Arbeiter:innenmacht

Zur Bewertung des China-Booms

Peter Main, Revolutionärer Marxismus 39, August 2008

Im Artikel „Von Mao zum Markt“ stellte Peter Main Entwicklungen dar, die sich in der chinesischen Wirtschaft mit der Einführung des Kapitalismus vollzogen haben. Im folgenden Beitrag betrachtet er einige Einschätzungen des Ausmaßes des Wachstums von Chinas Ökonomie. Gegenwärtig bewegt sich die US-Wirtschaft auf eine Rezession zu. Welche Resonanz kann das in China hervorrufen? Es deutet viel darauf hin, dass China demnächst mit schrumpfenden Exportmärkten konfrontiert ist – gerade dann, wenn sein Binnenzyklus den Höhepunkt erreicht hat.

Die Aussicht auf eine Konjunkturkrise in den USA hat die Aufmerksamkeit auf deren Auswirkungen auf den Rest der Welt gelenkt. Als weltweit größte Nationalökonomie werden die USA oft als „Lokomotive der Weltwirtschaft“ bezeichnet, aber niemand bezweifelt, dass dieser Motor zur Aufrechterhaltung seines Tempos in den letzten Jahren mehr und mehr auf China angewiesen war. Jahrelang haben die Globalisierungsprotagonisten auf die zunehmende Abhängigkeit der chinesischen und US-Wirtschaften voneinander verwiesen – als Beweis für beiderseitige Gewinne, für Leistungsfähigkeit und Dynamik des Kapitalismus. Das wurde als Beweis dafür genommen, dass der globale Kapitalismus soziale und ökonomische Wohltaten in Süden und Osten verbreiten könne. Kurz, billige Arbeitskraft innerhalb Chinas versorgte die USA mit preiswerten Konsumgütern. Zusammen mit chinesischen Aufkäufen von US-Staatsanleihen trug das zu einem mächtigen deflationären Druck bei, der das Zinsniveau in den USA niedrig hielt. Günstige Kredite stimulierten Ausgaben, welche die US-Ökonomie auf Wachstumskurs hielten. Auf internationaler Ebene erzeugte Chinas Industrie-Boom eine florierende Nachfrage nach Energie, Rohstoffen und Lebensmitteln. So wandelte sich China zu einer Ikone für die Vitalität des Kapitalismus und dessen Ausdehnungskapazitäten.

Auch wenn wir für den Moment die bürgerlichen ideologischen Aspekte dieser Skizze außen vor lassen, so ist doch die gesamte Wirtschaftsanalyse inhärent problematisch. Als Beschreibung der Spannkraft des industriellen Zyklus‘, der in China zur Jahrhundertwende und in den USA 2001 begann, trifft sie zu. Ein Irrtum war aber ihre Annahme, diese Entwicklungsspirale könne unendlich Stabilität und Schwung bewahren – oder wenigstens, so lange Chinas Dörfer ein Reservoir billiger Arbeitskräfte sind.

Jetzt hat die Kreditklemme die US-Wachstumsraten zum Halten gebracht. Die Aufmerksamkeit richtet sich darauf, ob China eine Wirtschaft darstellt, die groß genug ist, den Rest der Welt auch ohne dauernd zunehmende Ausfuhren in die USA mitzuziehen. Die das für möglich halten, argumentieren, China habe sich von den USA „entkoppelt“ und könne v. a. auf Grundlage seiner Binnenentwicklung voranstürmen.

Diese These kann man nicht ohne nähere Betrachtung von der Hand weisen. Obwohl die Erzeugung für den Außenmarkt zweifellos einen wichtigen Faktor in Chinas wirtschaftlichem Vorankommen gewesen ist, war sie doch nie bestimmend. Nach der Aufnahme in die WTO und dem folgenden Boom, beläuft sie sich auf ca. 40% vom Bruttoinlandsprodukt (BIP); neuerdings trägt die steigende Binnennachfrage mehr zum Anwachsen des BIP bei (1). Mehr noch: Die USA sind nicht mehr die Nummer eins für Chinas Exporte. Ihr Anteil beträgt 21% verglichen mit 23% in die EU. Bei einer Bevölkerung von 1,35 Milliarden, mehr als 100 Städten über 500.000 Einwohnern, einer Arbeiterschaft von etwa 350 Millionen und jährlichen Investitionen in Fixkapitalanlagen, die sich auf mehr als 45% des BIP (2) belaufen – Infrastruktur und Produktionskapazitäten im weitesten Sinn – wird klar, dass ein Rückgang der US-Importe keinesfalls automatisch zum Stillstand der Räder der chinesischen Industrie führen würde.

