Jeremy Dewar, Neue Internationale 287, November 2024
Am 27. September warf Israel zehn von den USA hergestellte und gelieferte Zwei-Tonnen-Bomben auf Dahieh ab, einen Vorort im Süden Beiruts, in dem 700.000 Zivilist:innen leben, und tötete 300 Menschen, darunter den Hisbollahführer Hassan Nasrallah und den Kommandeur der südlichen Gruppe, Ali Karki.
Zuvor hatte Israel die Kommunikationssysteme der Hisbollah angegriffen und ihre Pager und Sprechfunkgeräte in die Luft gesprengt, wobei Dutzende von Menschen getötet und Hunderte verletzt wurden. Wenige Tage später wurde ein erfolgreicher Anschlag auf den langjährigen Militärführer Ibrahim Aqil verübt, bei dem 11 Anführer:innen der Elitetruppe Radwan mit ihm getötet wurden.
Wir verurteilen diese Angriffe in zweierlei Hinsicht. Erstens haben die israelischen Streitkräfte (IDF) absichtlich Zivilist:innen angegriffen und getötet. In bitterer Ironie führten die IDF ihre berüchtigte „Dahiehdoktrin“ aus, die nach der verheerenden Zerstörung des schiitischen Vororts im Jahr 2006 benannt ist und während ihres einjährigen Völkermords im Gazastreifen buchstabengetreu umgesetzt wurde. Sie besagt:
„Wir werden unverhältnismäßige Macht ausüben und immensen Schaden und Zerstörung anrichten. Aus unserer Sicht handelt es sich um Militärstützpunkte… Jedes der schiitischen Dörfer ist ein militärischer Standort mit einem Hauptquartier, einem Geheimdienstzentrum und einem Kommunikationszentrum.“
Zweitens erkennen wir die Legitimität des Widerstandes aller Kräfte an, die sich dem zionistischen Staat widersetzen, der seine tödlichen Angriffe durchführt, um seinen Völkermord an den Palästinenser:innen in Gaza – und im Westjordanland – ungehindert zu vollenden.
Wie werden sich diese Rückschläge auf die Hisbollah auswirken und im Hintergrund den Iran? Wie werden sie wahrscheinlich reagieren? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, die Politik der Hisbollah zu untersuchen. Dabei werden wir auch zeigen, warum Kommunist:innen ein bedingungsloses Recht der Unterdrückten, sich selbst zu verteidigen, mit einer revolutionären Kritik an der strategischen Sackgasse des islamistischen Widerstands gegen Israel verbinden müssen.
Die Hisbollah wurde zwischen 1982 und 1985 inmitten eines Bürgerkriegs und zu Beginn der 18-jährigen israelischen Besatzung des Südlibanon gegründet, die von US-Marines und anderen Kräften unterstützt wurde. In diese Zeit fallen auch die Vertreibung der PLO aus Beirut und die tödlichen Schläge Israels gegen die linksnationalistischen Kräfte, die Libanesische Nationalbewegung (unter Führung der Sozialistischen Fortschrittspartei) und die Libanesische Nationale Widerstandsfront (Kommunistische Partei).
Wie die Hamas in Palästina versuchte die Hisbollah, die säkularen Kräfte durch eine islamische Widerstandsbewegung zu ersetzen. Ihre Ideologie basierte auf drei miteinander verflochtenen Zielen: Verbreitung des islamischen Glaubens, der islamischen Praxis und letztlich der islamischen Herrschaft unter der Bevölkerung, zunächst unter den libanesischen Schiit:innen, aber auch über die Landesgrenzen hinaus; Bereitstellung von sozialen Diensten, Lebensmitteln, Wohnraum, Bildung und Medikamenten für die Armen; Widerstand gegen antimuslimische Kräfte, in erster Linie gegen die USA und Israel, aber auch gegen ihre lokalen Verbündeten, wie die maronitisch-christliche Phalange (Kata’ib).
Die Partei Gottes, wie die Hisbollah übersetzt heißt, veröffentlichte 1985 ihr Gründungsmanifest „Offener Brief an die Unterdrückten des Libanon und der Welt“, in dem sie die iranische Revolution als Inspiration und Ajatollah Chomeini als „einzigen weisen und gerechten Führer“ bezeichnete. Dies unterschied sie von der Hamas, nicht nur, weil ihre Basis schiitisch und nicht sunnitisch-muslimisch ist, sondern auch, weil sie dem Iran dient. So achtet die Hisbollah beispielsweise viel stärker als die Hamas auf die strikte Einhaltung der „islamischen“ Kleiderordnung und der sozialen Vorschriften. Kein Wunder, dass sie oft als „goldenes Kind“ des Iran bezeichnet wird.
