Susanne Kühn, Neue Internationale 239, Juli/August 2019
Am 14. Juni beteiligten sich rund eine halbe Million Menschen am Frauen*streik. In allen größeren Städten, aber auch in politisch und gewerkschaftlich schlecht organisierten Teilen des Landes traten Frauen, vor allem solche, die im Care-Sektor arbeiten oder in Ausbildung stehen, in den Ausstand. An zahlreichen Orten begannen die Streiks und Aktionen am Morgen und verbreiteten sich im Laufe des Tages. Lt. Schweizer Gewerkschaftsbund nahmen bereits am Vormittag des 14. Juni rund 100.000 am Streik teil.
Um 15:24 Uhr – einem der zentralen Momente der Aktion – verließen im ganzen Land Hunderttausende Frauen ihren Arbeitsplatz oder legten ihre „private“ Sorgearbeit nieder. In allen größeren und zahlreichen kleineren Städten formierten sich Demonstrationen – die größte in Zürich, wo über 160.000 Menschen, in ihrer großen Mehrzahl Frauen, auf die Straße gingen – eine der größten Kundgebungen in der Geschichte der Stadt! In Städten wie Basel waren 40.000 Menschen, also mehr als 20 % der Bevölkerung auf der Straße.
Der Frauen*streik stellt schon allein aufgrund seiner Größe ein historisches Ereignis dar. Die Schweizer Bevölkerung zählt rund 8,5 Millionen Menschen. Somit beteiligten sich 17 % der EinwohnerInnen an der Aktion (was in Deutschland rund 14 Millionen entsprechen würde)!
Der Frauen*streik reihte sich bewusst in die Internationalen Frauenstreiks ein, an denen sich auch 2019 Millionen beteiligten. Dass er in der Schweiz nicht am 8. März, sondern am 14. Juni stattfand, erklärt sich aus der Geschichte des Kampfes um Gleichberechtigung. 1991 fand ein erster, ebenfalls rund eine halbe Million zählender Frauenstreik statt, der vom Schweizer Gewerkschaftsbund organisiert und geführt wurde, um die konsequente Umsetzung des 1981 beschlossenen Gleichbehandlungsgesetzes zu fordern.
Viele der damals aufgestellten Ziele nach Gleichbehandlung, gleichen Einkommen, Löhnen und Arbeitsbedingungen, gegen sexistische Belästigung und sexuelle Gewalt sind bis heute nicht erfüllt und finden sich auch in den Manifesten, Aufrufen und Forderungskatalogen zum Frauen*streik 2019 wieder. Besonders betroffen davon sind mehrfach unterdrückte und entrechtete migrantische Frauen, die noch dazu ähnlich wie sexuell Unterdrückte eine bevorzugte Zielscheibe des Schweizer Rechtspopulismus, der „Schweizer Volkspartei“ (SVP) bilden. Der Kampftag stand daher nicht nur im Zeichen des Schulterschlusses mit der neuen globalen Frauenbewegung, sondern auch mit den migrantischen Frauen, deren unbeschränktes Bleiberecht, volle rechtliche und soziale Gleichstellung gefordert wurden.
Die Ursache für den historischen Erfolg des Frauen*streiks ist vor allem darin zu finden, dass er von lohnabhängigen, proletarischen Frauen getragen und organisiert wurde. Die „Frauenfrage“ trat, wenn auch nicht voll bewusst, als Klassenfrage zutage und als eine, die untrennbar mit dem Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus verbunden ist.
Wie 1991 und anders als bei den letzten Frauenstreiks in Deutschland spielten die Gewerkschaften – vor allem im öffentlichen Dienst und im Gesundheitssektor (z. B. die „Gewerkschaft im Service public“) – eine Schlüsselrolle für die Mobilisierung. Auch im industriellen und privatwirtschaftlichen Sektor vertretene Verbände wie Unia organisierten aktiv z. B. den Streik der Reinigungsfrauen bei A&M Duraes Reinigung + Hauswartung GmbH in Luzern.
