Arbeiter:innenmacht

Britannien: Keir Starmer und das „Weißbuch zur Migration“

KD Tait, Infomail 1283, 19. Mai 2025

Die Labour-Regierung hat nach den katastrophalen Ergebnissen der Kommunalwahlen, bei denen Nigel Farages populistische, rassistische Partei Reform UK große Gewinne erzielte, einen heftigen Angriff auf Arbeitsmigrant:innen gestartet.

In einer Rede, die an den rassistischen Hetzer Enoch Powell aus den 70er Jahren erinnerte, behauptete Premierminister Keir Starmer, dass das „Ein-Nation-Experiment mit offenen Grenzen“ der Tories dazu geführt habe, dass Großbritannien „zu einer Insel der Fremden“ werde. Der Labour-Chef schloss mit der Behauptung, dass die Einwanderung Großbritannien „unermesslichen“ Schaden zugefügt habe.

Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt als Parteivorsitzender wies Starmer auf einige der erschreckenden sozialen Folgen der neoliberalen Politik hin, die die industrielle Basis Großbritanniens zerstört hat, sowie auf 14 Jahre Sparpolitik, die den Sozialstaat praktisch ausgelöscht haben. Er entschied sich jedoch, Migrant:innen die Schuld zu geben.

Die Politik des „Right to Buy“ (Umwandlungen in Eigentumswohnungen, „Eigenbedarf“; d. Red.), die den Bestand an Sozialwohnungen zerstört hat, die fehlenden Investitionen in neue Arbeitsplätze in den ehemaligen Industriegebieten, die absichtliche Unterfinanzierung des Gesundheitsdienstes NHS, die durch Sozialleistungen subventionierten Armutslöhne – all dies sind Entscheidungen von Politiker:innen, die das Gesundheitswesen zerstören, die Taschen der Vermieter:innen füllen und den Profiteur:innen, die unter dem Deckmantel der Altenpflege die lokalen Behörden ausnehmen, satte Gewinne sichern wollen.

Die wirklichen Probleme werden auf Migrant:innen abgewälzt, die einen – im wahrsten Sinne des Wortes – lebenswichtigen Beitrag zu den öffentlichen Diensten leisten und unter deren Fehlen genauso leiden wie ihre in Großbritannien geborenen Kolleg:innen, wenn nicht sogar noch mehr. Migrant:innen, die dank jahrzehntelanger repressiver Maßnahmen gegen sie, nicht zuletzt durch den Brexit, die von beiden großen Parteien verfolgt wurden, unsicheren, diskriminierenden und rassistischen Beschäftigungs- und Visabedingungen ausgesetzt sind, die die Fähigkeit der gesamten Arbeiter:innenklasse untergraben, gemeinsam für Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen zu kämpfen.

Die Gefahr der Reformpartei

Pressesprecher:innen der Labour-Partei behaupten, dass das Weißbuch zur Migration lange geplant gewesen sei. Es gibt keinen Grund, an dem persönlichen Engagement des Kabinetts zu zweifeln, Migrant:innen nur um ihrer selbst willen zu bestrafen. Aber jede/r weiß, dass es der rasante Einbruch der Labour-Partei in den Umfragen, ausgehend von einem ohnehin schon sehr niedrigen Niveau, war, der Starmer zu seiner rassistischen Tirade veranlasst hat. Da die Reformpartei in mehr als 90 Wahlkreisen auf dem zweiten Platz liegt, muss Labour nur noch Farages Peitsche knallen hören, um in Rage zu geraten.

Labour hat an Unterstützung verloren, weil das halbherzige Bekenntnis ihrer Führer:innen zum „Wandel“ bei Antritt der Regierung verpuffte. Genauer gesagt wurden die miteinander unvereinbaren Definitionen dieses Slogans, die in den Köpfen von Starmer und seinen Wähler:innen existierten, zugunsten des Bekenntnisses der Labour-Führung zur Überarbeitung und Modernisierung des Staates im Interesse des britischen Kapitalismus aufgelöst.

