schon im Wahlkampf um den Vorsitz aus – und tun es weiter. Es gibt kein explizites Ja oder Nein. Dies wollen sie von Nachverhandlungen abhängig machen.
Wie fast alle zur Wahl stehenden KandidatInnen wollten sie die programmatische und politische Erneuerung der SPD betreiben, diese wieder zur linken „Volkspartei“ machen. Walter-Borjans selbst strebt Wahlergebnisse von 30 % + x an. Beide spielten besonders die soziale und ökologische Karte, versprachen einen Mindestlohn von 12 Euro, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und höhere Steuern für Reiche sowie ein Ende der „schwarzen Null“, also eigentlich klassisch sozialdemokratische Politik.
Beide stehen zweifellos weit weniger links als der britische Labour-Vorsitzende Corbyn. Sie sind klassische UmverteilungsreformistInnen, wobei MdB Esken einen linkeren Akzent wählt als der ehemalige Landesfinanzminister Walter-Borjans.
Vom 6–8.12 findet der Bundesparteitag der SPD statt. Dieser soll eine Bilanz der Bundesregierung ziehen und entschieden, ob die Partei die Koalition fortführen soll. Derzeit sieht es vor allem nach unklaren Machtverhältnissen aus. Nicht nur die beiden Vorsitzenden sollen gemäß der Urabstimmung gewählt werden. Große Teile des Bundesvorstands wie auch die stellvertretenden Vorsitzenden werden neu bestimmt. Hier wird sich zeigen, wer die neue Parteiführung dominiert, wer über reale Mehrheiten verfügt. So kündigte Bundesarbeitsminister Heil seine Kandidatur zum stellvertretenden Vorsitzenden an. Zur Zeit versucht er, in seinem Ministerium doch noch höhere Hartz-IV-Sanktionen als vom Verfassungsgericht genehmigt durchzusetzen. Heil und andere BefürworterInnen der Bundesregierung aus Kabinett und Fraktion werden versuchen, den neuen Vorsitz „einzurahmen“, ihn quasi politisch kaltzustellen durch Mehrheiten im Vorstand. Den Parteiapparat wissen sie ohnedies auf ihrer Seite.
Um Esken und Walter-Borjans zu stützen, erklärte sich auch der Juso-Vorsitzende Kühnert bereit, „Verantwortung“ zu übernehmen und als stellvertretender Vorsitzender zu kandidieren. Zugleich relativierte er – ganz auf Beschwichtigung des rechten Flügels und der Zentrums der Partei setzend – die Forderung nach einem Bruch der Koalition. Man müsse, so Kühnert, die Sache schließlich vom Ende her denken. So äußerte er gegenüber dem Bonner Generalanzeiger: „Wer eine Koalition verlässt, gibt einen Teil der Kontrolle aus der Hand, das ist doch eine ganz nüchterne Feststellung. Auch das sollten die SPD-Delegierten bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.“
Hier kommt die Furcht des linken Flügels der Partei vor dem eigenen Sieg, vor den Konsequenzen der eigenen Forderung und Kritik an der Großen Koalition deutlich zum Ausdruck. Noch schwerer als die Fortsetzung der arbeiterInnenfeindlichen, imperialistischen Politik an der Regierung wiegt die „Einheit der Partei“, denn die wollen auch die „Linken“ in der SPD nicht riskieren. So droht der Sieg der GroKo-KritikerInnen und GegnerInnen der Parteiführung bei der Wahl zum Parteivorsitz durch eine Reihe von Zugeständnissen, „Sondierungen“, Formalkompromissen zu versanden.
Selten waren die innerparteilichen Machtverhältnisse so unklar vor einem Bundesparteitag, selten war die Lage so offen wie jetzt. Die neuen Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen wollen aber einer Klärung dieser Fragen ausweichen, zunächst am besten eine direkte Entscheidung zu Fortsetzung oder Bruch der Koalition vermeiden. Vielmehr soll es ein – möglichst vage formuliertes – Mandat für Neuverhandlungen mit den Schwerpunkten Investition, Klima, Soziales und Digitales geben, das die Entscheidung über die GroKo vom Parteitag praktisch auf Vorstand, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion verlagert.
