Arbeiter:innenmacht

Hauptstadtzulage: Wir lassen uns nicht ausverkaufen!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 287, November 2024

Wir wurden beschissen. Das Land Berlin kassiert für einen Großteil der Berliner Beschäftigten des TV-L die in den Verhandlungen festgelegte Hauptstadtzulage von 150 Euro zusätzlich pro Monat ein. Das sind 1800 Euro jährlich weniger Gehalt als versprochen. Ein Ergebnis, das die Kampfkraft der Beschäftigten im öffentlichen Dienst noch weiter abschwächen kann und die Lagerspaltung in Form von zwei getrennten Tarifverträgen (TV-ÖD und TV-L), aber auch zwischen den Tarifbeschäftigten und deren Anwender:innen weiter verschärft.

Wie wir durch die TV-L-Tarifmanege geführt wurden

Bei der Tarifrunde der Länder von Oktober bis Dezember 2023 traten die Gewerkschaften mit der Forderung von 10,5 %, aber mindestens 500 Euro für jede/n Beschäftigte/n mehr pro Monat bei 1 Jahr Laufzeit an. Die Ganze endete jedoch, wie das Gros der Tarifauseinandersetzungen der letzten Jahre,  den Vorgaben der Konzertierten Aktion vom Juli 2022 gemäß. Dazu hatten sich Bundesregierung, Arbeit„geber“:innenvereinigung (BDA) und Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) verabredet, um im Sinne der Sozialpartner:innenschaft die Ergebnisse kommender Tarifauseinandersetzungen in geordnete Bahnen zu lenken. Inmitten zugespitzter Kriege, grassierender Inflation und Heizkrise sollten Risse im sozialen Kitt und größere Kämpfe unterbunden werden.

Dieser faule Kompromiss ging, wie alle diese Abkommen, auf Kosten der Beschäftigten und fand sich auch in der Tarifeinigung zwischen Gewerkschaften und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) wieder. Bezogen aufs Entgelt wurde für über ein Jahr eine Nullrunde beschlossen (1.10.23 – 31.10.24). In dieser Zeit gab es Einmalzahlungen in Höhe von 3.000 Euro, natürlich steuerfrei und ohne Lohnnebenkosten. Ab 1.11.24 sollen dann 200 Euro mehr gezahlt werden (brutto, bei Vollzeit) und ab 1.02.25 dann noch weitere 5,5 %, aber mindestens 140 Euro. Das macht nach Adam Riese 10,26 % und mindestens 340 Euro, aber nicht sofort, sondern knapp 14 Monate nach der Einigung bei 25 Monaten Laufzeit. Die Forderung von 12 Monaten Gesamtlaufzeit war zwar ein wesentliches Ziel, um gemeinsam mit den anderen Kolleg:innen des öffentlichen Dienstes in den Arbeitskampf treten zu können, wurde aber wieder einmal geopfert. Das Ergebnis bedeutete damals bereits einen Reallohnverlust.

Und jetzt?

Die Konzertierte Aktion zeigt auch, dass man sich über runde Tische leichter ziehen lassen kann. Denn die Forderungen, die wesentlich über die vorgezeichneten Ergebnisse hinausgingen, wurden in die Redaktionsverhandlungen mitgenommen. Das sind sogenannte Nachverhandlungen im Detail innerhalb des neuen Tarifabschlusses und, wichtiger noch, somit in der Friedenspflicht.

So auch die Hauptstadtzulage. Im sogenannten Tarifeinigungspapier vom 9.12.2023 heißt es: „Die vom Land Berlin bislang außertariflich gezahlte Hauptstadtzulage an Beschäftigte und auszubildende Personen […] wird von der TdL und den Gewerkschaften tarifiert“ (Tarifeinigung, S. 8; Link: https://oeffentlicher-dienst.info/g/tv-l-tarifeinigung-2023). Ver.di kommunizierte den Mitgliedern damals für die Abstimmung zum Einigungsvorschlag, dass die Hauptstadtzulage Teil des Tarifvertrags werden solle – also für alle.

Jetzt hat das Land Berlin in den Nachverhandlungen geäußert, dass es die Formulierung so deutet, dass nur jene, die bereits vor der Einigung eine Hauptstadtzulage erhalten haben, diese weiterhin ausgezahlt bekommen. Die Gewerkschaften hingegen berufen sich auf die mündliche Übereinkunft, dass die Auszahlung für alle geschehe, also auch die Anwender:innen und jene, die das Geld bis dahin nicht erhalten haben. Diese Formulierung hat es aber leider nicht ins Protokoll geschafft. Nun wolle das Land – ach, welch Wunder – von der mündlichen Zusage nichts mehr wissen. Es sei kein verlässlicher Verhandlungspartner mehr.