Das soll aber nicht heißen, dass eine US-Konjunkturkrise überhaupt keine Auswirkung auf China hätte. Mitte Januar 2008 wurde deutlich, dass bedeutende Finanzinstitute wie Merrill Lynch überzeugt waren, dass die USA nicht nur vor einer Rezession stünden, sondern bereits hineingeraten wären. Die dramatischen Abstürze der Aktienmärkte Schanghais, Schenzhens und Hong Kongs auch drücken aus, dass die Hauptakteure auf diesen Märkten besorgt sind über deren Konsequenzen einer US-Rezession. Die Weltbank hat eine Rechnung aufgemacht, nach der Chinas BIP-Anstieg um 0,5 Prozentpunkte für jede Minderung des US-Verbrauchs um ein Prozent nachlassen könne (3). Das mag vor dem Hintergrund eines BIP-Wachstums um 11,4% im letzten Jahr nicht allzu bedeutend aussehen. Aber es hieße, dass ein Einbruch der US-Verbraucherausgaben um 10% tatsächlich Chinas aktuelle Wachstumsraten halbieren würde – für jede Wirtschaft ein beträchtlicher Schock!

Zusätzlich verkörpert der Handel mit Konsumgütern keineswegs das volle Ausmaß von Chinas Engagement auf dem Weltmarkt. Seit kurzem sind Kapitalgüter ein immer wichtigerer Ausfuhrbestandteil geworden. Ein Investitionsrückgang in Industrieausrüstungen der USA würde den Einfluss auf Chinas Produktion verschärfen. Zusätzlich sind Chinas Finanzhäuser wegen ihrer eigenen Anlagen in den USA nicht immun gegen die Auswirkungen der Finanz-Krise. Wir können erwarten, dass eine Talfahrt der US-Konjunktur auch ihren Niederschlag in der EU-Wirtschaft haben wird, folglich auch Chinas Ausfuhren in diese Richtung schmälern dürfte. Zuletzt sollten wir nicht vergessen: Chinas Export steht ein nahezu gleich großer Import gegenüber, der Rohstoffe, Halbfertigprodukte, Energie und Lebensmittel weltweit absorbiert. Jedes Einschnüren des chinesischen Außenhandels erzeugte deshalb sofort ein Echo in den Volkswirtschaften anderer Länder.

Der Augenschein stützt summa summarum also nicht die „Entkopplungsthese,“ wenn diese so aufgefasst wird, als ob eine Abkühlung der US-Ökonomie höchstens einen vernachlässigbaren Effekt auf Chinas anhaltendes Wirtschaftswachstum hätte. Das behandelt die Frage nach den Aussichten für China in kurzer bis mittlerer Frist nicht erschöpfend und ignoriert die Dynamik von Chinas „Binnenökonomie,“ Selbst wenn der Abschwung des Ausfuhrhandels mehrere Prozentpunkte vom BIP-Anstieg kostete – könnte das durch andauernde Ausdehnung des einheimischen Marktes (über)kompensiert werden? Würde es ausreichen, China zu gestatten, die Rolle als Zugpferd der Weltwirtschaft zu übernehmen?

Allein die Tatsache, dass diese Frage nun gestellt werden kann, zeigt die Umwälzung, die in den vergangenen drei Jahrzehnten in China stattgefunden hat. Angesichts der letztjährigen Schätzung des IWF, der das totale chinesische BIP auf $11,6 Billionen im Vergleich zu $13,5 Bio. der US-Wirtschaft auf Grundlage von Kaufkraftparitäten (PPP) hochrechnete, mag die Annahme nicht unvernünftig erscheinen, China sei gerade dabei, die USA zu überholen, auch ohne Rezession. Ein solches Argument ist jedoch übertrieben und dient den ideologischen Interessen der Globalisierungsbefürworter.

