Ernst Ellert, Neue Internationale 290, April 2025
Ob in der Ukraine oder in Gaza, im Kongo oder Sudan: Kriege folgen immer häufiger aufeinander. Die Welt scheint aus den Fugen geraten. Die herrschende Klasse und ihre Parteien haben darauf eine reaktionäre, aber nicht minder klare Antwort: Auch „wir“ müssen kriegstüchtig werden.
Die politische Linke hingegen ist verwirrt. Die einen beschwören den Pazifismus als Lösung, fordern trotzig, dass „Krieg kein Mittel der Politik sein dürfe“ und endlich „geächtet“ werden müsse. Andere wiederum hoffen verzweifelt, dass Institutionen wie die UNO und die Staatengemeinschaft „zivilisieren“ und als globale Friedenstifterinnen auf den Plan treten können.
Die Tatsache, dass die UNO keinen einzigen großen Krieg des 20. und 21. Jahrhunderts verhindern konnte, bleibt bei solchen „Perspektiven“ außen vor. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von verschiedenen Kriegen wie z. B. imperialistischen, Befreiungskriegen, Bürger:innenkriegen, von revolutionären und reaktionären Kriegen wird erst gar nicht diskutiert, würde sie doch allgemeine pazifistische und reformistische Beschwörungsformeln selbst in Frage stellen.
Über Kriege und ihre Ursachen, über ihren Zusammenhang mit der kapitalistischen Klassengesellschaft erfahren wir dabei – nichts. Daher wollen wir im Folgenden Grundzüge des marxistischen Verständnisses darlegen.
Gleich am Beginn seiner Broschüre „Sozialismus und Krieg“ (Lenin, Werke Bd. 21, S. 297–341) stellt Lenin die marxistische und pazifistische Ablehnung des Krieges einander gegenüber:
„Die Sozialisten haben die Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt.“ „Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die der bürgerlichen Pazifisten (der Friedensfreunde und Friedensprediger) und der Anarchisten. Von den ersteren unterscheiden wir uns durch unsere Einsicht in den unabänderlichen Zusammenhang der Kriege mit dem Kampf der Klassen im Innern eines Landes, durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den Sozialismus aufzubauen, ferner auch dadurch, dass wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen, d. h. von Kriegen der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse, der Sklaven gegen die Sklavenhalter, der leibeigenen Bauern gegen die Gutsbesitzer, der Lohnarbeiter gegen die Bourgeoisie. Von den Pazifisten wie von den Anarchisten unterscheiden wir Marxisten uns weiter dadurch, dass wir es für notwendig halten, einen jeden Krieg in seiner Besonderheit historisch (vom Standpunkt des marxschen dialektischen Materialismus) zu analysieren. Es hat in der Geschichte manche Kriege gegeben, die trotz aller Greuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, fortschrittlich waren, d. h., der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, besonders schädliche und reaktionäre Einrichtungen (z. B. den Absolutismus oder die Leibeigenschaft) und die barbarischsten Despotien Europas (die türkische und die russische) zu untergraben.“ „Wir müssen daher die historischen Besonderheiten eben des jetzigen Krieges untersuchen.“
Der Marxismus lehnt eine absolute Position zum Krieg ab. Er untersucht vielmehr jeden Krieg konkret und einzeln und betrachtet ihn in seinem spezifischen historischen Kontext. Der Marxismus stimmt daher nicht mit Pazifist:innen überein, dass jeder Krieg schlecht, unmoralisch und schädlich für diejenigen ist, die ihn führen. Dies sind ahistorische, moralistische Dogmen, die von der materiellen Realität losgelöst sind. Aus der Perspektive des revolutionären Klassenkampfes ist die kategorische Ablehnung jeder, also auch jeder notwendigen oder befreienden Gewalt falsch und politisch schädlich, beschränkt sie doch den Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten notwendigerweise auf rein friedliche Mittel.