Labour will zwar Veränderungen – nur nicht die, die den Wähler:innen versprochen wurden. Als den Rentner:innen die Winterheizkostenzuschüsse gestrichen, die Begrenzung der Kinderbeihilfe auf zwei Kinder beibehalten und die persönlichen Unabhängigkeitszahlungen für Behinderte gekürzt wurden, machte Labour deutlich, dass Armut vor, während und nach der Arbeit für diese Regierung kein Fehler, sondern ein Merkmal ist.

Bislang ist es diese unerbittliche Logik von Ursache und Wirkung, die Labour in den Umfragen auf den zweiten Platz drängt, aber die Kommunalwahlen sind ein düsterer Vorgeschmack darauf, wohin Labours Weigerung, gegen die Milliardär:innen, Vermieter:innen und Banken in die Offensive zu gehen, führen wird.

Das Weißbuch von Innenministerin Yvette Cooper sieht umfassende Visabeschränkungen vor, wodurch ganze Branchen praktisch daran gehindert werden, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. Um sicherzustellen, dass die Maßnahmen auch wirklich greifen – und dass dies auch so wahrgenommen wird –, werden Familienzusammenführungen stark eingeschränkt. Willkürliche Obergrenzen für Visa für ausländische Studierende werden gesenkt, was die Finanzierungskrise eines Sektors verschärft, der zur Kompensation der unzureichenden staatlichen Mittel auf internationale Studiengebühren angewiesen ist.

Das Abschreiben vom Reformpartei-Manifest beschränkt sich nicht auf reflexartige Versprechen, die legale Einwanderung zu reduzieren. Um Abschiebungen zu beschleunigen, verspricht der ehemalige Generalstaatsanwalt (2008–2013; d. Red.) Starmer nun, Gerichtsurteile zu Abschiebungen auf der Grundlage der EMRK, der Europäischen Menschenrechtskonvention, zu reformieren, und zwar auf der Grundlage des unanfechtbaren Rechtsgrundsatzes des „gesunden Menschenverstands“.

Farage forderte Labour auf, Trump nachzueifern und einen nationalen Notstand an der Grenze auszurufen. Der neue Gesetzentwurf der Labour-Partei zur Grenzsicherheit verleiht der zunehmend paramilitärischen Grenzbehörde bereits neue Befugnisse zur Terrorismusbekämpfung. Labour hofft, das Schicksal seiner Vorgänger:innen zu vermeiden, die die Wähler:innen enttäuschten, indem sie Versprechen zu Einwanderungszielen machten, die sie nicht einzuhalten beabsichtigten, indem sie sich weigert, ihre Pläne mit Zahlen zu konkretisieren – sie sagt lediglich, dass die „Nettoeinwanderung“ bis zum Ende der Legislaturperiode sinken werde.

Warum dies für reformparteiorientierte Wähler:innen überzeugender sein sollte als die im letzten Jahr performativ angekündigten Blitzmaßnahmen gegen irreguläre Migration, sogenannte Schlepperbanden und gegen Asylbewerber:innen, wird weder gefragt noch beantwortet.

Triangulation

Die Labour-Partei behauptet, ihre neuen Maßnahmen gegen Migrant:innen seien lediglich eine Reaktion auf die Wünsche der Wähler:innen. Die Stimmen der Rechtspopulist:innen als Maßstab für die Einstellung zur Einwanderung zu nehmen, ist jedoch, wie zahlreiche Beispiele aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und den Vereinigten Staaten zeigen, eine zirkuläre und selbstzerstörerische Politik.

