Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1268, 7. November 2024
Mittwoch, 21:25 Uhr: Scholz tritt im Bundeskanzleramt vor die Kamera. In gewohnter, trockener Art erklärt er, was wenige Minuten zuvor durch die Medien als Eilmeldung raste: als Kanzler habe er Finanzminister Christian Lindner aus seinem Amt entlassen. Dieser Schritt sei notwendig, um Schaden von Deutschland abzuwenden, um es nicht im Chaos versinken zu lassen. Lindners Kompromisslosigkeit diene nicht dem Land, sondern der Rettung seiner eigenen Partei. Offensive Worte, die von Seiten der SPD doch recht unerwartet kommen – schließlich bedeuten sie das Ende der Ampelregierung. Aber was ist passiert und welche Entwicklungen stehen hinter der Regierungskrise?
Gehässig kann man sich an die Worte Lindners „Lieber nicht regieren als schlecht“ erinnern. Denn seit Monaten kriselte es, Seitenhiebe der Opposition wie von Markus Söder gab es viele. Auch Merz gab sich die besten Mühen, die Regierung vor sich herzutreiben. Die Chronologie der Streitigkeiten ist lang: Heizungsgesetz, Investitionsfonds, Kindergrundsicherung, Bürgergeld und schließlich die Frage des Haushalts. Immer wieder haben sich die Regierungsparteien gegenseitig blockiert und versucht, durch öffentliche Stellungnahmen ihre Positionen durchzusetzen. Seit September haben sich die Risse dann noch einmal klarer gezeigt. Lindner veröffentlichte an den Kolleg:innen vorbei ein 18-seitiges Papier für eine ganz andere Wirtschaftspolitik, als der Koalitionsvertrag vorsieht.
Und dennoch kam das Ende ein bisschen unvermittelt. Während sich nach der Wahl Trumps Habeck und Scholz noch bemühten, Einigkeit zu heucheln, und erklärten, dass man nun als Deutschland Handlungsfähigkeit zeigen müsse, ist davon am Abend nicht mehr viel übrig geblieben. Wenn man den Worten Lindners glauben mag, so schien auch er ganz überrascht, dass nach dem monatelangen Gezeter der Liberalen und öffentlichen Bloßstellungen der ehemaligen „Partner:innen“ die Ampel nicht so endete, dass man gemeinsam und „würdevoll“ Neuwahlen verkündet, sondern er als Minister entlassen wurde. Ob dies inszeniert ist oder nicht, ist egal. Klar ist, dass dieser Weg zumindest für SPD und FDP etwas Positives hat: Für das Ende können sie sich nun gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben versuchen. So gab es für Scholz ausnahmsweise stehende Ovationen in der SPD-Parlamentsfraktion für den Bruch mit der FDP. Diese wiederum stärkte – jedenfalls nach außen – ihrem Parteichef den Rücken. Die Grünen hingegen wirkten am wenigsten vorbereitet, sind sie doch selbst auf der Suche nach neuen Vorsitzenden Für sie kommt der absehbare, vorzeitige Bruch der Koalition zur Unzeit – und das merkte man auch.
So ist es nicht verwunderlich, dass Scholz seine Rede gleich als Wahlkampfauftakt für die SPD nutzte. In vier Punkten skizzierte er sein Vorhaben, damit das Land nicht in Chaos versinke: 1. Deckelung der Netzentgelte für „unsere“ Unternehmen; 2. Sicherung der Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und bei Zulieferern; 3. Investitionsprämien sowie steuerliche Abschreibemöglichkeiten für Unternehmen; 4. Unterstützung der Ukraine unabhängig von den USA.
Vergleicht man dann die Reden von SPD, Grünen und FDP von gestern Abend wird sehr schnell deutlich, wo die Unterschiede liegen: Wie stehen sie zur Schuldenbremse? Diese müsse aufgehoben werden, um durch Erhöhung der Staatsschulden die Mittel für mehr Wirtschaftsförderung, weitere Aufrüstung und Waffenlieferungen bereitstellen zu können und gleichzeitig auch über Mittel für die soziale Abfederung der Rezession und der massiven Umstrukturierung der Unternehmen zu verfügen.
