Kuno Benz, Frederik Haber, Infomail 1051, 16. April 2019
Nach vielen Warnstreiks und Aktionen der Beschäftigten der nordwestdeutschen Stahlindustrie und etlichen, zähen Verhandlungsrunden gab es nun am 16. März einen Abschluss, der schließlich auch im Saarland mit einer 2-monatigen tariflichen Verschiebung übernommen wurde. Aber: Kann dieser Abschluss als Erfolg gewertet werden?
Viele Beschäftigte sind unzufrieden. Selbst in der Tarifkommission regte sich Unmut, vor allem aus den norddeutschen Betrieben. Aber die Dominanz der VertreterInnen von Thyssen-Krupp in der Tarifkommission sorgte für ein eindeutiges Ergebnis. Offensichtlich waren die führenden Kräfte aus diesem Konzern genauso zufrieden mit dem Abschluss wie der IG Metall-Vorstand. Haben die SpitzengewerkschafterInnen wegen der aufziehenden Krisenwolken die Bremse reingehauen oder hatten sie zu Beginn der Tarifrunde zu laut geklappert?
„Wir wollen von dem dicken Kuchen, der auf dem Tisch liegt, dieses Mal ein gutes Stück abhaben“ tönte noch im Februar Duisburgs IG-Metall-Chef Dieter Lieske. „Nach den zum Teil hausgemachten Krisen der vergangenen Jahre, die wir als Arbeitnehmer zu einem guten Teil aufgefangen haben, hat die Stahlbranche im vergangenen Jahr wieder richtig gutes Geld verdient.“ Bei den Stahlpreisen in den vergangenen zwölf Monaten hätten die Arbeit„geber“Innen das Geld nur noch mit der Schneeschaufel in die Garagen schubsen müssen.
Unmittelbar nach dem Abschluss werteten beide Seiten die Einigung als „schwierigen, aber vertretbaren“ Kompromiss. „Wir haben in den letzten drei Monaten und auch in den letzten 16 Stunden hart miteinander gerungen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen“, betonte IG Metall-Verhandlungsführer Knut Giesler. „Gerade die unteren Entgeltgruppen profitieren besonders von den 1.000 Euro zusätzlicher tariflicher Vergütung.“ Damit habe der Vertrag eine starke soziale Komponente. Und mit den Regelungen für mehr freie Tage in der Stahlbranche setze die IG Metall ihre arbeitszeitpolitische Offensive fort. Nach dem Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie sei ihr in einer weiteren großen Branche ein Durchbruch für mehr Arbeitszeitsouveränität gelungen. „Damit tragen wir dem Wunsch der Beschäftigten nach mehr Selbstbestimmung, Entlastung und mehr Freiräumen für das Private Rechnung“, sagte Giesler.
Die IG Metall ist also mehr als zufrieden mit dem Abschluss.
Und die Arbeit„geber“Innen? Sie stöhnen zwar ein wenig – jedoch mehr über die Tarifrunde als solche denn über das Ergebnis: „Diese Tarifrunde war außergewöhnlich komplex und wurde dementsprechend intensiv geführt. Insbesondere die Forderung nach einem in Freizeit umwandelbaren Zusatzentgelt hat uns vor eine Zerreißprobe gestellt“, erklärte auch Christian Büttner, Geschäftsführer im Arbeitgeberverband Stahl.
Wie ist aber der Abschluss für uns zu bewerten? Woher kommt der Unmut der Kolleginnen und Kollegen?
Man kann Tariferhöhungen unterschiedlich einschätzen. Auf lange Sicht ist die Erhöhung der Tabellenwerte entscheidend, für den Lebensunterhalt zählt dagegen das Volumen im laufenden Jahr.
Die Tabellenerhöhung von 3,7 % klingt ordentlich, ist aber die einzige Erhöhung der Entgeltgruppen während der gesamten Laufzeit von 26 Monaten. Dazu kommt dann noch das „zusätzliche Urlaubsgeld“ in Höhe von 1.000 Euro ab dem Jahr 2020. Dieses ist tarifdynamisch, soll also bei den nächsten Tariferhöhungen steigen. Immerhin bedeuten diese 1.000 Euro eine Sockelerhöhung, die in der Vergangenheit, wenn eine solche Forderung aus den Vertrauenskörpern kam, von der IG Metall-Führung heftig bekämpft wurde.
