Jürgen Roth, Neue Internationale 287, November 2024
Gleich mehrere Institute senkten ihre Konjunkturprognosen für die deutsche Wirtschaft. Doch ihre Ursachenanalysen und präsentierten Rezepte für den Aufschwung lassen zu wünschen übrig.
Von einem verlorenen halben Jahrzehnt sprach Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), anlässlich der Vorstellung der neuen Konjunkturprognose seines Hauses am 24.9.2024. Das als gewerkschaftsnah geltende Institut revidierte im Einklang mit anderen vergleichbaren Einrichtungen seine Voraussagen nach unten. Demnach soll das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2024 stagnieren und auf demselben Niveau wie vor 5 Jahren vor der Coronakrise verharren. 2025 steigt es um 0,7 %; ein Minus von 0,2 Prozentpunkten im Vergleich zur letzten Prognose vom Juni. Vom 2. aufs 3. Quartal 2024 nahm es um 0,1 % ab, dito zum 3. Vorjahrsquartal. 5 aufeinanderfolgende Quartale fand kein Wachstum statt. Die deutsche Wirtschaft stagniert de facto seit 4 Jahren.
Die Inflation werde 2025 auf den Zielwert von 2 % sinken. Im Zusammenspiel mit steigenden Löhnen aufgrund „hoher“ Tarifabschlüsse werde der private Konsum um 1,5 % zulegen und mutiere somit zur zentralen Konjunkturstütze, während exportorientierte Unternehmen von einer moderat wachsenden Weltökonomie, darunter auch China und die USA, v. a. aber Indien und andere Schwellenländer, kaum profitieren dürften. Lt. IMK lasse der Export 2024 um 0,7 % nach, ziehe erst 2025 um 1,8 % an, um somit auch nur knapp den Stand vor der Pandemie zu erreichen.
Das IMK führt als Ursachen außen- und binnenwirtschaftliche sowie politische Faktoren an. Vergleichsweise hohe Energiepreise in der BRD, die nationalen Industriepolitiken Chinas und der USA (Konjunkturprogramme etc.) trügen ebenso zur Eintrübung bei wie protektionistische Zölle. Auf Drittmärkten verschärfe sich zudem die Lage für deutsche Exporteur:innen aufgrund zunehmender Konkurrenz durch China (E-Mobilität).
Der Teufelskreis wird nach Meinung des Instituts geschlossen durch die Unsicherheit, wohin die Reise hinsichtlich der Antriebstechnologie des Automobils geht. Schlechte wirtschaftliche Aussichten paaren sich mit dieser Ungewissheit im Resultat sinkender Ausrüstungsinvestitionen. Bei langristigen Anschaffungen von Maschinen und technischen Anlagen erwartet das IMK dieses Jahr ein Minus von 5,9 %, für 2025 lediglich ein Plus von 1,7 %. Aber gerade die bestimmen maßgeblich Profitabilität und Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, bilden also den strategischen Schlüssel gerade für die deutsche Exportindustrie und stellen die Weichen in Richtung Überholspur oder Abstellgleis!
Um den diabolischen Zirkel zu durchbrechen, braucht es lt. IMK massive öffentliche Investitionen und eine klar erkennbare Wirtschaftspolitik in Richtung ökologischer Transformation. Einer gemeinsamen (!) Schätzung mit dem unternehmensnahen Institut der Deutschen Wirtschaft zufolge beläuft sich der Bedarf auf 600 Mrd. Euro in den nächsten 10 Jahren zum Stopfen der Finanzierungslücken in den Bereichen Bildung, erneuerbare Energien, Netze und Verkehrsinfrastruktur. Doch das Schicksal des einst hochgejubelten Transformationsfonds zeigt: Die Wirtschaftspolitik der Ampel zielt in andere Richtung. Derzeit würden gemäß IMK öffentliche Ausgaben v. a. für die Beschaffung neuer Waffensysteme erhöht. Die von der Regierung angekündigte Wachstumsinitiative sei nahezu unkonkret und wirkungslos. Hektische Kürzungen und Abgabenerhöhungen steigerten die Unsicherheit.
Dasselbe gelte auch für die EU-Ebene. Eine koordinierte Industriepolitik müsse sich, so das IMK, auf Sektoren konzentrieren, wo mit Wachstum und Technologiefortschritten zu rechnen sei. Es schlägt folglich, den Bereich E-Mobilität im Visier, „soziale Leasingmaßnahmen“ zur Ankurbelung des Kaufs von E-Autos vor. Die „Abwrackprämie“ erhebt wieder ihr Medusenhaupt.