Wenn wir die inneren Schranken des BIP als Maßstab für die produktive Kapazität der Wirtschaft (4) außer Acht lassen, wollen wir hier die Kaufkraftparitäten heranzuziehen, um die BIPs von Ländern zu vergleichen, die sehr verschiedene Entwicklungsniveaus aufweisen. Offensichtlich hängt das Ergebnis der Anwendung von der PPP vom benutzten Multiplikator für die Konvertierung eines auf Wechselkursen ermittelten BIP ab.

Für China ist der gebräuchlichste Konversionsfaktor der vom IWF in oben erwähnter Kalkulation benutzte und von der Weltbank entlehnte: das 4,5fache des BIP zu im Wechselkurs geschätzten Marktpreisen. Doch im Dezember 2007 reduzierte die Weltbank diesen Multiplikator auf Grundlage der vom Internationalen Vergleichsprojekt (ICP) strenger errechneten Preise und Einkommen um beinahe 50% auf 2,3 und kalkulierte demzufolge Chinas BIP für 2005, das sich auf $2,24 Billionen zum offiziellen Wechselkurs belief, neu auf $5,33 Billionen statt der vorher vermuteten $8,88 Billionen.

Mit dem neuen Multiplikator belaufen sich die Schätzungen für 2007 auf 7,04 statt 11,6 Billionen Dollar – nicht viel mehr als 50% der Größe der US-Wirtschaft, die bei etwa $13,5 Billionen liegt. Im globalen Maßstab wird China jetzt 9,7% des weltweiten BIP zugerechnet statt 14,5% (5). Doch weil ein so großer Anteil der chinesischen Wirtschaft auf Exporte ausgerichtet ist, die offensichtlich zu Weltmarktpreisen gehandelt werden, wird diese Rechnung wahrscheinlich immer noch den Wirtschaftsumfang überschätzen.

Tatsächlich ist der Faktor der Weltbank vor längerer Zeit in Frage gestellt worden durch eine 1999 von Chinas Amt für Statistik durchgeführte Untersuchung. Diese schlug einen Multiplikator von 2 vor, sehr ähnlich der Endziffer des ICP (6). Zur damaligen Zeit waren die meisten westlichen Ökonomen, akademische wie staatliche, eifrig bemüht, die chinesische Wirtschaft größer zu rechnen. Es sollte im Hinterkopf behalten werden, dass die BIP-Zahl selbst auf chinesischen Regierungsstatistiken beruht, statt auf Erhebungs- und Übersichtstechniken, die verbreiteter sind.

Natürlich torpediert dieses stark gestutzte Schätzvolumen der vergleichbaren Größe der chinesischen Volkswirtschaft sofort die Vorstellung, sie sei nahe daran, die USA an Gesamtgröße zu überholen oder sie könne dieselbe Lokomotivrolle innerhalb der globalen Ökonomie spielen. Die Kaufkraftparitätszahlen wurden bei der Kalkulation einer sehr berühmten Statistik zugrunde gelegt, die zeigen sollte, wie wohltuend die kapitalistische Restauration in der VR China gewesen ist, 200 Mio. Bauern aus der Armut zu helfen. Diese Zahl – auf Grundlage chinesischer Regierungsstatistiken errechnet-, verweist darauf, dass 1978 250 Mio. Menschen unter der „Armutsgrenze“ lebten, 2003 aber nur noch 29 Millionen. Die „Armutsgrenze“ wurde definiert als Äquivalent von 67 US-Cent, indem der WB-Multiplikator von 4,5 auf die aktuelle Tageseinkunft in Yüan angewandt wurde (7).

Dazu müssen zwei Anmerkungen gemacht werden. 1978 waren Armut und Hunger in China weit verbreitet. Tatsächlich war die Armut der Anstoß für die Bauern der Provinz Anhui, aus dem Kommunesystem auszuscheren und 1977 die Landwirtschaft auf Familien-Basis wieder einzuführen. Das führte unmittelbar zu gesteigerten Erträgen; wahrscheinlich war dies der wesentliche Eindruck auf Deng Hsiao Ping, im folgenden Jahr Landwirtschafts„reformen“ einzuführen. Trotzdem ist es wenig schlüssig, dass ein Armutskriterium, das auf Geldeinkommen basiert, rückwirkend auf eine Bevölkerung Anwendung findet, bei der Geldtransfers nicht die Norm waren. Sicher war das bäuerliche Geldeinkommen damals extrem niedrig. Sie mussten aber für eine Reihe von Dingen nichts bezahlen, die jetzt zur Ware geworden sind.

