Dave Stockton, Infomail 1075, 2. November 2019
Der Irak ist wieder einmal Schauplatz massiver Proteste. In der Hauptstadt und in den südlichen Städten wurden Demonstrationen mit tausenden TeilnehmerInnen durch Tränengas und von Polizeischarfschützen mit scharfer Munition zerstreut. Eine riesige Kundgebung in Sadr City in Bagdad – einem Bezirk mit 3,5 Millionen EinwohnerInnen – wurde brutal aufgelöst. UN-BeamtInnene in der Stadt haben „einen sinnlosen Verlust von Menschenleben“ verurteilt. Nachrichtenagenturen haben berichtet, dass bisher etwa 200 Menschen getötet und 7.000 verletzt wurden. Die Regierung hat den Zugang zu Facebook und WhatsApp in einem vergeblichen Versuch, die Mobilisierungen zu stoppen, eingeschränkt.
Die Probleme, die den Ausbruch de Wut ausgelöst haben, sind die Massenarbeitslosigkeit und das Fehlen der grundlegendsten öffentlichen Dienste: dies im siebzehnten Jahr, seit die amerikanischen und britischen Streitkräfte das Regime von Saddam Hussein gestürzt haben. So entsetzlich das totalitäre Regime des Diktators auch war, die „Freiheit“, die die westlichen Verbündeten mit ihren Panzern und „Schock auslösenden und Furcht gebietenden Bomben“ brachten, bedeutete sozialen Zusammenbruch, endlosen Krieg und außergerichtliche Morde.
Die Ereignisse zeigen, dass der Sieg über IS, den „Islamischen Staat“, der vor zwei Jahren von den Vereinigten Staaten von Amerika lautstark verkündet wurde, wenig oder gar nichts dazu beigetragen hat, das Leben der BürgerInnen des Landes zu verbessern.
„Es sind 16 Jahre Korruption und Ungerechtigkeit“, gibt die britische Zeitung „Guardian“ die Äußerung von Abbas Najm, einem 43-jährigen arbeitslosen Ingenieur, bei einer Demonstration wieder. DemonstrantInnen streiten jegliche Verbindungen zu Parteien oder Milizen ab, die sie als Teil der vielen Probleme des Landes betrachten. In der Tat, in der südlichen Stadt Nasiriyah verbrannten Protestierende die Büros von sechs politischen Parteien, die versucht hatten, die Situation für sich zu nutzen. Berichte deuten darauf hin, dass die Intervention des schiitischen Klerikers Moktada al-Sadr nicht willkommen ist. Ein Demonstrant wird zitiert mit den Worten: „Diese Männer vertreten uns nicht. Wir wollen keine Parteien mehr. Wir wollen nicht, dass jemand in unserem Namen spricht.“
Der Irak, der fünftgrößte Ölproduzent der Welt, leidet unter der grassierenden Korruption von Regierung und Verwaltung, während seine 40 Millionen Menschen unter schrecklichen Bedingungen leben: 22 Prozent leben nach UN-Zahlen in absoluter Armut und Entbehrung. Laut Weltbank sind 25 Prozent der jungen Menschen arbeitslos.
Dies, ebenso wie der Einsatz von scharfer Munition gegen die Menge, hat die Proteste zu einer Bewegung gemacht, die den Sturz der Regierung von Ministerpräsident Adil Abd al-Mahdi fordert. Irakische Regierungen seit 2003 sind Koalitionen, in denen konkurrierende Parteien zusammenarbeiten, um die Ressourcen des Staates zu plündern. In vielerlei Hinsicht erinnert diese Bewegung an die Anfänge des Arabischen Frühlings, dem der Irak aufgrund der anhaltenden Kriegsführung weitgehend „entkommen“ ist.
Als Reaktion darauf hat die Regierung verzweifelt zwei Pakete sozialer Reformen versprochen, aber sobald die Massen entschlossen sind, die korrupte Bande von PolitikerInnen, Klerikern und Generälen loszuwerden, werden solche schwachen Mittel die Lage wahrscheinlich nicht lange beruhigen.
Die Ereignisse im Irak und die anhaltenden Proteste in ganz Ägypten gegen die brutale Diktatur des Generals Abd al-Fattah as-Sisi zeigen, dass die Millionen junger Menschen in der Region, deren Frühling durch den eisigen Frost der Konterrevolution in all diesen Ländern zunichtegemacht wurde, immer wieder von einem tiefen sozioökonomischen Druck und der Sehnsucht nach Freiheit zur Revolte angetrieben werden.
Die eigentliche Frage ist, ob sie die Strategien und die Führung finden können, um eine Revolution zu machen, die ihnen Macht in die Hände legt, eine ArbeiterInnendemokratie schafft und eine Konterrevolution durch die Generäle, KapitalistInnen und den Imperialismus unmöglich macht.