Die 1.000 Euro entsprechen einer Tariferhöhung von etwa 1,5 % (geschätzter Mittelwert), wenn man 13,2 Monatsentgelte zugrunde legt. Zusammen ergibt sich also eine Erhöhung der Tarifentgelte von 3,7 % + 1,5 %, also 5,2 % über 26 Monate oder 2,4 % auf 1 Jahr gerechnet – denn die Preissteigerungsraten sind auch immer auf 1 Jahr gerechnet. Und dann sieht der Abschluss also alles andere als üppig aus!
Die Tariferhöhung von 3,7 % gilt ja erst ab 1. März. Zuvor gibt es 100 Euro für Januar und Februar. Wenn man also das Volumen ab dem Zeitpunkt der Laufzeit – also ab 1. März 2019 – rechnet, dann erhöhen 3,7 % in zehn Monaten das Jahreseinkommen nur um rund 3,1 %, zu denen dann noch 100 Euro Einmalbetrag kommen.
Die gleiche Betrachtung findet dann 2020 nochmals statt, wenn das zusätzliche Urlaubsgeld die einzige Tariferhöhung sein wird – je nach Entgelt im Mittel rund 1,5 %. Und 2021 startet aufgrund der Laufzeit des Tarifvertrags mit zwei Null-Monaten.
Anders als in der Metall- und Elektroindustrie forderte die IG Metall keine „verkürzte Vollzeit“ oder „tarifliches Zusatzgeld“ (T-ZUG), sondern mehr Urlaub. Immerhin wurde dann das Ergebnis auch längst nicht so kompliziert – und auch nicht an bestimmte Beschäftigungsgruppen bzw. Voraussetzungen gekoppelt.
Als Ergebnis kann jede(r) Beschäftigte ab 2020 das zusätzliche Urlaubsgeld in bis zu 5 freie Tage umwandeln – allerdings ist der Anspruch je nach Anzahl der Anträge gedeckelt. Für die Arbeit„geber“Innen ist das Ergebnis zunächst „kostenneutral“ – dafür kostet einen Beschäftigten jeder freie Tag 200 Euro.
Eine genaue Betrachtung des Ergebnisses lässt wenig von der Begeisterung übrig, die die Verlautbarungen der IG Metall, aber auch manche BetriebsrätInnen und Vertrauensleute verbreiten. Die Erhöhung der Tariftabellen um rund 2,4 % auf 12 Monate gerechnet ist nicht der große Erfolg. Das gleicht kaum die Preissteigerungen aus. Der Produktionsfortschritt geht weiter überwiegend in die Kassen des Kapitals.
Die maximal 5 Tage zusätzlicher Urlaub sind durchaus etwas, was vielen nützt, den zunehmenden Arbeitsstress oder private Belastungen zu bestehen – so es für sie finanziell verkraftbar ist. Wie weit diese Möglichkeit tatsächlich genutzt wird, bleibt abzuwarten.
Die Regelung verliert bei der Umwandlung in Urlaub übrigens ihre „soziale Komponente“: Der zusätzliche Urlaubstag ist für alle Entgeltgruppen der gleiche! Wenn er freiwillig genommen wird, ist das dennoch okay. Nicht aber, wenn aus dieser Urlaubs-Flatrate per Betriebsvereinbarung ein Zwang werden würde. In etlichen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie, so bei Ford, Opel, Audi, wird die Umwandlung der dort „tarifliches Zusatzgeld (T-ZUG)“ genannten Komponente schon als Kurzarbeitsinstrument (ohne KurzarbeiterInnengeld) genutzt.
Betrachtet man jedoch, was eigentlich tarifpolitisch nötig wäre, sieht der Abschluss schlecht aus. Der zunehmende Arbeitsdruck; bevorstehende Angriffe auf Arbeitsplätze und Standorte; massive Arbeitsplatzverluste durch E-Mobilität, Digitalisierung und Industrie 4.0; die Ausdifferenzierung der Belegschaften in überausgebeutete LeiharbeiterInnen und Ausgegliederte einerseits und tarifliche Stammbelegschaften andererseits – all das wurde schon im Vorfeld bei der Debatte um die Aufstellung der Forderungen ausgeblendet. In der betrieblichen Wirklichkeit bestimmt dies viel mehr das Arbeiten und das gewerkschaftliche Handeln als individuell einige Urlaubstage mehr oder weniger. Bei einer Gesamtbewertung des Abschlusses muss dies die Perspektive sein.