Zweitens und noch bedeutsamer: die Armutsbestimmung der chinesischen Regierung unterscheidet sich von der weithin verwendeten UN-Definition von einem Dollar pro Tag. Mit diesem Kriterium und dem neuen PPP-Multiplikator erhalten wir die verblüffende Menge von insgesamt 300 Mio. ChinesInnen, die unterhalb dieser „internationalen Armutsschwelle“ leben – also in absoluter Armut. Geht es nach der Weltbank, handelt es sich um eine Übertreibung, weil die Armen auf dem Lande konzentriert sind, wo niedrigere Preise herrschen. In ihrem ersten Kommentar zu den neuen Zahlen schätzte sie 2004 die Ziffer auf annähernd 15% der Bevölkerung, etwa 195 Millionen (8).

Die Entfaltung des chinesischen Kapitalismus war nicht nur eine Quelle materieller Vorteile erster Güte für die imperialistischen Mächte, sondern auch ideologischer Vorteile. Typischerweise wird die Restauration so dargestellt: sie hat für Jahrzehnte stetigen Wachstums gesorgt. Der OECD-Bericht für 2005 über China redet z.B. von „9,5% jährlich über die letzten 20 Jahre“ (9). Ob ausdrücklich oder nicht, der chinesische Wirtschaftsaufschwung wird mit einem Land verglichen, das der „Kommunismus“ in tiefste Armut gestoßen und international zu einem Aussätzigen gemacht habe. Gewiss, es ist keine Frage, dass es eine enorme Wirtschaftsentwicklung in der VR China gegeben und die Weltmarktintegration bedeutend dazu beigetragen hat – ein Beweis, wenn noch einer benötigt würde, für den vollständigen Bankrott der stalinistischen Strategie des Aufbaus des „Sozialismus in einem Land“. Nichtsdestotrotz müssen wir hinter die ideologische Fassade schauen, um ein klareres Verständnis des Inhalts dieses Wachstums und seiner sozialen und politischen Konsequenzen zu erlangen. Die Tatsache, dass wir über keine alternativen Daten verfügen, kann nicht weggezaubert werden, sondern macht es noch wichtiger, ihre institutionelle und ideologische Herkunft zu bedenken.

Bezüglich des Verständnisses für ein sich prozentual am BIP messendes Wachstum ist es besonders wichtig, an zwei miteinander zusammenhängende Aspekte zu denken. Erstens: der Ausgangspunkt für Statistiken aus dem China vor den Reformen von 1978 kann nicht mit solchen Begriffen ermittelt werden. Vergleichbare Zahlen existieren nicht, obwohl Ökonomen versucht haben, Äquivalente zu modellieren. Folglich wird die Ermittlung prozentualer Zunahme der vorherigen „Größe“ der Ökonomie besonders in den frühen Jahren der „Reform“periode unzuverlässig sein.

Zweitens würden die BIP-Ziffern selbst ohne tatsächliche Entwicklung über die Periode ansteigen, weil die Restauration des Kapitalismus ganze Wirtschaftssektoren, die früher entweder mittels bürokratischer Planung gelenkt waren oder einfach nicht existierten, nun „vermarktet“ sind und alle Produkte in Geld bezahlt werden müssen. So war 1978 die Standardgesundheitsversorgung auf dem Land für Mitglieder der Volkskommunen frei, während in den Städten die „eiserne Reisschale“ für die Bevölkerung freies Wohnen, kostenlose Gesundheitsfürsorge, soziale Dienste und Bildung garantierte, wenn auch auf einem bescheidenen Niveau. Heute werden alle Gesundheitsleistungen gegen Bargeld erbracht und das städtische Wohnungswesen wurde zwischen 1995 und 1998 privatisiert. Zusätzlich zum Niederschlag im BIP, das diese Faktoren beinhaltet, müssen wir die schlagartige Vermehrung von Wirtschaftsprüfern, Rechtsanwälten und Immobilienmaklern berücksichtigen, deren Aktivitäten sich auch im BIP niederschlagen.