Wir unterscheiden zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der ihrer Unterdrücker:innen. Wir stimmen nicht mit den radikalen Pazifist:innen überein, dass die Gewalt der Unterdrückten oder die Arbeiter:innenrevolution den menschlichen Geist durch die Ausübung von Hass entwürdigen und nur zur Wiederherstellung einer repressiven Herrschaft führen können. Der Pazifismus predigt letztlich die friedliche Versöhnung zwischen Unterdrücker:innen und Unterdrückten – „gewaltfreie Konfliktlösung“ – nicht die Klassenfeindschaft und den Hass, den die Arbeiter:innen für ihre Ausbeuter:innen empfinden sollten. Revolutionäre Kommunist:innen und Sozialist:innen lehnen die Vorstellung ab, dass es in einer Welt, die auf Klassenungleichheit in Bezug auf Reichtum, Macht und Privilegien basiert, Harmonie und Geschwisterlichkeit zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen geben könne. Die herrschenden Klassen sind sich dessen, wie jeden Tag aufs Neue bewiesen wird, durchaus bewusst. Die große Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist es jedoch nicht, was selbst mit zur Stabilisierung ihrer Ausbeutung und Unterdrückung beiträgt.
Die marxistische Herangehensweise, einen bestimmten Krieg zu unterstützen oder abzulehnen, stützt sich stark auf den preußischen Militärhistoriker und Offizier Carl von Clausewitz aus dem frühen 19. Jahrhundert. Clausewitz‘ Ausgangspunkt war der berühmte Satz: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“
Um also die Haltung zu einem konkreten Krieg zu bestimmen, ist es unerlässlich, seinen Klassencharakter zu betrachten: Was hat diesen Krieg verursacht? Welche Klassen führen ihn und welche Kriegsziele verfolgen sie? Welche historischen und ökonomischen Bedingungen haben ihn ausgelöst?
Als Sozialist:innen versuchen wir, alle politischen Aspekte eines Krieges zu analysieren: die tatsächliche Politik (nicht die bloß proklamierte), deren Fortsetzung der Krieg ist, und die Politik der Klassen, die den Krieg führen. Um die Politik des Krieges vollständig zu verstehen, müssen wir alle kriegführenden Mächte untersuchen, nicht nur eine. Wenn wir den Kampf, der zu dem Krieg geführt hat, als fortschrittlich und legitim betrachten, dann unterstützen wir ihn weiterhin, auch wenn er nun mit gewaltsamen Mitteln fortgesetzt wird, z. B. eine Erhebung gegen eine Diktatur, gegen eine koloniale Unterdrückung oder wenn z. B. ein Generalstreik in den Kampf um die revolutionäre Machtergreifung umschlägt.
Umgekehrt gilt: Wenn wir politische Gegner:innen einer bestimmten Politik sind, z. B. der herrschenden Klassen und Regierungen, dann legen wir unsere politische Opposition nicht ab, wenn der Kampf mit anderen, gewaltsamen Mitteln fortgesetzt wird. Wir bleiben Gegner:innen der Politik, die zu dem Krieg geführt hat, und damit dieses Krieges selbst.
Das verdeutlicht die Methode, mit der wir entscheiden, welche Kriege wir für gerecht, fortschrittlich und unterstützenswert und welche wir für reaktionär, ungerecht und nicht unterstützenswert halten. Wir sind für Kriege, die wir politisch unterstützen können – z. B. für nationale Befreiungskriege, Kriege für Demokratie und Revolutionen und Bürgerkriege der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten. Wir lehnen Kriege ab, deren politische Ziele wir ablehnen: imperialistische Kriege, Kriege des rassistischen Nationalismus und für den Reichtum, die Macht und die Privilegien der herrschenden Klassen. Unsere Position zu jedem einzelnen Krieg wird durch den Klassencharakter der kämpfenden Staaten und Parteien sowie der Kriegsziele bestimmt.