Diese Unterwürfigkeit spiegelt sich in den Führungsstrukturen der Partei wider. Dem Schura-Rat, der die Gesamtstrategie der Partei koordiniert, und dem Dschihad-Rat, der die militärischen Operationen leitet, gehörten von Anfang an sowohl Mitglieder der politischen Führung Irans als auch der Revolutionsgarden (IRGC) an.
Doch trotz ihrer organisatorischen und ideologischen Verbindungen zum Iran ist die Hisbollah – wie die Huthis im Jemen – eine politische Partei, die in einem Teil der libanesischen Gesellschaft verwurzelt ist und über eine eigene soziale Basis und Kommandostrukturen verfügt, und nicht einfach eine iranische Stellvertreterin. Dies kann durchaus bedeuten, dass die lokalen Aktivisten der Hisbollah auch nach der „Enthauptung“ der Truppe in begrenztem Umfang weiterkämpfen können. Nasrallah selbst wurde 1992 nach der Ermordung des damaligen Generalsekretärs Abbas al-Musawi zum Führer der Partei.
Das Abkommen von Taif (Stadt in Saudi-Arabien; Anm. d. Red.) vom 22. Oktober 1989, das den 15 Jahre andauernden Bürgerkrieg beendete, ermöglichte der Hisbollah in zweierlei Hinsicht eine Weiterentwicklung. Erstens war die Hisbollah die einzige Miliz, die nicht aufgelöst wurde. Infolgedessen wurde ihr bewaffneter Flügel größer und dank des Iran viel stärker als die libanesische Armee. Die Hisbollah wurde faktisch zur Verteidigungskraft des Libanon.
Zweitens ermöglichte es der Hisbollah, bei den Wahlen in einem System zu kandidieren, das eine konfessionelle „Machtteilung“ institutionalisierte, bei der die Sitze je nach Religionszugehörigkeit – sunnitisch, schiitisch oder christlich – vergeben werden und die Regierung Minister:innen aller Glaubensrichtungen umfasst. Während zuvor die Christ:innen das Parlament dominierten, wurden den schiitischen Parteien 27 von 128 Sitzen garantiert. Die Hisbollah hat in der Regel mindestens zwei Ministerposten inne und ihr Parlamentsblock mit 41 Sitzen verfügt über die relative Mehrheit.
Dieses verrottete und korrupte System, das das Sektierertum zementiert, hat es der Hisbollah dennoch ermöglicht, ihre Wohlfahrtsdienste durch Verträge und Investitionsprojekte zu erweitern, die Arbeitsplätze für die schiitischen Arbeiter:innen – und Gewinne für die schiitische Bourgeoisie – schaffen.
Der Höhepunkt der Popularität der Hisbollah war 2006, als sie die israelische Armee zurückdrängte, nachdem diese erneut in den Südlibanon einmarschiert war. Dies war zwar nicht unbedingt ein Sieg für die Hisbollah, aber eine Niederlage für die bis dahin als unbesiegbar dargestellten israelischen Streitkräfte. Das Ansehen der Hisbollah als einzige Kraft in der Region, die sich gegen die zionistische Expansion zur Wehr setzen konnte, strahlte über die libanesischen Grenzen hinaus. Doch schon bald fand sich die Partei auf der falschen Seite der Proteste der Bevölkerung wieder.
Ihr Aufstieg war jedoch aus mehreren Gründen nicht von Dauer. Ihre Bevormundung durch den Iran bedeutete, dass sie während des syrischen Bürgerkriegs nach dessen Pfeife tanzen musste und ab 2012 den Diktator Baschar al-Assad militärisch gegen die demokratische Revolution unterstützte. Dies war im gesamten Nahen Osten zutiefst unpopulär – zur Erinnerung: Die Hamas weigerte sich, Assad zu unterstützen, und wurde daraufhin aus Damaskus ausgewiesen.
Im Oktober 2019 kam es dann zu einer Massenbewegung, die sich zunächst gegen Steuererhöhungen während einer Wirtschaftskrise richtete (die bis heute anhält), sich aber sehr schnell zu einer politischen Revolte gegen das klientelistische politische System und die ihm innewohnende Korruption entwickelte. Die Hisbollah, die von diesen unrechtmäßigen Gewinnen profitiert, forderte ihre Anhänger:innen auf, sich von der Straße zurückzuziehen, und den Premierminister, nicht zurückzutreten. Sie wird beschuldigt, mehrere Demonstrant:innen getötet zu haben. Dies beendete den nicht-sektiererischen Charakter der Revolution von 2019 und war ein wichtiger Faktor für ihren Untergang.
Die Wut der Bevölkerung wurde weiter angeheizt, als 2020 in Beirut ein Gaslager in die Luft flog. Es gab Gerüchte, dass dies durch ein Waffendepot der Hisbollah verursacht wurde. Was auch immer der Wahrheit entspricht, die Partei sprach sich gegen eine öffentliche Untersuchung aus. Zu diesem Zeitpunkt war die Hisbollah bereits seit vielen Jahren in neoliberale Angriffe auf öffentliche Dienstleistungen und Arbeitsbedingungen verwickelt.