Ein weiterer Gesichtspunkt: Chinas Bevölkerung von 1,35 Mrd. wächst jährlich um 1,07% zu (10); allein um diesen Bevölkerungszuwachs zu versorgen, muss das BIP gemäß Berechnungen um 6,5% jährlich steigen. Grob gesagt, das Pro-Kopf-Wachstum muss den Abzug dieser Zahl von den „Titelzahlen“ in Rechnung stellen. Die meist zitierte Titelzahl ist die in der OECD-Übersicht, die 9,5% Jahreswachstum angibt. Solche Zahlen erzeugen den Eindruck kontinuierlicher Ausdehnung, aber das ist höchst irreführend. 1984 erreichte die BIP-Steigerung 15% laut amtlicher Statistik, während sie 1989 und 1990 unter 4% fiel. Zwei Jahre später war sie wieder auf über 14% geschnellt, bevor sie dauerhaft auf wenig unter 8% ab 1999 abnahm (11). Die chinesische Wirtschaft weist also markante Abweichungen der Wachstumsraten auf und die Wiederherstellung des Kapitalismus hat keineswegs eine Periode ausgewogenen und stetigen Wachstums eingeläutet. Im Gegenteil, wir können jetzt erwarten, dass die VR China dem industriellen Kreislauf von Auf und Ab unterliegt, der für alle kapitalistischen Ökonomien charakteristisch ist.

Abseits solcher Betrachtungen und darüber hinaus müssen wir die Gültigkeit der Zahlen selbst in Frage stellen. In anderen Ländern kalkulieren unabhängige Institutionen unter Einsatz von Beobachtungstechniken und Stichproben die Statistiken. In China werden jedoch Zahlen noch von den Ministerien zusammengetragen, die für verschiedene Branchen zuständig sind, ein vom degenerierten Arbeiterstaat geerbtes System. Jonathan Story zeigt, dass die Asiatische Aufbaubank routinemäßig zwei Prozent von Chinas offiziellen Wachstumsraten abzieht (12). Auf einem von der Zeitschrift China Economic Review organisierten Symposium im Dezember 2001 präsentierte Thomas Rawski eine Reihe widersprüchlicher Daten, die er aus chinesischen Statistiken für die Jahre 1997 und 1998 ausgewählt hatte, um ihre Unzuverlässigkeit und die „absichtliche Fälschung wirtschaftlicher Leistungsindikatoren“ (13)  zu illustrieren. Eine Statistik ist ganz offensichtlich auch politischen Erwägungen geschuldet, besonders wenn man bedenkt, dass sie aus dem Jahr des Ostasiencrashs stammt, als es für China extrem wichtig war, den Anschein wirtschaftlicher Stabilität und anhaltenden Fortschritts aufrecht zu erhalten. Zwischen 1997 und 2000 wuchs das BIP den Berichten zufolge um 24,7%, doch der Energieverbrauch, der normalerweise sich grob parallel zum BIP verhält, sank um 12,8%!

Diese Unzuverlässigkeit der amtlichen Statistiken der VR China stellt ein ernstes Problem für das internationale Kapital dar. Potenzielle Investoren müssen mindestens in ihren eigenen Begriffen Bescheid wissen, was gegenwärtig passiert. Mit der Öffnung Chinas wurde es Ökonomen zunehmend leichter, eigene Statistiken zu erstellen. Ein Beispiel dafür bildet das Kompendium Goldmann Sachs „China Activity“ (GSCA) (14). Interessanterweise zeigt ein Vergleich zwischen diesen Zahlen und den offiziellen Wachstumsziffern in den späten 1990ern (4 – 5% für GSCA, 8% amtlich), dass die Asiatische Aufbaubank damals überoptimistisch war in Bezug auf den Ernst der Lage. Die GSCA-Zahlen für 2006 deuten auch auf höhere Wachstumsraten als in der offiziellen Rechnungsführung hin; zu dieser Zeit war Peking zunehmend um die Überhitzung der Volkswirtschaft besorgt.