Kein Wunder, dass, statt eine echte Transformation des Verkehrs weg vom PkW hin zum Ausbau des ÖPNV und der Bahn anzupeilen, hier unter grünem Deckmäntelchen der deutschen Automobilindustrie unter die Arme gegriffen werden, also der Wagenheber angesetzt werden soll. Sie ist gemessen am Umsatz die größte Branche des verarbeitenden Gewerbes und mit Abstand wichtigster Industriezweig mit einem Umsatz von 564 Mrd. Euro und rund 780.000 Beschäftigten. Derzeit arbeitet sie im Inland mit zwei Dritteln Kapazitätsauslastung, bei VW noch weniger. Der Absatz von E-Autos schrumpfte im August auf 14 % der Neuzulassungen. In 17 der 27 EU-Länder ist er rückläufig. Die für viele Milliarden umgerüsteten VW-Werke in Emden und Zwickau liegen praktisch brach. Die Elektrovehikelkrise trifft zudem auf einen insgesamt schrumpfenden Neuwagenmarkt. Lt. Prognose der Unternehmensberatung EY werden 2024 in der EU 2 Millionen weniger Neuwagen verkauft werden als 2019. Zwei Drittel ihres Umsatzes tätigen die Konzerne im Ausland, insbes. außerhalb der EU. Doch dort werden viele Millionen Autos produziert. Allein VW betreibt in China 39 Fabriken mit 90.000 Beschäftigten. Der Kaufrausch im größten Abnehmerland scheint aber vorbei, nicht zuletzt aufgrund der aufstrebenden chinesischen Automobilfertigung. Dasselbe gilt für BMW und Mercedes. Daimler gab jüngst eine Gewinnwarnung für den chinesischen Markt heraus.
Hier werden 2 Gruppen genannt: zum einen das Management, das den Umstieg auf die neue Antriebstechnologie verpennt habe, zum anderen staatlich subventionierte Anbieter:innen aus der Volksrepublik China, die mit ihren „Überkapazitäten“ den Weltmarkt überschwemmten. Als Verteidigung der nationalen Schlüsselindustrie gelten Verkaufsprämien, Schutzzölle, billigere Energie und schwächere Umweltauflagen und natürlich Angriffe auf die Belegschaften wie Entlassungen, Rationalisierungen, Lohneinbußen usw. Alles keine Frage der Zukunft, sondern bereits im Gange!
Doch unter dem Deckmantel dieser Defensivmaßnahmen werden auch Offensivstrategien zur Verdrängung der Weltmarktkonkurrenz geschmiedet. Während der Automobilsektor in der BRD 11 % der gesamten Industrieproduktion ausmacht, sind es in Frankreich nur 7 % und in Italien 5 %. Zudem liefert er 40 % aller Patentanmeldungen. In den vergangenen Jahrzehnten haben die deutschen Hersteller:innen Preis- und Innovationskriege geführt – und gewonnen. Im „goldenen Zeitalter“ nach der Jahrtausendwende haben sie ihre Produktivität mittels Automatisierung und Produktionsverlagerung gesteigert, die Konkurrenz aufgekauft oder an den Rand gedrängt. Damals begann die Verschiebung des Weltautomarktes nach Asien. Anders als die Wettbewerber:innen in Europa konnte die deutsche Automobilindustrie davon profitieren. Frankreich und Italien verloren dagegen seit 2000 über die Hälfte ihrer Produktionsmengen.
Das Geschäftsmodell steht seitdem auf 2 Säulen: Erstens Verlagerung von Produktion und Verkauf ins billigere Ausland, insbes. die VR China; zweitens Konzentration aufs höherpreisige Segment (z. B. SUVs). Die größte Gefahr rührt denn auch nicht von einer verschlafenen Antriebstechnologiewende her, sondern von Bedrohungen für diese 2 Säulen.