Gewerkschaftsbürokratie
Schon am 1. Dezember machte die Spitze der DGB-Gewerkschaften ihre Position deutlich. Nach der Entscheidung verkündete DGB-Chef Hoffmann via Bild-Zeitung, was er vom neuen Vorstand verlange: „Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sollten die Regierung in der zweiten Halbzeit nach Kräften unterstützen, um die offenen Projekte aus dem Koalitionsvertrag erfolgreich umzusetzen.“
Ganz ähnlich äußert sich ver.di-Vorsitzender Wernecke: „Die Halbzeitbilanz der Regierung kann aus Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnensicht sowie gesamtgesellschaftlich in mehreren Punkten Positives vorweisen. Dazu gehören die Stabilisierung des Rentenniveaus, Investitionen in Kitas und aktuell die Nachunternehmerhaftung bei Paketdiensten sowie der Ausbildungsmindestlohn und die Schaffung der Voraussetzung für tarifliche Bezahlung in der Altenpflege.“ (https://www.jungewelt.de/artikel/366373.verdi-zur-halbzeitbilanz-der-gro%C3%9Fen-koalition.html)
Wer an der GroKo so viel Positives zu finden weiß, der lebt offenkundig in einer anderen Welt. Die DGB-Bürokratie stellt jedenfalls klar, wofür sie in den nächsten Wochen und Tagen eintritt – für den Erhalt der Koalition. Dass dafür auch die SPD endgültig geschreddert werden kann, deuten zumindest Umfragen an. Die Gewerkschaftsführung ignoriert das geflissentlich. Zusammen mit dem Kabinett, der übergroßen Mehrheit der Fraktion, den meisten regierenden SPD- MinisterpräsidentInnen und BürgermeisterInnen sind die DGB-Führung wie auch jene der Einzelgewerkschaften eindeutig gegen den neu gewählten Vorstand aufgestellt.
Dass die Gewerkschaftsführungen und -apparate ihre Augen vor dem Selbstmordkommando GroKo für die Sozialdemokratie verschließen, entspring freilich kaum mangelnder Sorge um ihre Partei. Die Politik der Sozialpartnerschaft und der Klassenzusammenarbeit ist über Jahrzehnte zur politischen Natur dieser Bürokratie geworden, so dass ihnen eine Politik ohne „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit dem Kapital und deren direkten politischen Vertretungen als Unding, Unsinn, ja als Unmöglichkeit erscheint. So wie selbst SPD-Linke wie Kühnert im Falle eines Koalitionsbruchs einen „Kontrollverlust“ in Rechnung stellen, so erscheint der Gewerkschaftsbürokratie – von den sozialdemokratischen ParlamentarierInnen ganz zu schweigen – Einfluss nur über Kabinette, Institutionen und sozialpartnerschaftliche Gremien möglich.
Allen, die sich von dieser Denke nicht einseifen lassen wollen, soll außerdem die mögliche Verantwortung für Niederlagen bei Neuwahlen und für das Zerbrechen der Partei in die Schuhe geschoben werden.
Seit der Wahlentscheidung werden alle nicht müde zu erwähnen, dass die SPD ja „eine Partei“ sei und alle zusammen weitergehen wollten und müssten. Diese Floskeln sind zum einen ein gutes Anzeichen für den Kampf, der hinter den Kulissen stattfindet. Schließlich kann sich der Regierungsflügel nicht sicher sein, am Parteitag überhaupt eine Abstimmung zu gewinnen. Schließlich war schon 2017 die Entscheidung für die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen knapper als beim Mitgliederentscheid.
Zum anderen gebrauchen gerade der rechte Flügel, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion das Gerede von der Einheit demagogisch, ja stellen es auf den Kopf. Würden der Parteitag oder die neuen Vorsitzenden einen Bruch der Koalition betreiben, so würde sie das womöglich aus der Partei drängen. Einige HinterbänklerInnen, womöglich gar die Mehrheit der Parlamentsfraktion könnte sich gar weigern, die GroKo zu beenden. Mit anderen Worten, der rechte Flügel droht unter der Hand mit Bruch von etwaigen „harten“ Parteitagbeschlüssen – und stellt es so dar, als wären solche Mehrheitsbeschlüsse unzumutbare Gewalttaten gegen das großkoalitionäre „Gewissen“. Es ist zu befürchten, dass sich Walter-Borjans/Esken und ihre UnterstützerInnen auf solche Erpessungsmethoden einlassen – damit würden sie aber nicht nur einen weiteren Zerfall der SPD, sondern auch den Anfang vom Ende ihres eigenen Parteivorsitzes vorbereiten.
Nachdem AKK „ihren“ Parteitag überstanden hat, will sie ihrerseits den neuen Vorstand der SPD unter Druck setzen. Wenn die GroKo in Gefahr sei, gäbe es keine Grundrente – das zeigt zum einen, wie egal Altersarmut real in Deutschland ist. Der Wirtschaftsrat der Union hat selbst schon abgeschlossen mit der Koalition und legt nach – die ganzen „Geschenke“ an die SPD wie die Grundrente bspw. hätten schließlich nichts gebracht. Die Botschaft an den SPD-Parteitag ist klar: Entweder ihr nehmt die Krumen vom Koalitionstisch oder ihr kriegt gar nichts!
