Peter Main, Infomail 969, 2. November 2017
Vom 18. bis zum 24. Oktober tagte in Peking der 19. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas. Etwa 2.300 Delegierte repräsentierten die 89 Millionen Mitglieder – neben der indischen BJP eine der größten politischen Parteien der Welt. Die Aufgabe des Kongresses, der alle fünf Jahre stattfindet, bestand darin, die Arbeit der Partei seit dem letzten Kongress zu überprüfen, die politische Strategie für die nächsten fünf Jahre festzulegen und die Führung zu wählen, die für ihre Umsetzung verantwortlich sein wird. Letzteres, die Zusammensetzung der neuen Führung, wird von den KommentatoreInnen am intensivsten auf Hinweise für die künftige Ausrichtung Chinas diskutiert. Während das formale Führungsgremium das Zentralkomitee ist, bestimmen das 22-köpfige Politbüro und vor allem dessen Ständiges Komitee aus sieben Personen die Politik.
Xi Jinping, der auf dem 18. Kongress zum Generalsekretär gewählt wurde, ist wenig überraschend überzeugend in seinem Amt bestätigt worden. Seit mehr als einem Jahr singen chinesische Medien ihre Lobeshymnen auf ihn in Werbeartikeln und einer Fernsehserie über sein Leben. Sein Buch „The Governance of China“, das Anfang diesen Jahres veröffentlicht wurde, wurde als ein Werk des Genies gefeiert. Damit wurde vorbereitet, dass „Xi Jinpings Gedankengut für das neue Zeitalter des Sozialismus chinesischer Prägung“ auf dem Parteikongress als Leitlinie in die Parteiverfassung aufgenommen wurde. Xi ist damit nach Mao Zedong und Deng Xiaoping der dritte Parteiführer, der namentlich in den Statuten erwähnt wird. Seine politischen Ideen sollen nun auch in der Verfassung selbst verankert werden, neben den „Mao-Zedong-Gedanken“. Überaschenderweise wurde Xi zu Ehren auch der Titel des „Parteivorsitzenden“ verliehen – ein Titel, den man aufgrund des Personenkults um Mao nach dem Tod des „Großen Vorsitzenden“ nicht wieder vergeben hat.
Nach den enttäuschenden Wirtschaftszahlen 2016 hat sich dieses Jahr die wirtschaftliche Entwicklung wieder stabilisiert. So hat sich auch die Kreditvergabe etwas entspannt, was zu einer Verbesserung der Wachstumsraten geführt hat, die in der ersten Jahreshälfte bis zu 6,5 Prozent betrugen und bis zum Jahresende bei 6,9 oder 7,0 Prozent liegen dürften. Die jüngsten Zahlen des Einkaufsmanagerindexes, der mehrere Indikatoren der Industrieproduktion gewichtet summiert, zeigten den ersten Anstieg seit 54 Monaten und deuteten auf eine erhöhte Nachfrage und damit auf einen wachsenden Markt hin.
Dies ist ein ganz anderes Szenario als das, unter dem der letzte Kongress stattfand. Am Ende eines heftigen internen Fraktionskampfes wurde nicht nur die Eröffnung des Kongresses verschoben, sondern auch seine letzte Sitzung, auf der die neue Führung vorgestellt werden sollte, verzögert, während man sich über ihre Zusammensetzung einigen konnte, außerhalb des Sichtwinkels der Delegierten. Vor diesem Hintergrund haben viele KommentatorInnen die diesjährige Veranstaltung als „Kongress der SiegerInnen“ gesehen.
Xi wird dies alles zweifellos im Sinn gehabt haben, als er den Kongress mit seinem Bericht über die Arbeit der Partei seit seinem Amtsantritt eröffnete. Im Jahr 2012 vertrat seine Fraktion diejenigen, die radikale Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen Chinas nach der Krise von 2008 gezogen hatten, als der Zusammenbruch des Welthandels eine Wirtschaft, die genau auf diesen Handel ausgerichtet war, sehr schwerwiegend beeinflusste. Durch eine Kombination aus einer Neuausrichtung der Produktion auf den Binnenmarkt hin und einem enormen Investitionszuschuss zum Aufbau insbesondere der Infrastruktur des Landes hatte sich China nicht nur stabilisiert, sondern auch viele andere Länder durch seine Nachfrage nach Energie und Rohstoffen aus der Rezession herausholen können.