Marx und Engels enthielten sich in der Kriegsfrage nicht der Stimme. Sie bezogen in bestimmten Kriegen eindeutig Stellung, wobei sie als Kriterium für Sieg oder Niederlage heranzogen, welches der kriegführenden Lager den historischen Fortschritt am meisten repräsentierte. Dieser Ansatz war bis zum Beginn der imperialistischen Epoche angemessen. In der Zeit von der Amerikanischen Revolution 1763–1776 bis zur Pariser Kommune 1871 konnte die Bourgeoisie noch eine fortschrittliche Rolle spielen. Bürgerliche Revolutionen stürzten feudale Herrschaftsverhältnisse, zerschlugen den Landbesitz, trennten Kirche und Staat und errichteten demokratische Republiken. Das beste Beispiel für einen Krieg dieser Art war die Französische Revolution. Ihre Ausbreitung stellte den Feudalismus in ganz Europa in Frage. Hätte sich die Revolution nicht auf das übrige Europa ausgebreitet, wäre sie durch eine aristokratische Gegenrevolution aus dem Ausland erstickt worden. Die radikale Linke jener Zeit war eine aggressive Befürworterin des revolutionären Krieges. Andere fortschrittliche bürgerliche Kriege dieser Zeit waren die Kriege zur deutschen und italienischen Einigung, die die Teilung dieser Länder in feudale Kleinstaaten beendeten und vereinte Nationalstaaten und Märkte schufen. (Siehe zum Deutsch-Französischen Krieg 1870–1871 auch: Karl Radek, „Marxismus und die Probleme des Krieges“ (1914), in: Revolutionary History, Vol. 8 Nr. 2, 2002, S. 50–58.)
Eine andere Art von fortschrittlichem Krieg dieser Zeit war der Bürgerkrieg zur Beendigung der abscheulichen Sklaverei. Die haitianische Revolution führte zu einer langen Periode brutaler Kriege für die Freiheit der Menschen. Auch der Amerikanische Bürgerkrieg zwischen dem Kapitalismus des Nordens, der mit den freien Schwarzen des Nordens und den Sklav:innen des Südens verbündet war, und der Konföderation der Plantagenbesitzer:innen im Süden war ein Krieg für die Befreiung der Menschen und für den kapitalistischen Fortschritt. Er war einer der letzten Akte der Bourgeoisie als revolutionäre Klasse, und zwar überall auf der Welt.
Den progressiven Charakter dieser Kämpfe zu negieren, weil sie bürgerlich waren, ist ahistorisch. Im Vergleich zu früheren Bedingungen handelte es sich um fortschrittliche historische Entwicklungen. Sie schufen den industriellen Kapitalismus, dessen Produktionsmittel und Proletariat die Voraussetzungen für den Sozialismus bilden. Marx und Engels entschieden über ihre Positionen zu den Kriegen dieser Zeit auf der Grundlage, welche Seite den Sieg für den historischen Fortschritt errungen hatte und welche die zukünftigen Interessen der Arbeiter:innenklasse vertrat.
Diese Ära fortschrittlicher nationaler Kriege endete mit der Niederschlagung der Pariser Kommune im Jahr 1871, dem Amerikanischen Bürgerkrieg 1865 und der Meiji-Restauration in Japan 1868. Der Kapitalismus, der im Westen den Feudalismus besiegt hatte, sah sich nun der ersten sozialistischen Revolution der Arbeiter:innenklasse gegenüber. Die Bourgeoisie war keine revolutionäre Klasse mehr, sondern wurde zu einer Fessel für die wirtschaftliche und historische Entwicklung, zu einer konterrevolutionären Kraft. Die Arbeiter:innenklasse stellte nun eine revolutionäre Bedrohung für das Kapital dar, und keine Kapitalist:innenklasse verkörperte ein geringeres Übel; keine spielte eine fortschrittlichere Rolle oder vertrat die Interessen der Arbeiter:innenklasse. Diese war nun in der Lage, ihre eigene unabhängige Klassenalternative zu präsentieren: den Sozialismus. Der Kapitalismus trat in den Übergang zu seiner letzten und höchsten Epoche – dem Imperialismus – ein und wurde reaktionär auf der ganzen Linie.
Innerhalb weniger Jahrzehnte schuf der Aufstieg von Monopolen, Konzernen und Finanzkapital die Grundlage für eine neue Epoche des Weltkapitalismus, den Imperialismus, und eine neue Ära der Kriegsführung: den imperialistischen Krieg. Das 20. Jahrhundert ist seine Ära und der gegenwärtige Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten droht zunehmend zu einem neuen barbarischen Kräftemessen zu werden.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchbrach der Kapitalismus die engen Grenzen der nationalen Wirtschaft. Der Wettbewerb wurde global – ein Kampf um Märkte, strategische Rohstoffe, billige Arbeitskräfte, Investitionsmöglichkeiten und koloniale Annexionen. Diese besondere Phase des Kapitalismus – der Imperialismus – kennzeichnet bis heute das Gesamtsystem. Der wichtigste Unterschied zwischen dem frühen Imperialismus und dem aktuellen besteht darin, dass neokoloniale Beziehungen territoriale Kolonien als Instrument der wirtschaftlichen Kontrolle weitgehend abgelöst haben und die kapitalistische Ausbeutung alle Länder der Welt viel tiefer durchdrungen hat als je zuvor in der Geschichte.