Wer hat uns jetzt eigentlich beschissen?

Keine Frage: Das Verhalten des Senats ist eine Sauerei. Verwunderlich oder gar überraschend ist das – siehe nur die Ablehnung eines Tarifvertrags Entlastung an Schulen und in Kitas – für niemand.

Wir klassenkämpferische Gewerkschafter:innen haben nun die Aufgabe, dieses jüngste Manöver zu entlarven – aber auch die treuherzige, sozialpartnerschaftliche Politik der Gewerkschaftsapparate, die in der Tarifgemeinschaft der Länder keine Vertreter:innen des kapitalistischen Staates und seiner Interessen, sondern noch immer „Partner:innen“ erblicken. Mehr noch, die Verhandlungsführer:innen von ver.di, GEW und dbb waren schon in der Tarifrunde damit befasst, die eigene Streikfähigkeit kleinzureden, auch entgegen den wirklichen Zahlen auf der Straße. Und sie sehen ihrer Aufgabe von Beginn an darin, die Erwartungen zu dämpfen. So sagte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle beim ersten Treffen der Tarifbotschafter:innen, dass wir nicht sofort tabellenwirksame Entgelterhöhungen erwarten dürften. Ver.di-Vorsitzender Frank Werneke erzählte uns gleich darauf, dass die Krise sogar ausgeblieben sei und malte sich die Welt, widdewidde, wie sie ihm gefällt.

Ihre Verhandlungsführung mit Appellen an die Sozialpartner:innenschaft und Geheimverhandlungen ist einmal mehr gescheitert. Doch statt das offen zu benennen und die Konsequenzen daraus zu diskutieren, soll es jetzt an Verfahrensfehlern, individuellen Schwächen und dem bösen, bösen Land Berlin gelegen haben. Apolitische Argumente, die wir nicht hinnehmen dürfen. Sie zeigen, dass Nachverhandlungen, Friedenspflicht, Schlichtungsvereinbarungen und Expert:innenrunden nicht unser Interesse sind. Wir brauchen direkt wähl- und abwählbare Streik- und Verhandlungsführer:innen, gläserne Unterhandlungen und eine Kampfführung, die von Beginn an darauf abzielt, erfolgreich zu sein. Auch das Argument, dass die Gewerkschaftssekretär:innen unbedingt aufgrund ihrer Expertise Verhandlungsführer:innen sein müssten, entlarvt der angebliche Formfehler als bloße Schutzbehauptung, um die Kontrolle über den Kampf beim Apparat zu belassen.

Aber in einem Punkt ist der Plan bisher aufgegangen: Wo sind die Kolleg:innen aktuell? In der Friedenszeit, also am Arbeitsplatz. Wo sind die Massenversammlungen, die darüber diskutieren? Aktuell haben wir solche Informationen nicht zentral von den Gewerkschaften erhalten, sondern nur gewerkschaftlich Aktive wissen es. Und, was ist die Strategie der Gewerkschaftsbürokratie? Sie moralisiert weiter, also ob es ein Problem des „guten Willens“ des Senats sei. Das Geld ist da, es steckt in den Munitionsfabriken und bei den anderen Krisengewinnler:innen.

Was wir brauchen, sind offene Versammlungen der Gewerkschaften zur Weiterführung des Kampfes, aber auch in den Betrieben. Wir brauchen den Aufbau einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsopposition, denn nur so können wir statt drohender Demoralisierung den Unmut in Widerstand gegen die sogenannte Arbeitgeber:innenseite und ihre Freund:innen im Gewerkschaftsapparat verwandeln.

image_pdf

Related Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vom Widerstand zur Befreiung

Für ein freies, demokratisches, sozialistisches Palästina!

Broschüre, A4, 48 Seiten, 3,- Euro

Lage der Klasse – Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Internationalistisches revolutionäres Sommercamp

Südamerika - Politik, Gesellschaft und Natur

Ein politisches Reisetagebuch
Südamerika: Politik, Gesellschaft und Natur
Ich reise ein Jahr durch Südamerika und versuche in dieser Zeit viel über die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch die Landschaften zu lernen und möchte euch gerne daran teilhaben lassen