Xi und seine Fraktion erkannten, dass China, nachdem es den de-facto-Status einer Weltmacht erreicht hatte, es sich nicht leisten konnte, sich damit zufriedenzugeben. Nun galt es, einen Gang höher zu schalten, um nicht nur den Zugang zu mehr Lieferungen, sondern auch neue Absatzmärkte für die Produktion seiner wachsenden Industrien zu sichern. Das wiederum bedeutete, mit den bereits etablierten Mächten zu konkurrieren, die die Weltwirtschaft und vor allem das Finanzsystem der Welt beherrschen. Das hatte enorme Auswirkungen auf eine Wirtschaft, deren industrieller Kern noch immer von staatseigenen Unternehmen beherrscht wird, die auf billige Kredite staatlicher Banken angewiesen sind.
Die Beweise für die Umsetzung der Xi-Strategie sind überall auf der Welt und sogar im All zu sehen, mit der Entwicklung der chinesischen Raumfahrtindustrie. Es wurde ein übergreifender Zusammenhang mit der Enthüllung des Programms „One Belt, One Road“ (in etwa „Eine Straße für eine Produktionslinie“; auch „die neue Seidenstraße“ genannt) für die Entwicklung der Infrastruktur geschaffen, die China mit Südostasien, dem Nahen Osten, Europa und Afrika verbinden wird. Wie die MarxistInnen, die den Imperialismus vor einem Jahrhundert zum ersten Mal analysierten, erkannte Xi, dass eine solche internationale Expansion nicht nur eine politische Option unter vielen, sondern ein ökonomischer Imperativ ist.
Dies kann vor allem ein Sektor veranschaulichen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat China Tausende von Kilometern Hochgeschwindigkeitseisenbahnen gebaut, mehr als der Rest der Welt zusammen. Die Bahnindustrie ist auf dem besten Weg, in den nächsten Jahren ein Netz von 30.000 Kilometern, davon rund 25.000 mit Hochgeschwindigkeit, fertigzustellen. Das ist eine große Leistung, aber es stellt sich die Frage: Was passiert dann mit den Kapitalinvestitionen, die hinter dieser rasanten Expansion stecken? Was also mit den Stahlwerken, die Schienen und Brücken herstellen, den Metallbetrieben, die nicht nur Motoren und Schienenfahrzeuge, sondern auch Baumaschinen, Tunnelbautechnik und alle anderen Bauausrüstungen herstellen, der Elektronikindustrie, die die Signaltechnik liefert und natürlich den Hunderttausende von Fachkräften und ArbeiterInnen, die zur Zeit Eisenbahnen bauen? Es liegt auf der Hand, dass der weitere Ausbau der Eisenbahnen außerhalb Chinas die Antwort ist.
Die fraktionsinternen Differenzen bezogen sich jedoch weniger auf die Politik auf dieser Ebene als vielmehr auf die Rolle der Partei in der Wirtschaft. Nach einem Bericht der Staatlichen Vermögensaufsichts- und Verwaltungskommission gibt es im staatlichen Sektor 10 Millionen Parteimitglieder und 800.000 Parteigremien. Angesichts der „führenden Rolle der Partei“ in allen Lebensbereichen ergibt sich daraus die praktische Konsequenz, dass staatliche Unternehmen sowohl mit staatlichen Banken als auch über die Partei mit den verschiedenen Regierungsebenen verbunden sind. Das sichert ihnen sowohl Verträge als auch billigere Kredite zu sehr entspannten Konditionen im Vergleich zum immer größer werdenden Privatsektor. Xi und seine AnhängerInnen, von denen viele, wie er, einen Hintergrund in der Provinzregierung und nicht im parteiinternen Apparat aufweisen, wollten dieses System reformieren, um die kapitalistische wirtschaftliche Realität besser widerzuspiegeln. In diesem Sinne haben sie, obwohl sie loyale BürokratInnen der Partei waren und sind, die Klasseninteressen der sich entwickelnden kapitalistischen Klasse zum Ausdruck gebracht.