Als Mittel gegen die schon bestehenden und drohenden weiteren Arbeitsplatzverluste hätte die Forderung nach einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung erhoben werden müssen. Die Arbeitsproduktivität ist in den letzten Jahren gestiegen, so dass mit weniger KollegInnen in der gleichen Zeit mehr produziert werden kann. Von daher wäre es möglich und auch nötig gewesen, eine kollektive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich zu fordern. Natürlich hätte man das mit der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Abmilderung von Arbeitsdruck vor allem bei Schichtarbeit verbinden müssen. Kollektive Arbeitszeitverkürzung ist aber das einzige Mittel, um dem drohenden Arbeitsplatzabbau auf gewerkschaftlicher Ebene etwas entgegenzusetzen.
Dass dies bei Aufstellung der Forderungen nicht diskutiert werden konnte, zeigt auch, wie wenig die KollegInnen in den Betrieben darüber in einer Tarifrunde entscheiden können. Und das Ergebnis zeigt auch, dass trotz des Kampfwillens, den viele in der Warnstreikrunde gezeigt haben, die IG Metall-Führung nicht geneigt ist, die ganze Kampfkraft durch unbefristete Streiks in die Waagschale zu werfen. Ihr ist ein Ergebnis, das die UnternehmerInnen nicht zu viel kostet, wichtiger, als die Arbeitenden vor Arbeitsdruck, Arbeitsplatzverlust und prekärer Beschäftigung zu schützen. Dieses Ergebnis reiht sich ein in die Tarifpolitik der letzten Jahre: Die Kampfkraft der Lohnabhängigen wird nicht ausgeschöpft, damit „Deutschland“ weiter Exportweltmeister bleibt. Auch die lange Laufzeit von 26 Monaten gibt den UnternehmerInnen Planungssicherheit, wie VertreterInnen der Unternehmerverbände ganz unverhohlen loben. Sie ist auch ein Geschenk für die Bundesregierung von Seiten der (un)heimlichen MitkoalitionärInnen im IG Metall-Apparat an ihre ParteifreundInnen von der Koalitionspartnerin SPD.
Auch der Kampf um die 35-Stundenwoche im Osten – eine Angleichung, die schon vor etlichen Jahren am Widerstand der westdeutschen BetriebsratsfürstInnen in der Automobilindustrie scheiterte – wird mit diesem Abschluss und der darauf folgenden Friedenspflicht untergraben. Von der IG Metall ist dazu nur zu hören, dass sie Vereinbarungen aushandeln wolle. Wie sollen hier Vereinbarungen auf reinem Verhandlungsweg erzielt werden, wenn die UnternehmerInnen schon jetzt sagen, alles solle im Osten so bleiben, weil die Produktivität dort nach wie vor geringer sei als im Westen. Eine Angleichung der Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden wie im Westen wird von den Arbeit„geber“Innen weiterhin abgelehnt.
Die IG Metall will sie zumindest dazu bringen, mit ihr zu verhandeln. „Wir sind mit den Arbeitgebern in Ostdeutschland bereits im Gespräch“, sagt Bernd Kruppa, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Leipzig. Doch die Arbeit„geber“Innen rühren bereits Beton an: „Der Osten braucht diesen Wettbewerbsvorteil weiterhin. Die längere Arbeitszeit muss bleiben“, stärkt Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger den HardlinerInnen in Sachsen den Rücken.
Die ArbeiterInnen brauchen die Kontrolle über ihren Kampf von Anfang an – von Aufstellung der Forderungen, über die Durchführung, wo, wann und wie lange gestreikt wird, bis zum Abschluss der Verhandlungen. Es darf kein Übereinkommen geben, ohne dass die Beschäftigten in den Betrieben über die genauen Bedingungen des Tarifvertrags auf Betriebsversammlungen und mit Aushängen eingehend informiert wurden und in einer Urabstimmung darüber entschieden haben.
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Ich reise ein Jahr durch Südamerika und versuche in dieser Zeit viel über die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch die Landschaften zu lernen und möchte euch gerne daran teilhaben lassen