Diese Drohung sollte eigentlich alle verzagten und halb-entmündigten SPD-Delegierten und Aktiven ermuntern, zumindest sich eben nicht erpressen zu lassen. Auf deren „Festigkeit“ sollte sich freilich keiner verlassen.
Die Wahl von Esken und Walter-Borjans hat immerhin gezeigt, dass es noch ein gewisses politisches Potenzial gibt. Die 114.995 Stimmen waren solche für einen Bruch mit GroKo und der Agenda-Politik, eine Fortsetzung der No-GroKo-Stimmung in Teilen der Partei. Jetzt stellt sich die Frage, ob sich diese anti-neoliberale reformistische Strömung formiert und tatsächlich den Kampf gegen den „Agenda 2010“-Flügel, die RegierungssozialistInnen, die Parlamentsfraktion und den Parteiapparat aufnimmt. Alle wichtigen Bestandteile ihrer „Erneuerung“ hätten das Potenzial, die DGB-Mitgliedschaft, also die organische Verbindung der SPD zur Klasse zu mobilisieren und politisch zu erneuern, gerade auch gegen die dortige bürokratische Führung, den verlängerten Arm der Großen Koalition in die ArbeiterInnenbewegung hinein.
Auch wenn großen Teilen der Linken in Deutschland wenig bis nichts zu dieser Lage einfällt, so kann dies eine zentrale politische Auseinandersetzung werden.
Während die DGB-Spitze vor allem die Koalition und damit ihren vermeintlichen Einfluss auf die Regierung retten will, wäre es doch sehr interessant, was denn eigentlich die sechs Millionen DGB-Mitglieder von den Forderungen und Vorschlägen der neuen SPD-Führung halten. Das Ende der Schuldenbremse als strategisches Ziel für mehr Investitionen in die öffentlichen Güter, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, höhere Besteuerung der Reichen und einen höheren Mindestlohn von 12 Euro wie auch das reale Ende von Hartz IV, all diese „neu“ entdeckten Positionen könnten auch Mittel sein, die Basis der SPD und die Gewerkschaftsmitglieder zu mobilisieren. Auf dieser Grundlage wäre auch eine gemeinsame Aktion aller Kräfte der Linken und der ArbeiterInnenbewegung möglich. Genau diesen Kurs müssten die UnterstützterInnen von Esken/Walter-Borjans einschlagen.
Juso Chef Kühnert hatte an anderer Stelle sogar den stellvertretenden BMW-Betriebsrat daran erinnert, dass sogar die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien in der Gewerkschaftssatzung stehe. Hier kam sogar etwas „Corbynismus“ zum Vorschein.
Das Forum Demokratische Linke 21 (DL21) um die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, eine Art Pro-Corbyn-Strömung in der SPD, hat dazu aufgerufen, die Partei möge sich hinter dem Vorstand „sammeln“. Doch was heißt das? Hinter welchem Vorstand? Einem, der für einen Bruch mit Scholz und Heil steht, oder einem, der in- und außerhalb der GroKo, Regierung und Opposition gleichzeitig zu sein verspricht?
Nur ersteres würde wirklich einen Schritt vorwärts darstellen. Es würde zugleich heftigsten Widerstand und Hetze nicht nur der bürgerlichen Presse und der Unionsparteien mit sich bringen –es könnte auch zu einem Bruch mit dem rechten Flügel der SPD führen und würde einen politischen Kampf um die Gewerkschaften erfordern. Wie selbst das Beispiel des weit linkeren Corbyn und seiner Massenunterstützung in Labour zeigt, werden sich der rechte Parteiflügel, die strikt sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftsführung durch Kompromisse und Entgegenkommen nicht besänftigen lassen. Sie wird solche allenfalls annehmen, wenn sie sich zu schwach fühlt, die SPD unmittelbar wieder unter ihre Kontrolle zu kriegen.
Die Frage der Großen Koalition spielt dabei eine Schlüsselrolle. Jede Form der Fortsetzung oder auch „ergebnisoffenen Überprüfung“ wird letztlich den Rechten und RegierungssozialistInnen in die Hände spielen. Daher sollten die linken, gegen die Fortsetzung der Großen Koalition eingestellten Delegierten zum Parteitag jedes Rumeiern um die Koalitionsfrage ablehnen und die GroKo offen zu Grabe tragen. Damit hätten sie – nach Jahren der Unterordnung unter Kapital und Unionsparteien – etwas Positives für die ArbeiterInnenklasse getan.