Arbeiter:innenmacht

Bilanz der Großen Koalition – Zahlen und Fakten

Tobi Hansen, Neue Internationale 222, September 2017

Die wenigen Reformen der Regierung wie die schrittweise, von vielen Ausnahmen begleitete Einführung des Mindestlohns haben weder die Profite des Kapitals in Deutschland gemindert noch zu einer „Jobkrise“ geführt. Die Gewinne der Großunternehmen sprudeln, genügend billige Arbeit gibt es weiterhin.

Der Arbeitsmarkt

2016 galten in Deutschland 42,5 Mill. Menschen als beschäftigt. Davon wurden 24 Mill. als Vollzeitbeschäftigte geführt, 18,5 Mill. gelten als „atypisch“ Beschäftigte. Unter ihnen ist vor allem der Anteil der Teilzeitbeschäftigten gestiegen, von 4,5 Mill. im Jahr 2000 auf 8,5 Mill 2016. Zu den atypischen Beschäftigen gehören außerdem 5,3 Mill. sog. geringfügig Beschäftigte (z. B. Mini-JobberInnen), eine Mill. LeiharbeiterInnen und 3,7 Mill. befristet Beschäftigte – für diese ist das „Normalarbeitsverhältnis“ passé. Dazu zählen auch die „Solo-Selbstständigen“, welche inzwischen 55 % aller Selbstständigen ausmachen.

Unter den Begriffen Prekarisierung oder „Flexikarität“ wird der deutsche Arbeitsmarkt aufgerollt und umgewandelt. Ausgangspunkt dieser Entwicklung bleibt weiterhin die Agenda 2010 und die Hartz-IV-„Reform“.

Während für die industriellen Stammbelegschaften, welche zu großen Teilen zu den Vollzeitbeschäftigten zählen, Verdichtung und Rationalisierung der Arbeit unter der Überschrift Industrie 4.0 ansteht, können immer größer werdende Teile der Klasse von ihren Jobs nicht überleben, wissen am Anfang des Monats nicht, was sie am Ende haben. Verträge wie „Zero-hour-contracts“, bei denen die Beschäftigten nicht wissen, für wie viele Stunden und Lohn sie monatlich eingesetzt werden, erhöhen den sozialen Druck gerade in den unteren Schichten der Klasse. Mehrfachjobs, flexible Ausbeutung auf Abruf – das ist zusammen mit der Einführung von Zeitarbeit inzwischen für Millionen, vor allem Frauen und Jugendliche, zum „Normalarbeitsverhältnis“ geworden.

Dies veranschaulicht die „Krisenlösung“ des deutschen Imperialismus seit 2007/08. Der zuvor gestartete Sozialangriff Agenda 2010 wurde mit der und durch die Krise weitergeführt. Der Niedriglohnsektor wuchs auf eine zweistellige Millionenzahl; die Armutsquote steigt, während die Arbeitslosigkeit sinkt. Durch eine Umschichtung und Neuordnung des Arbeitsmarktes konnte das deutsche Großkapital seine Profitabilität gegenüber der internationalen Konkurrenz beibehalten und teilweise sogar erhöhen.

Armutsgefährdet gilt jemand in Deutschland, wenn das Einkommen unter 942 Euro netto pro Monat liegt, das sind zur Zeit 15,7 % aller ArbeiterInnen und Angestellten. Aber auch für alle, die noch deutlich unter 2000 Euro netto pro Monat liegen, gilt es in erster Linie, über die Runden zu kommen.

Krisengewinner deutsches Großkapital

Die große Koalition „verwaltet“ die Interessen der wichtigsten Kapitalfraktionen verlässlich und sorgt dafür, dass dies nicht in Frage gestellt wird. Sowohl das Austeritätsprogramm für Europa wie die Sicherung der Kreditlinien der Börsen und Anleihemärkte sorgen weiterhin für einen relativ stabilen deutschen Krisengewinnerimperialismus.