Das vorzeitige Ampel-Aus verdeutlicht somit die Krise der bürgerlichen Parteienlandschaft angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation in Deutschland. Es geht um die zentrale Frage, wer für die Kosten zahlen soll (und wofür Schulden überhaupt aufgenommen werden sollen). Zum Aufrüstungskurs, zur Militarisierung hat die FDP eigentlich gar keine Differenzen zur SPD, ist eigentlich noch kriegstreiberischer – aber bezahlt werden soll das nicht durch Neuverschuldung, sondern durch rigorosen Sozialabbau beim Bürgergeld, bei Geflüchteten, dem Renteneintrittsalter und den „überregulierten“ Arbeitsverhältnissen.
Die FDP hat dazu klare Vorstellungen, die Lindner auch in seinem „geleakten“ Papier vorstellt. Geplante Angriffe aufs Streikrecht, eiskaltes Durchsetzen der Schuldenbremse, weitere Kürzungen im sozialen Bereich. Zahlen sollen die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten – und zwar in voller Härte, nicht mit dosierter, wie es SPD und Grünen vorschwebt. Steuererhöhungen für Unternehmen darf es auf keinen Fall geben. SPD und Grüne stehen hingegen für einen Transformationskurs im klassisch keynesianischen Stil: Lieber mehr Schulden aufnehmen und, wie Scholz es sagte, nicht „innere und äußere Sicherheit“ gegeneinander ausspielen. Also die Interessen des deutschen Imperialismus mit Sozialschaum verfolgen.
Da die FDP innerhalb des Koalitionszeitraums auf unter 5 % gefallen ist und bei allen Landtagswahlen eine grandiose Bauchlandung hingelegt hat, ist für sie diese Debatte auch eine Frage der Existenz. Nicht nur, dass die Partei selbst in den letzten Monaten eine innere Rechtsentwicklung hingelegt hat, bei der auch Lindners Führung beispielsweise durch Initiativen wie „Weckruf FREIHEIT“ in Frage gestellt worden ist, sondern kein Einknicken bei der Schuldenbremse, zur Not auch in Kauf nehmen, dass die Koalition daran zerbricht – das ist Einsatz für die eigene Wähler:innenschaft, den SPD und Linkspartei seit Jahren vermissen lassen.
Ebenso hat es die Differenzen in der Ausrichtung zwischen Sozialdemokratie und Liberalen schon immer gegeben. Dass sie zur Regierungskrise führt, hat also tiefere Ursachen als der Stimmenverlust der FDP.
Als die „Fortschritts“koalition zusammenkam, gab es weder Ukraine- noch Gazakrieg. So gesehen ist die Ampel auch Opfer der Zeitenwende, die Scholz damals selbst verkündete. Denn inmitten von Krieg, Inflation und Rezession lässt sich eben das Gönnerhafte nicht leicht verwirklichen. Zumindest nicht, wenn man sich darauf beschränkt, Realpolitik im Parlament zu betreiben und das Interesse der zu „unserer Wirtschaft“ verklärten herrschenden Klasse fest im Blick hat.
Hintergrund der Verteilungskrise ist dabei die wirtschaftliche Entwicklung seit der Finanzkrise 2007/2008. Auch wenn diese durch konterzyklische Maßnahmen und die Ausweitung von Kredit und Schulden gebremst werden konnte, so doch nur um den Preis der Fortschreibung ihre Ursachen – fallender Profitraten und Überakkumulation von Kapital. Mit der synchronisierten globalen Rezession infolge der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg hat sich die Situation für den deutschen Imperialismus, der sich bis dahin recht gut halten konnte, zugespitzt. Der Exportnation haben gestiegene Energiepreise massiv zu schaffen gemacht. Hinzu kommen Konkurrenzdruck und Erneuerungszwang in einem der Kernsektoren der deutschen Industrie, der Autoindustrie. Genauer haben wir die aktuelle Situation im Artikel „Düstere Wolken“ beleuchtet.
Das Ergebnis ist jedoch, dass die aktuelle Rezession in Kombination mit der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre den Spielraum für die in Deutschland bislang etablierte Sozialpartner:innenschaft massiv verringert und somit auch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen den Klassen in Frage stellt.