Eine Weltwirtschaft, die auf nationalen Kapitalien basiert, hat die Anarchie der Produktion auf eine weltweite Ebene gehoben – mit der zusätzlichen Instabilität, dass keine Staatsmacht die Wirtschafts-, Währungs- oder Finanzpolitik koordiniert oder Teile der Kapitalist:innenklasse zügelt und diszipliniert. Der ungezügelte Wettbewerb konzentrierter nationaler Kapitalien bringt das weltwirtschaftliche Gleichgewicht in regelmäßigen Abständen durch große Störungen aus dem Ruder. Jedes nationale Kapital verlässt sich auf die Macht seines eigenen Staates, um in einem anarchischen globalen Wettbewerb Schutz zu finden, und fordert militärische und diplomatische Macht, um die Stellung nationaler Gesamtkapitale in ihm zu unterstützen.
Der Charakter der modernen imperialistischen Kriege definiert den reaktionären Charakter des zeitgenössischen Kapitalismus und seine Überreife für eine sozialistische Transformation. Unter dem Imperialismus sind die immense Anhäufung von Reichtum und die technologischen und wissenschaftlichen Fortschritte der Menschheit, anstatt den menschlichen Bedürfnissen zu dienen, zu Mitteln geworden, um surreale Massenvernichtungswaffen zu schaffen.
Imperialistische Kriege bringen den menschlichen Fortschritt nicht voran, bemerkte Lenin, sondern sind Kriege zwischen modernen Räuber:innen um Beute: Herrschende Klassen streiten sich darum, wer welche Reichtümer plündern, welche Produktionsstandorte, welche Märkte kontrollieren und die Ausbeutung auf andere Menschen ausdehnen wird. In diesen Raubkriegen herrschender Klassen um Reichtum und Profit gibt es unter den Imperialist:innen keine Seite, für die man sich entscheiden könnte, kein kleineres Übel, das für historischen Fortschritt oder die Interessen der Arbeiter:innenklasse steht.
Es gibt keinen qualitativen Unterschied zwischen kleinen und großen, armen und reichen, alten und neuen aufstrebenden, aggressiven Räuber:innen und solchen, die den Status quo bewahren wollen. Wir lehnen alle imperialistischen als reaktionäre Eroberungs- und Unterdrückungskriege ab. Es sind solche, die nur den Interessen der herrschenden Klasse dienen, ihren Reichtum, ihre Macht und ihre Privilegien zu erweitern, indem sie nicht nur die Ausbeutung ihrer eigenen Arbeiter:innenklasse, sondern auch die ausländischer Arbeiter:innen zulassen.
In der fortschrittlichen Phase des Kapitalismus konnte die herrschende Klasse ihre Interessen mit denen der Nation gleichsetzen. Im Imperialismus besteht die Schwierigkeit darin, die Massen der Lohnabhängigen und aller anderen nicht ausbeutenden Schichten davon zu überzeugen, dass kapitalistische auch nationale Interessen sind. Die ideologischen Handlanger:innen des Kapitalismus – die Massenmedien, Kirchen, Universitäten – arbeiten rund um die Uhr, um die Menschen davon zu überzeugen, dass der Krieg, den sie führen, einer für Demokratie, zur Verteidigung gegen Aggressionen oder für ein anderes edles Ideal ist, das die wahren imperialistischen Kriegsziele und die Klasseninteressen des Kapitals verschleiert. Die sozialistische Opposition muss oft damit beginnen, die ideologischen Lügen aufzudecken, die wahren Ziele und die Politik des Krieges zu enthüllen und darüber aufzuklären.