Folgerichtig waren die Jahre der Großen Koalition von einer Hausse an den Börsen, einem deutlichen Kursanstieg begleitet. Allein die Top-30-DAX-Konzerne konnten 2016 einen Gewinn von 74 Mrd. Euro bekanntgeben, eine Steigerung von 49 % im Vergleich zum Vorjahr. Die Gewinne aller Kapitalgesellschaften wuchsen moderater mit 3,8 % auf 553 Mrd. Euro.

So ist auch die Dividendenausschüttung auf ein neues Rekordniveau gestiegen: Im Jahr 2015 belief sich diese bei den DAX-Konzernen auf 31,8 Mrd. Euro, was auch die Fusionswelle unter deutschen Konzernen befeuert. So wurde im Jahr 2016 bei den Fusionen der höchste Wert seit 2001 erreicht. 2104 Übernahmen mit einen Volumen von 225 Mrd. Euro standen zu Buche, davon 53 % (1.122) als grenzüberschreitende mit der Fusion Bayer/Monsanto als Spitzenwert mit ca. 60 Mrd. Euro. International backen die deutschen Großkonzerne damit aber eher kleine Brötchen: 2015 wurden ca. 5 Bill. US-Dollar bei Fusionen umgesetzt, davon 3 Bill. bei inner-US-amerikanischen Fusionen.

Zuletzt bekamen die deutschen Großkonzerne auch die gestiegene Konkurrenz der imperialistischen Blöcke zu spüren. Mit den Diesel-Verfahren gegen VW und jetzt sicher auch gegen die anderen „Kartellkonzerne“, Anzeigen und Bußgelder gegen die angeschlagene Deutsche Bank wurden Flagschiffe des deutschen Imperialismus unter „Beschuss“ genommen, wie auch die Protektionismus-Androhungen der Trump-Administration mindestens eine Herausforderung für das deutsche Exportkapital darstellen.

Die Dieselautokrise

Das „Dieselkartell“ verdeutlicht, was heute Monopolkapital heißt und wie sehr diese Konzerninteressen Wirtschaft und Politik prägen. „Dieselgipfel“, Prämien für Umtausch und Neukauf, die an die Abwrackprämie erinnern, und leere Versprechen der Branche werden von der jeweils amtierenden Bundesregierung politisch legitimiert, medial angepriesen und schließlich noch finanziell unterstützt. Die Gewerkschaften beschweren sich über den „Betrug“ der ManagerInnen, haben selbst keine Vorstellung, wie denn der Personenverkehr der Zukunft aussehen sollte. Angesichts der Dieselkrise und anstehenden Industrie 4.0 richten sie sich schon mal auf Entlassungen, Rationalisierung und Umstrukturierungen ein, die in Form von „Wettbewerbspakten“ für den Standort die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse allenfalls „sozial abfedern“ sollen.

Die Exportabhängigkeit des deutschen Imperialismus hat sich seit der Krise 2007/08 verstärkt. Eine mögliche nächste Krise, ein Zusammenbruch der Märkte würden das deutsche Großkapital massiv treffen. Via EU versucht es, weiter neue Märkte zu integrieren wie z. B. die Ukraine, Georgien oder auch die Balkanstaaten des ehemaligen Jugoslawien. Auf der anderen Seite müssen die Marktbedingungen im Zuge des Brexit mit Großbritannien neu verhandelt werden, aber auch die Türkei als wichtiger Investitionsstandort ist politisch unsicher geworden. Neben den klassischen ADIs (Auslandsdirektinvestitionen), bei denen das deutsche Kapital mit 80-100 Mrd. Euro pro Jahr eher im Mittelfeld agiert, dient vor allem der Exporthandel als Mittel des deutschen Großkapitals zur Dominanz der beherrschten Märkte. Bei einem Einbruch der globalen Konjunktur ist dies direkt gefährdet.