Insofern die Ablehnung von Migration eine projizierte Wut auf den Druck auf Arbeitsplätze, Wohnraum und öffentliche Dienstleistungen ist, wird eine Reduzierung der Einwanderung um Zehntausende oder sogar Hunderttausende nichts zur Verbesserung des Zugangs beitragen – und ihn in vielen Bereichen sogar verschlechtern. Die „linke“, in Wirklichkeit sozialchauvinistische Farbe, in der Labour und einige Gewerkschafter:innen dieser Politik malen, lautet, dass eine Reduzierung der Migration die Unternehmer:innen zwingen werde, die Löhne zu erhöhen, die Bedingungen zu verbessern und Arbeitsplätze für Arbeitslose oder Nichterwerbstätige zu schaffen.

In vielen Sektoren jedoch, wie beispielsweise im Pflegebereich, wo extrem niedrige Löhne und entsetzliche Arbeitsbedingungen vorherrschen und die Arbeitskräfte durch strenge Visabestimmungen diszipliniert werden, wird eine Verringerung des Angebots eher zu Angriffen auf Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen führen, um die Profitraten aufrechtzuerhalten, als dass sie die Unternehmer:innen dazu bewegen wird, ihre Taschen zu öffnen.

Starmers Aussage über ein „Experiment mit offenen Grenzen“ ist ein Mythos. Für Migrant:innen gab es nie offene Grenzen oder gleichen Zugang zu Arbeitsplätzen zu gleichen Bedingungen. Einwanderungskontrollen schaffen im Interesse der Kapitalist:innen eine rassistische Hierarchie auf dem Arbeitsmarkt. Insofern sie britische Lohnabhängige „schützen“, handelt es sich um ein rassistisches Privileg, dessen Preis darin besteht, dass diese ihre Klassensolidarität opfern, um sich mit „ihren eigenen“ Ausbeuter:innen zu identifizieren.

Der Weg, um die obszöne Ausbeutung und den Parasitismus zu bekämpfen, die das britische Einwanderungsregime schafft, besteht darin, für sektorale Tarifverhandlungen, die Verstaatlichung öffentlicher Dienstleistungen und – was am wichtigsten ist – die Abschaffung des diskriminierenden und rassistischen Einwanderungssystems zu kämpfen, das die Ausbildungskosten in halbkoloniale Länder verlagert und einen Druck auf die Löhne in den am stärksten ausgebeuteten, unsicheren und prekären Branchen ausübt. Willkürliche rassistische Versprechen, die Migration zu bekämpfen, ändern daran nichts.

Das sollen sie auch nicht. Diese Politik ist reine zynische Berechnung. Starmer möchte vielleicht die Produktivitätskrise Großbritanniens, die alternde Bevölkerung und die Abneigung gegen Investitionen und Ausbildung angehen – aber dafür müsste er die herrschende Klasse zwingen, dafür kollektiv durch Steuern und langfristige Wirtschaftsplanung aufzukommen. Die Märkte werden das nicht finanzieren, und seine Regierung hat nicht den Mut, die Reichen zur Kasse zu bitten.

Keir Starmers Sprache legitimiert die Argumente der extremen Rechten und fungiert als Transmissionsriemen, um elementare Feindseligkeit gegenüber wirtschaftlichem Wettbewerb in Chauvinismus und Rassismus umzuwandeln. Dies wird die Entfremdung der Labour-Wähler:innen in den Großstädten beschleunigen, wo jede/r zweite Nachbar:in mittlerweile zu Starmers „Fremden“ zählt, und den Weg für Farage und noch schlimmere Nachfolger:innen ebnen.

Die ohnehin schon halbherzigen Versprechen der Labour-Partei, die Arbeitsbedingungen und Löhne zu verbessern, indem sie ausbeuterische Null-Stunden-Verträge abschafft oder eine faire Lohnvereinbarung für erwachsene Pflegekräfte einführt, wurden angesichts des Widerstands der Unternehmer:innen bereits aufgegeben oder auf die lange Bank geschoben. Das entlarvt das Einwanderungsweißbuch als das, was es ist – keine ausgewogene Intervention in den Arbeitsmarkt, um die Ausbeutung von Arbeitsmigrant:innen zu beenden, sondern eine beschämende Zurschaustellung rassistischer Anbiederung.