Ein weiterer Effekt dieser Entwicklung ist der internationale Rechtsruck. Im Zuge der Krisenhaftigkeit stieg die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen und die Lage des Kleinbürger:innentums und der lohnabhängigen Mittelschichten wird unsicherer und instabiler, was sich in Deutschland beispielsweise in der Gründung der AfD ausdrückte. Gleichzeitig versuchte der deutsche Imperialismus während der Merkel-Ära, in der internationalen Politik zwischen den USA einerseits und Russland und China andererseits zu lavieren, was selbst Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse um die strategische Ausrichtung der Bundesrepublik und der EU widerspiegelte. Mit Zunahme der innerimperialistischen Konfrontationen und Blockbildung ist dies schwieriger geworden. Der Ukrainekrieg stellt hier eine Zäsur dar, weil ein strategisches Bündnis mit Russland, wie es noch Kohl und Schröder, aber auch Teile der Merkel-Regierungen angestrebt hatten, in weite Ferne gerückt ist. Das muss jedoch nicht immer so bleiben, denn der Gewinn Trumps bei den US-Wahlen stellt natürlich auch die transatlantische Ausrichtung von BRD und EU in Frage. So zeigt sich das Problem deutlich bei der Ukrainepolitik. Einerseits wird mantraartig die Unterstützung der Ukraine garantiert und von der CDU/CSU wird noch deren Ausweitung gefordert. Andererseits vermag Deutschland selbst natürlich die USA nicht zu ersetzen und ein dauerhafter Krieg in Europa stellt eigentlich eher eine Belastung denn einen strategischen Vorteil dar (wie die AfD und das BSW offen, Teile von SPD und CDU eher verdeckt denken).
Auch wenn vor Neuwahlen ihre Neubestimmung durch die bisherigen Ampelparteien und die Union vermieden wird, so ist es schwer vorstellbar, dass die EU eine alternative Politik zu einer Befriedung unter Trump im Bündnis mit Putin durchsetzen könnte. Die Unterstützungsbeteuerungen für die Ukraine tragen daher einen widersprüchlichen Charakter. Man versucht, sich als ihre „humanitäre“ Schutzmacht zu profilieren und hat gleichzeitig in den letzten Jahren auch die Übernahme der Wirtschaft des Landes und den Wiederaufbau der Westukraine durch deutsches und US-Kapital in die Wege geleitet. Man will auf jeden Fall auch ihre Aufrüstung an der Frontlinie zu Russland (die dann faktisch durch ihr bisheriges Territorium verliefe). Andererseits kann man sich einen dauerhaften Krieg ökonomisch, politisch und militärisch, ohne dass dieser von den USA getragen wird, nicht leisten.
Ganz unabhängig von der Lage in der Ukraine wird es jedoch zu einer massiven Beschleunigung der europäischen Aufrüstung führen (inklusive einer möglichen Debatte um die „nukleare Unabhängigkeit der Bundesrepublik“), zu einem neuen Versuch, die EU-Rüstungsindustrie konkurrenzfähiger zu machen und so längerfristig Europa, also die deutsche Vorherrschaft in der EU, zu stärken. Das Problem der deutschen Bourgeoisie besteht jedoch auch darin, dass sie keine wirkliche gemeinsame strategische Vorstellung verfolgt, wie diese Politik umgesetzt werden kann – und dieser Konflikt durchzog letztlich auch die Ampelregierung, die auch an diesen Widersprüchen scheiterte.
FDP-Fraktionschef Christian Dürr hatte am Mittwochabend noch angekündigt, alle Minister:innen seiner Partei wollten ihren Rücktritt geschlossen beim Bundespräsidenten einreichen. Dies geschieht, außer Verkehrsminister Wissing (jetzt parteilos) gehen alle. Für manche wie Bildungsministerin Stark-Watzinger mag das vielleicht auch besser sein, um weitere Skandale zu vermeiden. Scholz selbst will die Vertrauensfrage in der ersten Sitzungswoche des Bundestages im neuen Jahr, also am 15. Januar 2025, stellen. Dies soll dann Ende März Neuwahlen ermöglichen. Bis Weihnachten will die SPD noch die wichtigsten Gesetzesentwürfe einbringen. Ihrerseits wäre also eine rot-grüne Minderheitsregierung geplant, auch um somit den Bundestag mit als Wahlkampfarena für sich nutzen zu können.