Der moderne imperialistische Krieg ist von einem inneren Widerspruch geprägt, der sich am Ende des Konflikts oft in revolutionärer Wut entlädt. Die Kapitalist:innenklasse benötigt oft Massenmobilisierungen, die Wehrpflicht und hohe Steuern für einen Krieg, von dem nur sie selbst profitiert. Um diesen Widerspruch zu überwinden, belügen alle Kriegsparteien ihre eigene Bevölkerung, um deren Unterstützung zu gewinnen. Die Hauptlüge lautet: „Wir wollten keinen Krieg.“ „Er war unvermeidlich und wurde uns durch den feindlichen Angriff aufgezwungen.“ „Wir verteidigen uns nur.“ Alle Kriegsparteien behaupten, sich nur zu verteidigen. Sozialist:innen müssen dieses Netz aus Täuschung durchschauen und die imperialistischen Beziehungen der kriegführenden Lager entwirren.
Die Frage, wer der/die Aggressor:in war, kann zwar dabei helfen, die Lügen der Regierung zu widerlegen und die Politik eines Krieges zu verstehen, aber Kriegspolitik lässt sich nicht darauf reduzieren, wer der oder die Aggressivste ist und wer Verteidiger:in. Die primitivste Ebene dieser Frage ist: „Wer hat den ersten Schuss abgegeben?“ Wenn ein Krieg beginnt, versuchen alle Seiten, der anderen Seite das Etikett des/r Aggressor:in anzuheften, und manövrieren so, dass es so aussieht, als hätte der/die Gegner:in den ersten Schuss abgegeben. Der Zweck besteht darin, die öffentliche Meinung dahingehend zu manipulieren, dass sie die Behauptung eines Krieges zur Selbstverteidigung glaubt.
In einem interimperialistischen Wettstreit ist die Frage, wer der/die Angreifer:in und wer der/die Verteidiger:in ist – im Netzwerk wechselnder imperialistischer Bündnisse – eine Nebensache. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Frage, ob eine Seite aggressiv war, etwas darüber aussagen kann, ob diese über den defensiven Charakter ihres Krieges lügt oder nicht, und Hinweise auf ihre imperialistischen Ziele geben kann, aber sie kann nicht die wichtigsten Fragen über die politische Dynamik des Krieges beantworten.
Die Kriege des 20. Jahrhunderts sind geprägt vom Imperialismus, aber auch von seinem dialektischen Gegenteil: den nationalen Befreiungskriegen gegen den Imperialismus. Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein demokratisches Recht, bei dem eine Nation ihr politisches Schicksal frei von politischer Fremdherrschaft bestimmt. Das bedeutet das Recht einer Nation, sich abzuspalten und einen eigenen Staat zu gründen oder sich mit einem anderen Staat zu vereinigen. Dieses Recht sollte von allen konsequenten Demokrat:innen unterstützt werden. Doch praktisch niemand außer revolutionären Kommunist:innen verteidigt die Selbstbestimmung als ein Prinzip, das für alle Nationen gelten sollte und nicht als Privileg für einige.
Das Gegenteil von Selbstbestimmung ist eine erzwungene Annexion zum Vorteil der unterdrückenden Nation, nicht zum Nutzen der eroberten. Während eine Eroberung durch fremde Mächte ausschließlich der herrschenden Klasse zugutekommt, akzeptiert die Arbeiter:innenklasse oft die chauvinistischen und rassistischen Ideen ihrer eigenen herrschenden Klasse. Diese Akzeptanz des nationalen Chauvinismus der herrschenden Klasse versklavt die Arbeiter:innen der unterdrückenden Nation gegenüber ihrer eigenen nationalen Bourgeoisie. Wenn Arbeiter:innen nicht glauben, dass ihre herrschende Klasse fremde Nationen ausbeutet und unterdrückt, dann verstehen sie letztlich auch nicht, dass sie selbst ausgebeutet werden, wodurch die Notwendigkeit entfällt, für ihre eigene Emanzipation zu kämpfen. Wie Marx bemerkte: „Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren.“
Eine unterdrückte Nation hat ein Recht auf Selbstbestimmung, ganz gleich, wie undemokratisch oder reaktionär ihre Führung oder herrschende Klasse sein mag. Nationale Befreiung ist kein Sozialismus, und eine herrschende Klasse führt den Kampf dafür natürlich immer auch mit ihren eigenen Klassenzielen. Wir stellen keine Bedingung, dass eine Nation nur dann frei sein sollte, wenn ihre Führer:innen sozialistischen Standards entsprechen. Wenn ein Krieg die Politik des Kampfes um Selbstbestimmung entscheidend fortsetzt, ist es einer für die nationale Befreiung, und wir unterstützen ihn – nicht jedoch die Strategie und Politik der bürgerlichen Führung eines solchen Kampfes.