Tatsächlich hat für Peking seit einigen Jahren die Verlangsamung der Wirtschaftswachstumsraten Priorität. Unkontrolliertes Wachstum droht nicht nur Inflation und eine Verschlechterung der Balance zwischen den Küstenprovinzen und dem Inneren zu bewirken, sondern auch Schutzzollmaßnahmen von Seiten der Haupthandelspartner Chinas heraufzubeschwören, besonders im Jahr der US-Präsidentschaftswahlen. Folglich wurde der Yüan, der vorher praktisch an den Dollar gekoppelt war, seit 2005 um 12% aufgewertet. Zusätzlich wurden Ende 2007 diverse Anreize für den Export wie Steuererleichterungen abgeschafft und einige Einschränkungen auferlegt, z.B. auf Waren, deren Erzeugung einen hohen Energieverbrauch erfordert. Im Inneren wurde das Verhältnis von Bankeinlagen zu Krediten erhöht, um den Geldverleih zu beschneiden.

Trotz solcher Vorschriften wuchs der Handelsüberschuss 2007 auf 262,2 Milliarden Dollar; das BIP legte in diesem Jahr um geschätzte 11,2% zu. In der Folge türmten sich die Devisenreserven, bereits die weltweit größten, auf $1,53 Billion auf (15). Diese enorme Kapitalmasse ist seither selbst eine Quelle der Instabilität. In dem Ausmaß, wie er in die Binnenökonomie ausweicht oder „einsickert“, heizt er die Geldentwertung an. Gleichwohl: würde ein beträchtlicher Anteil international ausgegeben, trüge er zum Fall des Dollars bei und somit der Entwertung der verbliebenen Reserven wie auch von Chinas in Dollar fakturierten Auslandsinvestitionen.

Nach 8 Jahren des aktuellen Zyklus gibt es Anzeichen, dass er seinen Höhepunkt erreicht. Eine Jahreswachstumsrate von 11,4% für 2007 ist höher als die 11,1% von 2006, verdeckt aber einen Niedergang von 11,9% im 2. Quartal auf 11,1% im vierten (16). Das Wachstum hat die Preise importierter Rohstoffe, von Öl und Lebensmitteln hochgetrieben. Zusammen mit der zunehmenden Nachfrage der Städte nach einheimischen Lebensmitteln hat das zu einer amtlichen Inflationsrate von 6,5% geführt (17). Dies ist der höchste Stand seit einem Jahrzehnt und verstärkt den Druck auf die Lebenshaltungskosten der Arbeitskräfte, bei denen Lebensmittelpreise, von denen einige um 50% gestiegen sind, eine sehr große Rolle spielen.

Anfang Januar verfügte die Regierung Preiskontrollen für eine Reihe von Bedarfsgütern wie Nahrungsmittel und Treibstoff mit dem Ziel, diese mögliche Quelle sozialer Unruhe unter Kontrolle zu bringen. Aber während diese Erlasse die Ladenpreise einfrieren mögen, werden die Kosten entweder von den ProduzentInnen einschließlich der schwer geprüften Bauernschaft oder per Regierungssubventionen beglichen werden müssen. Ersteres ließe die Binnennachfrage noch weiter schrumpfen, wo es doch zurzeit drängt, sie zu stimulieren, um die Wirtschaft wieder auszutarieren. Letzteres trüge sowohl zur Geldentwertung bei und entzöge Staatshilfe, die für Investitionen im Inneren gebraucht wird.

Die überstürzten Kurssteigerungen an den Aktienbörsen in Schanghai und Shenzhen – 400% in weniger als zwei Jahren – mögen teilweise durch unerfahrene KleinanlegerInnen verursacht sein (18). Aber die Hoffnung auf spekulative Gewinne signalisiert, dass die Gewinnmargen für Investitionen in Produktivkapazitäten im Schwinden begriffen sind. Sicher ist die dramatische Launenhaftigkeit 2007 ein charakteristisches Zeichen der Nervosität in den Märkten, das man gewöhnlich beim Konjunkturhoch beobachtet. Infolge internationaler und einheimischer Spannungen ist die Aussicht für das jetzige Jahr von zunehmender wirtschaftlicher Instabilität geprägt. Wie wir gesehen haben, verlangsamte sich die Wachstumsrate im letzten Quartal, was auf abnehmenden Export zurückgeht. Der Handelsüberschuss fiel im Dezember um 14,2% unter die Novemberziffer (19). Während eine Monatsziffer keinen Abwärtstrend beweisen kann, werden die Auswirkungen eines unerwartet kalten und schneereichen Winters in Zentralchina diese Zahlen weiter nach unten drücken. Frühe Prognosen behaupten, dass die ersten zwei Wochen Schneesturm 54 Mrd. Yüan an Produktionsausfall, Schäden an der Infrastruktur und Verlusten in der Landwirtschaft gekostet haben.