Anders als 1991 wurde der Streik jedoch weniger von oben dirigiert. Vielmehr bildeten sich in zahlreichen Betrieben und Dienststellen seit Monaten Basisstrukturen, die den Kampf führten und organisierten. Diese wurden von Frauen getragen, bezogen aber auch Männer oder, wie z. B. in Kitas, Eltern als UnterstützerInnen ein.
Die wichtige Rolle betrieblicher und gewerkschaftlicher Strukturen bedeutete jedoch keine Verengung auf rein ökonomische Themen. Die Forderungen nach gesellschaftlicher Einrichtung und Finanzierung von Kinderbetreuung, sozialen Leistungen …, die ansonsten auf Frauen abgewälzt werden, bildeten einen über rein betriebliche Fragen hinausgehenden weiteren Schwerpunkt.
Einen dritten stellte das Verlangen nach Schutz vor und Kampf gegen Sexismus, Gewalt gegen Frauen und LGBTIA+-Menschen und für sexuelle Selbstbestimmung dar. Schließlich machen antirassistische und internationalistische Losungen einen vierten Hauptpunkt der Ziele des Frauen*streiks aus. Einen Überblick über Forderungen, Manifeste und Argumente der Bewegung liefert die Seite des Frauen*streiks unter: https://www.14juni.ch/argumente/
Lohnabhängige Frauen stellten zweifellos die Hauptkraft des Streiks, auf dessen Demonstrationen antikapitalistische, antipatriarchale und antirassistische Parolen stark vertreten waren.
Der historische Frauen*streik verweist wie die internationalen Mobilisierungen zum 8. März in den letzten Jahren auf die Entstehung einer neuen proletarischen Frauenbewegung – mag diese heute auch noch von kleinbürgerlich-feministischen Ideologien, Formen der Identitätspolitik oder auch von reformistischen Apparaten der Gewerkschaftsbürokratie dominiert sein.
Für Hunderttausende, die sich am Kampftag beteiligten, und erst recht für die vielen AktivistInnen war schon vor dem Streik klar, dass dieser nicht das Ende, sondern nur ein erster Höhepunkt der Bewegung sein soll. In diesen Tagen und den kommenden Wochen und Monaten sind Auswertungstreffen und Versammlungen geplant, die die Perspektiven, Aufgaben und nächsten Schritte der Bewegung diskutieren und festlegen sollen.
Das kann den Grundstein nicht nur zu einer starken Frauenbewegung der Schweiz legen, sondern auch einen mächtigen, weit über das Land hinausgehenden Impuls liefern. Gerade hinsichtlich der betrieblichen und gewerkschaftlichen Verankerung der Bewegung können wir in Deutschland viel von den AktivistInnen und GenossInnen lernen.
Vielerorts wurde der Streik mit anderen Themen – Kampf gegen Rassismus, Rechtspopulismus, internationale Solidarität – verbunden und auch die Systemfrage aufgeworfen. Dies verweist auf das Potential nicht nur des Frauen*streiks, sondern auch auf die Rolle, die eine neue Frauenbewegung für die Erneuerung der ArbeiterInnenbewegung spielen kann. Zahlreiche Aktivistinnen gehören außerdem Strömungen der radikalen Linken oder dem linken Flügel der Gewerkschaften an, viele engagieren sich in antirassistischen Kämpfen oder in Bewegungen wie Fridays for Future.
Für diese stellt sich auch die Frage, wie und auf welcher programmatischen Grundlage eine politische Kraft, eine neue revolutionäre ArbeiterInnenpartei in der Schweiz und international aufgebaut werden kann. Die neue Frauenbefreiung kann so auch zu einem mächtigen Impuls für die Revolutionierung der ArbeiterInnenbewegung werden, für die Verbindung des Kampfs gegen jede Form der Unterdrückung mit dem für eine sozialistische Revolution.