Nichtsdestotrotz gehört der deutsche Imperialismus ökonomisch weiterhin zu den „Krisengewinnern“. Zur weiteren Ausdehnung als Machtzentrum hängt seine Perspektive jedoch von der kapitalistischen Einigung Europas ab, von der EU, wenn auch in modifizierter Form (z. B. durch Bildung eines „Kerneuropa“), sowie den dazu gehörigen militärischen Komponenten.

Daher sind auch alle bürgerlichen Parteien mit Ausnahme der AfD daran interessiert, die europäische Verteidigung zu vertiefen bzw. aufzubauen. Letztlich besteht das Ziel darin, die ökonomische Vormachtstellung des deutschen Imperialismus auch in der Hegemonie über die militärischen Verbände der EU herzustellen.

Das parlamentarische System und die politische Krise

Die zweite Große Koalition innerhalb von 12 Jahren hat zu Rissen innerhalb des bürgerlichen Lagers geführt. Dabei ist die Etablierung der AfD sicherlich eine Schwächung der CDU/CSU, bekommt sie doch erstmals seit dem zweiten Weltkrieg eine bedeutende parlamentarische Konkurrenz von rechts. Andererseits haben der Aufstieg der AfD wie auch die langsame, aber konstante „Wiederauferstehung“ der FDP auf Länderebene dazu geführt, dass nunmehr wahrscheinlich vier offen bürgerliche Parteien inklusive der Grünen vertreten sein werden – und somit die Koalitionsoptionen für die CDU/CSU gestiegen sind.

Die letzte Legislaturperiode war auch von einem deutlichen Rechtsruck in Deutschland gekennzeichnet. Hatten sich noch 2015 Hunderttausende solidarisch mit den Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Afrika gezeigt und UnterstützerInnenstrukturen gebildet, so „kippte“ diese Stimmung zugunsten der Rechten. Die Große Koalition, die ohnedies nie vorhatte, den Millionen Geflüchteten eine Perspektive zu geben, setzte auf die Abschottung der EU-Außengrenzen durch Abkommen mit dem türkischen und anderen Regimen, mehr und raschere Abschiebungen sowie eine Verschärfung rassistischer Gesetze.

Trotzdem – ja auch deshalb – konnte sich die AfD, selbst Ausdruck dieses Rechtsrucks, bundesweit etablieren. Ebenso nahm die rassistische und nazistische Gewalt und Formierung zu. 2015/16 gab es tausende Anschläge auf Geflüchtete, auf Wohnunterkünfte, auf SupporterInnen und Linke.

Der staatliche Rassismus, das Elend der Geflüchteten in Europa wurde weder von der parlamentarischen noch der außerparlamentarischen Linken durch eine proletarische Klassenpolitik bekämpft, die die Forderung nach offenen Grenzen, gleichen StaatsbürgerInnenrechten für alle, die hier leben, mit sozialen Forderungen nach Bildung, gleichen Löhnen und bezahlbaren Wohnungen für alle verbunden hätte.

Auch hier zeigt sich das zentrale Problem der ArbeiterInnenklasse in Deutschland: Gewerkschaftsführungen, SPD, aber auch große Teile der Linkspartei betrachten Politik vom nationalen Standpunkt aus – nicht von einem internationalistischen. Das bedeutet einerseits Unterordnung unter Standortpolitik, Sozialpartnerschaft und schrittweises Zurückweichen, andererseits Sozialchauvinismus und Abschottung.

Dies sind Knackpunkte der Politik der letzten Periode und für alle zukünftigen Kämpfe. Ohne einen fundamentalen Bruch mit dieser Politik, mit Sozialchauvinismus und Unterordnung unter die Wettbewerbsziele des „eigenen“ Kapitals ist es unmöglich, den Rechten den Nährboden zu entziehen.

 

Zahlen aus der Broschüre „Bilanz der großen Koalition 2013-17“, herausgegeben vom isw, München

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