Die Entwicklung der Hisbollah von der Verteidigerin der „Unterdrückten und Armen“ zur Fördererin einer entstehenden schiitischen Bourgeoisie beweist, dass der radikale Islamismus nicht so radikal ist, wie er zunächst erscheint.
Zweifellos ist die Hisbollah in den letzten Wochen stark geschwächt worden, zusätzlich zu ihrer ohnehin sinkenden Popularität. Der angebliche Grund für die israelischen Angriffe – der Raketenbeschuss, der Zehntausende Israelis zur Evakuierung aus dem Norden gezwungen hat – wurde jedoch mit leichten Panzerabwehrwaffen und Drohnen durchgeführt, während die fortschrittlichen Lenkraketen weitgehend in Reserve gehalten wurden und außerhalb der Reichweite eines militärischen Angriffs auf den Südlibanon lagen.
Wie bei der Hamas wird Israel nicht in der Lage sein, die Hisbollah zu besiegen oder entwaffnen, ohne massiv militärisch einzugreifen und Dörfer und Städte zu zerstören, aus denen sie ihre Unterstützung in der Bevölkerung bezieht.
Aber vor allem ihr strategischer Verbündeter Iran, der nun noch mehr das Sagen im Libanon haben wird, mahnt bereits zur Vorsicht. Die Hisbollah ist für den Iran vor allem in zweierlei Hinsicht von Nutzen: Erstens hält sie das Gleichgewicht der Kräfte im Libanon aufrecht, indem sie die konfessionelle Ordnung zementiert, und ist damit ein Transmissionsriemen für den iranischen Einfluss. Dies würde verlorengehen, wenn man der Hisbollah unterstellen würde, sie habe gegen die Interessen des Landes gehandelt, indem sie einen apokalyptischen israelischen Angriff auf sich zöge.
Zweitens dient ihr großes Arsenal an hochentwickelten Raketen in erster Linie der Abschreckung Israels, indem es die Möglichkeit einer zweiten Front gegen es aufrechterhält, seine Kräfte bindet und dem Iran ein Element ablehnender Antwort auf israelische Aggression bietet. Der Iran wird in den kommenden Tagen und Wochen sorgfältig abwägen müssen, wie er sich gegenüber den Aktionen der Hisbollah verhält, selbst wenn er um die Haltung der neuen Führung ringen muss, die die Theokratie aufbauen muss.
Am selben Tag, an dem die Pager explodierten, gab der iranische Präsident Massud Peseschkian eine Erklärung ab, in der er die Amerikaner dreimal als „unsere Brüder“ bezeichnete und ein Ende der Feindseligkeiten forderte. Irans primäres Interesse am Einsatz seiner Stellvertreter:innen ist es, ein Machtgleichgewicht mit seinen regionalen, von den USA unterstützten Rival:innen herzustellen und das Ende der US-Sanktionen zu erreichen – nicht die „Zerstörung Israels“.
Die politischen und wirtschaftlichen Probleme, mit denen der Iran im eigenen Land konfrontiert ist, sowie die militärische Überlegenheit Israels und des Westens erklären, warum seine militärische Reaktion auf den Gazakrieg, ob direkt oder über seine Verbündeten, auf die Aufrechterhaltung des Status quo ausgerichtet ist.
Israel hat zwar nicht die Absicht, einen umfassenderen Krieg zu führen, aber wenn der Widerstand der Hisbollah anhält, muss es möglicherweise bis zum Litanifluss oder darüber hinaus eindringen. Wie Benjamin Netanjahu vor einer halb leeren UNO warnte: „Es gibt keinen Ort im Iran, den der lange Arm Israels nicht erreichen kann. Und das gilt für den gesamten Nahen Osten“.
Die Arbeiter:innenklassen des Nahen Ostens, insbesondere im Libanon, müssen diese Worte ernst nehmen. Zweifellos will niemand von ihnen einen Krieg mit Israel, aber das Fortbestehen des zionistischen Staates wird immer wieder dazu benutzt werden, die gesamte Region zur Verteidigung der imperialistischen Ordnung zu überwachen. Weder der Iran noch die arabischen Staaten sind zu einer Konfrontation mit Israel und den USA bereit; sie haben zu viel Angst vor ihren eigenen Arbeiter:innenklassen.
Aber es ist genau diese Klasse im gesamten Nahen Osten – die „Unterdrückten des Libanon und der Welt“ –, die ihre bürgerlichen Regierungen und Parteien, einschließlich der Hisbollah, stürzen, sich für die Sache Palästinas und die Zerstörung des zionistischen Staates einsetzen und eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens errichten kann.
Nur die Strategie der permanenten Revolution, die den demokratischen Kampf mit dem für den Sozialismus verbindet, kann den zionistischen Block zerschlagen und den Weg zu einem freien Palästina eröffnen.