Während des Vietnamkriegs waren wir nicht „pro Frieden“, für „gewaltfreie Konfliktlösung“ oder für Verhandlungen über die Differenzen zwischen den beiden Seiten. Wir waren gegen den Krieg der USA und für ihre Niederlage. Wir waren für den Sieg der NLF (National Liberation Front of South Vietnam; Nationale Front für die Befreiung Südvietnams, NFB; Vietcong), der Bewegung, die den vietnamesischen Kampf anführte, trotz ihrer stalinistischen Führung, deren Politik wir nicht unterstützten. Wir hegten keine Illusionen in diese, im Gegensatz zu einem Großteil der Linken, die sich dafür entschuldigte, oder den Maoist:innen und zentristischen „Trotzkist:innen“, die die NLF als sozialistisch betrachteten, weil sie von Stalinist:innen geführt wurde. Wir wussten, dass die NLF bestenfalls einen von Beginn an degenerierten Arbeiter:innenstaat errichten würde, der den Arbeiter:innen und Bäuer:innen alle demokratischen Rechte und Befugnisse verweigern würde, um sie besser von der Ausübung der Staatsmacht und Wirtschaftslenkung fernhalten zu können.
Aber die vietnamesische Nation hatte das Recht, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, unabhängig vom Ausgang oder der undemokratischen Natur ihrer Führung. Diese zu stürzen, ist die Aufgabe der vietnamesischen Arbeiter:innenklasse, nicht eine, die an den US-Imperialismus ausgelagert wird, dessen demokratische Handschrift die Millionen Zivilist:innen sind, die er zu Tode bombardiert hat.
Wir verstanden auch, was der Sieg der Vietnames:innen für den Kampf gegen den Imperialismus bedeutete. In den 1920er Jahren argumentierte die Komintern in ähnlicher Weise, dass die Weltrevolution ein gemeinsamer Kampf der Arbeiter:innenklasse sein würde, die für eine sozialistische Revolution in den imperialistischen Ländern kämpft, in Allianz mit den Völkern der kolonialen Welt, die nationale Kriege gegen den Imperialismus führen.
Die Unterscheidung zwischen berechtigtem Krieg gegen imperialistische und kolonialistische Reaktion einerseits und der reaktionären Politik der Führung eines solchen Befreiungskampfes hat auch im 21. Jahrhundert ihre Gültigkeit, wie z. B. der Irakkrieg, der Krieg in Afghanistan, der Befreiungskampf in Palästina oder Kurdistan oder auch der Ukrainekrieg verdeutlichen. Hinzu kommt, dass in allen Befreiungskämpfen auch die konkurrierenden imperialistischen Mächte versuchen, diese für ihre jeweils eigenen Ziele auszunutzen, womit sich nationale Befreiungskämpfe mit dem Versuch imperialistischer Mächte, unterdrückte Nationen wie z. B. in der Ukraine oder auch die Kurd:innen in Rojava für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, verbinden. Das bedeutet jedoch nicht, dass damit die Selbstverteidigung z. B. gegen den russischen Imperialismus oder der kurdischen Autonomiegebiete gegen den syrischen Staat reaktionär geworden wäre. Marxist:innen müssen daher jedoch vor den Illusionen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Führungen in falsche imperialistische Verbündete warnen, deren katastrophalen Auswirkungen für die Massen wir heute in Rojava wie in der Ukraine sehen können, wo die USA ihre einstigen Verbündeten im Stich lassen.
Diese Skizze verdeutlicht, dass Krieg und Klassengesellschaft wie auch unterschiedliche Formen des gewaltsamen Konfliktes untrennbar miteinander verbunden sind. Eine Gesellschaft ohne Krieg kann und wird es nicht geben, solange die Klassenspaltung selbst besteht, ja immer tiefer greift. Von der Bestimmung des Kriegs hängt zugleich die konkrete Position der Arbeiter:innenklasse ab. Einen entscheidenden Aspekt stellt dabei jedoch immer dar, dass der Krieg als besonders scharfe Form des Klassenkampfes begriffen wird. Sie muss vielmehr die Politik im Krieg als Teil des Kampfes zum Sturz jener Verhältnisse begreifen, die ihn hervorbringen – von Kapitalismus und Imperialismus.