Ob dies machbar ist oder nicht, hängt dabei viel von Gnaden der Union ab. Merz hätte am liebsten jetzt Neuwahlen, da er zu den Kräften gehört, die am meisten davon profitieren, und es selbst kaum erwarten kann, als künftiges Regierungsmitglied (am liebsten als Kanzler) Trump den Hof zu machen und dabei irgendwie auch deutsche Interessen – beispielsweise mit Unterstützung bei dessen Vorhaben für einen Frieden in der Ukraine – einigermaßen abzusichern. Ob der Scholzplan deswegen so klappt, bleibt mehr als offen.
Merz war in der Vergangenheit sehr gut darin, sich selbst zu inszenieren und die Regierung vor sich herzutreiben. Laut Bild-Zeitung bereitet sich die CDU/CSU schon seit zwei Wochen auf vorgezogene Wahlen vor. Und die ersten Unternehmerverbände wie der Außenhandelsverband BGA oder der Verband der Chemischen Industrie stimmten sogleich in Merz’ Forderung nach schnellen Neuwahlen ein.
Nicht fehlen im Chor darf natürlich Wagenknecht: Schließlich stellt sich in Brandenburg sowie Sachsen die Regierungsfrage für das BSW und Koalitionsverhandlungen lassen sich wesentlich besser führen, wenn die Kraft im Bundestag auch stärker vertreten ist. Und je früher die stattfinden, desto früher kann Sahra auch aufhören, sich Gedanken zu machen, an welchen Stellen sie jetzt wirklich konsequent sein muss, um genügend Wähler:innenstimmen noch abzugreifen.
Massiv, wenn nicht sogar am meisten profitieren wird die AfD. Nicht nur, weil sie den Kurs fahren kann, dass sie die Ampel „schon immer“ scheiße gefunden hat, sondern auch in punkto Frieden. Denn während SPD und Grüne, aber auch CDU/CSU und FDP weiterhin ins Kriegshorn blasen werden, werden sich AfD und BSW als Friedensparteien in der Ukraine gerieren, während sie gleichzeitig Israel weiter ihre Solidarität versichern werden.
Am schwersten wird es DIE LINKE haben. Nicht nur, dass van Akens Auftritt in der Ukraine mehr Fragezeichen als Klarheit geschaffen hat, wie man eigentlich Frieden erreichen will. Sie ist es auch, deren Organisationsstruktur aktuell am meisten am Boden liegt. Bis zur Bundestagswahl im September hätte sie sich vielleicht noch aufrappeln können, aber vorgezogene Neuwahlen machen an der Stelle ein vorzeitiges Aus für sie selbst wahrscheinlicher.
Bei der nächsten Wahl und Regierungsbildung in Deutschland wird sich entscheiden, welcher Kurs eingeschlagen wird. Dabei ist klar: Soziale Angriffe wird es geben, ob nun mit oder ohne Abfederungspolitik seitens SPD und Grünen. Deswegen ist es notwendig, nicht nur passiv zu warten, bis gewählt wird und sich eine neue Regierung konsolidiert hat. Vielmehr müssen wir jetzt klar sagen: Eure Kriege und Krisen zahlen wir nicht! Schluss mit Sozialpartnerschaft, gegen Massenentlassungen und Schuldenbremse!
Denn schon jetzt wird bei Land und Kommunen, insbesondere im sozialen Bereich, fleißig gekürzt und auch mit der Krankenhausreform kommt es nicht nur in der Autoindustrie zum Stellenabbau und Entlassungen. Um die Angriffe also erfolgreich abzuwehren, braucht es einen Bruch v. a. der Gewerkschaften mit der Politik der Klassenkollaboration, eine Aktionskonferenz gegen die Krise, bei der die Linke in Deutschland diskutiert, mit welchen Forderungen sie einen Ausweg aus der aktuellen Misere aufzeigen kann – bei Tarifrunden und durch eigenständige Aktionen. Und wir brauchen eine Diskussion darüber, welche Art Partei, welches Programm, welche Politik wir gegen die Krise brauchen. Der Zusammenbruch der Ampel, der Niedergang der SPD und der Linkspartei verdeutlichen, dass wir nicht nur organisierten Massenwiderstand aufbauen müssen. Wir müssen zugleich für eine revolutionäre Alternative zum Reformismus, für den Aufbau eine revolutionären Arbeiter:innenpartei kämpfen.