Ab 2018 kam es auch in Deutschland zu Produktionsrückgängen, doch im Vergleich mit anderen traditionellen Automobilländern Europas hielt sich das deutsche Branchenkapital in den letzten 25 Jahren noch gut. Aktuell leidet es v. a. an einer innereuropäischen Absatzkrise mit 3 Millionen weniger PkW-Zulassungen als 2019. Entscheidend aber ist das nachlassende Absatzplus im einzig verbleibenden Wachstumsmarkt China, wo die deutschen Autohersteller BMW, Mercedes und VW immerhin einen Marktanteil von 20 % aufweisen. Zudem konzentriert sich ausgerechnet dort das Wachstum auf Elektromobile, wo die Deutschen aufgrund starker einheimischer Konkurrenz nur 5 % Marktanteil haben. Vorbei sind also die Zeiten, in denen das starke chinesische Wachstum die Probleme auf anderen Märkten (mehr als) ausgeglichen hatte.
Trotz Absatzschwierigkeiten generierte VW aber in den Jahren nach Corona jährlich Gewinne zwischen 20 und 25 Mrd. Euro und schüttete für 2023 4,5 Mrd. an Dividenden für seine Aktionär:innen aus. Eine katastrophale Krise sieht anders aus. Doch das Problem der Überkapazitäten (s. o.) drückt insbesondere bei Technologieführerschaft und folglich hoher organischer Zusammensetzung des eingesetzten Kapitals. Also suchen insbes. die deutschen Autokonzerne für ihre modernisierten Fabriken Absatzmärkte und müssen folglich der Konkurrenz Überkapazitäten aufhalsen. Die verschlafene Antriebswende muss dabei als Krisenursache relativiert werden. Deutschland ist zweitgrößter Produzent bei E-Autos, weit hinter China und knapp vor den USA. Sein Weltmarktanteil hier liegt mit 15 % nur geringfügig unter dem am Gesamtfahrzeugmarkt und es verfügt immer noch über die meisten internationalen Patentanmeldungen für diesen Antriebsstrang. Doch das Problem ist, dass gerade im Elektrofahrzeugsektor neue Anbieter:innen mit immer mehr Erfolg aufs Premiumsegment abzielen, v. a. chinesische.
Diese Fakten mögen erklären, dass die BRD wieder zum verlässlichen Verbündeten der USA geworden ist. So wird die Option, dem europäischen Klimaschutz mittels Import preisgünstiger chinesischer E-Autos auf die Sprünge zu helfen, unisono verworfen. Dabei spielt berechtigter Zweifel an der ökologischen Nachhaltigkeit einer reinen Antriebswende sicher keine Rolle. Es braucht nationale und kontinentale Schutzzollpolitiken, die die internationale Marktoffensive untermauern sollen – flankiert von einer einsatzfähigen Bundeswehr als Sicherheitstruppe für den „Freihandel“, natürlich nur den eigenen. Unter den zehn aktivsten Staaten bei der Errichtung neuer Handelshemmnisse befinden sich mit China, den USA und Großbritannien die 3 größten Importeur:innen deutscher PkWs. Die inzwischen wieder zum größten deutschen Exportmarkt geratenen USA, die ihren eigenen Kampf gegen China führen, bieten sich dabei wieder als Schutzmacht an. Am 27. September beschloss Washington die Einführung von Importzöllen auf chinesische E-Autos bis zu 100 %!
Gerade ging die Jahrestagung von Weltbank und IWF zu Ende. Man klopfte sich auf die eigene Schulter, weil das Gespenst der Inflation seinen Schrecken eingebüßt hat. Dies mag voreilig sein und liegt v. a. an den Energiepreisen, während die Kerninflationsgefahr aufgrund von zerrissenen Lieferketten längst nicht vom Tisch ist. Doch schon tun sich neue Baustellen auf: die beängstigende Zunahme der Verschuldung und die unklare Finanzierung der Klimaschutzmaßnahmen gemäß Pariser Abkommen.