Im Jahr der Olympischen Sommerspiele in Peking kann es keinen Zweifel daran geben, dass die Regierung vollen Gebrauch von ihrer noch weitreichenden Kontrolle machen wird, damit jede gesellschaftliche Unruhe vermieden wird – wie die Einführung von Preiskontrollen bereits gezeigt hat. Es wird sich zeigen, ob sie besser vorbereitet sein wird, mit spürbaren Einschnitten in Erzeugung und Beschäftigung der Ausfuhrgüterindustrien fertig zu werden, als mit Wochen dauernden Schneestürmen. Dieser Sektor ist stark durch Firmen mit Sitzen in Taiwan, Südkorea und Japan geprägt und selbst solche mit Stammsitz in Hong Kong dürften ihre Profite vor ihren Patriotismus stellen – wenn die Verkäufe zurückgehen, werden sie ArbeiterInnen freisetzen und Betriebe schließen. In ganz China hat die Zahl der Firmen in Privatbesitz rapide zugenommen – 2006 um 15%; Anfang 2007 beschäftigten sie 64 Mio. ArbeiterInnen und fertigten ungefähr 65% des BIP (20). Nach solch einer Steigerung dürfte ein Abschwung massenhaft Betriebsstilllegungen hervorrufen.

Im kommenden Jahr wird sich China eher selbst mit einer sich abkühlenden Weltwirtschaft sowie einer Binnenökonomie, die dem Höhepunkt ihres Konjunkturzyklus überschreitet, herumschlagen müssen, dann als Lokomotive der Weltwirtschaft zu fungieren, wenn die USA in eine Rezession taumeln. Wir leben in interessanten Zeiten.

Fußnoten

(1) The Economist, 24. Oktober 2007

(2) Ebenda

(3) Zahlen aus: World Bank Quarterly Update, Peking, November 2007, S. 6

(4) Bürgerliche Ökonomen betrachten eine Nationalökonomie im Grunde als eine Tauschwirtschaft, einen Markt, auf dem Güter und Dienste gehandelt werden, nicht als ein System zur Produktion von Werten. Folglich wird die „Größe“ einer Ökonomie durch die Addition aller Güter und Dienste gemessen, wobei verschiedenen Sektoren entsprechenden „Gewichte“ zugeteilt werden.

(5)  Zahlen für 2005 aus: Weltbank, International Comparison Program Prelimnary Results, 17. Dezember 2007

(6) OECD Economic Survey: China, Paris, S. 71

(7) Ebenda

(8) Zahlen aus: World Bank, China Quarterly Update, Peking Februar 2008, S. 22

(9) OECD Economic Survey: China, Paris, S. 12

(10) Offizielle Volkszählung aus dem Jahr 2000

(11) Zahlen aus CEIC, Zitiert von: Lo, Phantom of the China Economy, Basingstoke 2006, S. 11

(12) J. Story, China, the race to the market, Edinburgh, 2003, S. 62

(13) Thomas Rawski, What’s happening in China’s GDP Statistics? Prepared for China Economic Review 12, Dezember 2001, S. 3

(14) Folgende Zahlen aus. Goldman Sachs, Global Economics Paper 147, Oktober 2006

(15) Asian Times Online, 15. Januar 2008

(16) Weltbank, China Quarterly Update, Peking, Februar 2008, S. 2

(17) Ebenda, S. 4

(18) The Economist, 24. Oktober 2007

(19) Asian Times Online, 15. Januar 2008

(20) China Labour Bulletin Research Report, Speaking Out, www.clb.org.hk, Dezember 2007, S. 5

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