Widerstand

Eine kleine Anzahl linker Labour-Abgeordneter hat die Vorschläge verurteilt. Aber anstatt zu erklären, warum die Nettozuwanderung so stark angestiegen ist, und die völlig betrügerische Verpflichtung von Reform zu einer „Netto-Null-Migration“ aufzudecken, werden Hunderte andere entweder schweigen oder so tun, als teilten sie die reaktionären Vorurteile, von denen sie sich die Rettung ihrer Parlamentssitze erhoffen. Diese Politik, die Ideen der Medien und Denkfabriken, die den Abgeordneten als Meinung der Wähler:innen verkauft werden, einfach zu wiederholen, anstatt als Sprachrohr und Fürsprecher:innen der allgemeinen Interessen der Klasse zu agieren, die sie angeblich vertreten, beschleunigt den endgültigen Zerfall der Labour-Partei als zusammenhaltende Kraft bei nationalen Wahlen.

Die Verantwortung dafür liegt bei den Abgeordneten, nicht bei den Wähler:innen. Die Verantwortung der Sozialist:innen besteht darin, in diesen Prozess einzugreifen, um den Exodus der von Labour abgestoßenen Arbeiter:innen von der Liquidierung ihrer Klasseninteressen weg von den liberalen Grünen, schottischen oder walisischen Nationalist:innen hin zu der Erkenntnis zu lenken, dass es der Reformismus als Politik ist, der bankrott ist, und nicht nur sein organisatorischer Ausdruck.

Die Verbindung, auf die wir hier drängen müssen, sind die Gewerkschaftsführer:innen, die aufgefordert werden müssen, nicht nur mit Worten zu verurteilen, sondern mit Taten gegen das vorzugehen, was einem umfassenden Angriff auf die demokratischen Rechte und den Zugang zu Dienstleistungen ihrer Mitglieder und der gesamten Klasse gleichkommt. Dies gilt gleichermaßen für Unison, die wichtigste Gewerkschaft im Gesundheits- und Sozialwesen, wie für PCS (Gewerkschaft für öffentliche und kommerzielle Dienstleistungen; d. Red.), deren Mitglieder die Einwanderungspolitik im öffentlichen Dienst leiten und umsetzen. Beide werden von selbsternannten Sozialist:innen geführt. Werden sie sozialistische Prinzipien in den Vordergrund stellen oder sich erneut dem Gesetz beugen?

Einwanderungskontrollen dienen dazu, die Arbeiter:innenklasse zu spalten, nationale Feindseligkeiten zu schüren und die extreme Rechte zu stärken, aber auch den Einfluss des sozialchauvinistischen Reformismus, indem sie gewerkschaftliche Methoden zur Verteidigung „britischer“ Arbeitsplätze gegen „ausländische“ Lohnabhängige fördern.

Internationalismus ist die absolute Grundlage der Stärke der Arbeiter:innenklasse und unerlässlich für die Entwicklung des Bewusstseins für ihr historisches Ziel – den internationalen Sozialismus, eine Gesellschaft, die bewusst die Wurzeln von Rassismus, Chauvinismus und allen Formen sozialer Unterdrückung und Ausbeutung ausrottet.

Internationalismus in Taten, nicht in Worten, unterscheidet Revolutionär:innen von Reformist:innen, und deshalb kämpfen wir dafür, alle Einwanderungskontrollen und alle Internierungslager abzuschaffen, den Widerstand der Gemeinden gegen Razzien der Grenzbehörde und die Selbstverteidigung gegen rassistische Pogrome zu organisieren und Aktionen der Arbeiter:innenklasse für gleiche Rechte für alle Arbeiter:innen, unabhängig von ihrer Nationalität, zu fordern.

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