Die BRD-Wirtschaft ist davon natürlich nicht abgekoppelt. Aber ihr Zustand lässt sich weder mit Konjunturprognosen noch den strukturellen Problemen ihres industriellen Flaggschiffs Automobilindustrie hinreichend beschreiben. Hinzuzufügen ist zum einen das außerordentliche Gewicht ihres Niedriglohnsektors auf einem quasi dualen Arbeitsmarkt. Dazu – definiert als Bezieher:innen von weniger als 2/3 des medianen Einkommens – gehört ungefähr ein Viertel der lohnarbeitenden Bevölkerung hierzulande. Damit liegt die BRD in der Eurozone nur noch vor Litauen. Wie in vielen EU-Ländern verharren die Reallöhne immer noch unter dem Stand vor der Coronapandemie. Lt. Berechnungen des IWF reduzieren steigende Energiekosten das Wachstumspotenzial um 1,25 % pro Jahr. Die Erholung der Profirate, die mit Einführung des Euro (leichterer Zugang für die konkurrenzfähige BRD-Wirtschaft zu anderen EU-Ländern), der Verlagerung und dem Neuaufbau von Industriekapazitäten nach und in Osteuropa (Bildung neuer Lieferketten) sowie Zunahme des prekären Sektors (Hatz IV) einherging, ist vorbei. Sie sank nach der Rezession 2008 – 2009 und befindet sich nach der Pandemie auf einem historischen Tiefstand. Aktuell verzeichnen wir ein Sinken der absoluten Profitmasse, was Ursache der Konjunkturdelle ist. Das Heilmittel der neokeynesianischen Schule, der auch das o. a. IMK zuzuordnen ist, dagegen lautet: Korrektur der Exportüberschüsse (Ungleichgewicht der Wirtschaft) mittels steigenden Endverbraucher:innenkonsums. Doch die Talsohle 2020 war eben nicht Resultat nachlassenden Endverbrauchs (+1 %), sondern verminderter Investitionen aufgrund sinkender Profitabilität (-7 %). Auch das „Ungleichgewicht“ hat sich nicht verschärft, sondern bleibt wie in den 2010er Jahren bei einem Jahreshandelsbilanzüberschuss von 20 Mrd. Euro. Allerdings ist dies bei stagnierendem Export auf den Rückgang der Importe zurückzuführen (Produktionseinschränkung mit der Folge geringerer Abnahme von Vor- und Rohprodukten).
Fazit: Die Auswirkungen der Depression seit 2008/09 haben auch die fortgeschrittenste Ökonomie Europas getroffen. Die Nibelungentreue zu den USA wurde und wird mit kurz- bis mittelfristigen Einschränkungen (Energiepreise) zum Schaden der Industrie, aber v. a. der Ärmsten erkauft. Für viele kleinere und mittlere Unternehmen macht sie zunehmend weniger Sinn, doch langfristig diktieren hier die übergeordneten Interessen der Weltmarktbranchen (s. o.).
Ende September 2024 gab Mario Draghi, Ex-EZB-Chef, im Auftrag der EU-Kommission seinen Bericht zur Lage der europäischen Wirtschaft ab. Demnach befanden sich die BRD, Schweden und Österreich bereits in einer Rezession; Finnland, Frankreich und Italien stagnierten praktisch. In den letzten 2 Jahrzehnten ist die EU hinter ihre Hauptkonkurrent:innen zurückgefallen, was Anteil an Welthandel und -bruttosozialprodukt betrifft. Der Anteil von US-Investitionen am BIP fällt zwar geringer aus als in der EU, doch liegt das nicht an deren absolutem Rückgang, sondern an viel schneller als in Europa steigender Gesamtwertschöpfung.
Draghi sprach von existenzieller Krise. Er empfiehlt einen einheitlichen Finanzmarkt in der EU als Gegenmittel. Die Ursache für dieses Zurückbleiben ist jedoch in der sich besonders seit 2017 auftuenden Rentabilitätsdifferenz bei produktiven Investitionen zu suchen, nicht in Finanztechnik. Draghi nennt auch öffentliche Investitionen in Zukunftstechnologien als Ausweg. Dabei schielt er mit einem neidischen Auge auf die Flaggschiffe der Industrie in den USA, Hightech und besonders IT. In Europa sei die Kapitalzentralisation geringer und viele Investitionen flössen in ausgereifte, weniger neue Technologien. Öffentliche Subventionen in diese müssten gekappt werden, um den Rückstand aufzuholen. Der Wink mit dem Zaunpfahl: Noch wichtiger und drastischer zu beschneiden als „falsche“ Industriesubventionen sind vom Standpunkt des Kapitals aus unproduktive Ausgaben wie für Soziales, Gesundheit und Bildung!
Ob man nun das deutsche Flaggschiff Autombilindustrie als ausgereift und wenig innovationsfähig bezeichnen kann und demenstprechend ihre Weltmarktstrategie für unpassend, sei dahingestellt. Jedenfalls dürften nicht nur Automobilarbeiter:innen angegriffen werden, um die Karre aus dem Dreck zu ziehen, sondern alle europäischen Lohnabhängigen, wenn sich die Aufholjagd zu den USA und China erfolgreich fürs „eigene“ Kapital gestalten soll.
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