Wie der Kongress 2012 gezeigt hat, genoss Xi keine überwältigende Unterstützung und der Kampf der Fraktionen ging seither unvermeidlich weiter. Abgesehen von neuen politischen Initiativen wie der teilweisen Öffnung des Finanzsektors für ausländische Banken, um Wettbewerb einzuführen, der die Staatsbanken zur Reformierung zwingen könnte, ist der sichtbarste Ausdruck dafür die Säuberung der Partei durch Xi. Es wird allgemein angenommen, dass die Parteimitgliedschaft auf allen Seiten den Weg zur persönlichen Bereicherung und, was vielleicht noch wichtiger ist, für die Familie darstellte. Folglich zeigt die Anklage wegen Korruption oder, wie sie es in China ausdrücken, „schweren Verstoßes gegen die Parteidisziplin“ die Existenz einer politischen Opposition an.
Neben der Hervorhebung der wirtschaftlichen und diplomatischen Leistungen Chinas ist es daher nicht überraschend, dass Xi diese Kampagne auch als ein Zeichen für die Öffentlichkeit bezeichnet hat, als Beweis, dass sein Regime saubere Hände habe. Es ist auch als Erinnerung an alle verbleibenden GegnerInnen gedacht, dass sie sich den 1.340.000 Beschuldigten anschließen könnten: darunter einige hochrangige Persönlichkeiten wie Bo Xilai, der Parteichef von Chongqing, der sich als Verfechter des Maoismus profilierte, oder Jiang Jiemin, Leiter der China National Petroleum Corporation, der kürzlich für 16 Jahre inhaftiert wurde. Sogar der Sicherheitschef selbst, Zhou Yongkang, wurde inhaftiert. Insgesamt wurden 18 Vollmitglieder und weitere 17 stellvertretende Mitglieder des Zentralkomitees, seit Präsident Xi Jinping an die Macht kam, abgesetzt. Um das Bild einer Parteiführung zu vervollständigen, die für diesen Kongress nichts dem Zufall überlassen hat, wurden erst eine Woche vor dem Kongress 12 ZK-Mitglieder ausgeschlossen.
Auch wenn Xi auf dem Kongress der Partei einige der tiefgreifenden Probleme verschwieg, so werden die Mitglieder auch die Sturmwolken an vielen Fronten zur Kenntnis nehmen müssen. Zu Hause droht durch die riesigen Kredite an Staatsunternehmen immer wieder eine Finanzkrise: Die Unternehmensverschuldung betrug Ende letzten Jahres 18,3 Billionen US-Dollar, das sind 166,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), deutlich mehr als 72,3 Prozent in den USA und 53,1 Prozent in Deutschland, so die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Unter Berücksichtigung privater Schulden wie Hypotheken wird die Gesamtverschuldung Chinas auf rund 260 Prozent des BIP geschätzt, verglichen mit 150 Prozent vor der Krise von 2008.
International gesehen, obwohl viele es gerne als Abbild von Donald Trumps Fieberphantasien sehen würden, besteht seit Jahren eine amerikanische Eindämmungspolitik Chinas, wenn nötig auch militärisch, mittela Barack Obamas „Pivot to the Pacific“ („Angelpunkt Pazifischer Ozean“) als einem wichtigen Entwicklungsschritt dahin.
Die One Belt, One Road-Politik ist die Antwort Chinas – sich weiter ausdehnen, aber eine direkte Konfrontation mit den USA möglichst lange vermeiden, indem man sich auf die eurasische Landmasse konzentriert. Die rasche Modernisierung der chinesischen Armee, der Bau eines zweiten Flugzeugträgers, die Enthüllung neuer Tarnkappenjäger und -bomber, die Entwicklung einer Satelliten-Abwehr zeigen jedoch alle, dass Peking unter Xi weiß, dass „so lange wie möglich“ nicht dasselbe ist wie „für immer“.
Die Zusammensetzung des Politbüros und vor allem seines Ständigen Komitees liefern erste Anhaltspunkte für das derzeitige Kräftegleichgewicht in China. Ein Teil des Kompromisses, der auf dem letzten Kongress geschlossen wurde, bestand darin, dass einige hochrangige Persönlichkeiten der vorherigen Führung im Ständigen Ausschuss verblieben waren mit der Maßgabe, dass sie wegen ihres Alters auf dem diesjährigen Kongress zurücktreten würden. Wie erwartet hat der Kongress Xis Wunsch bestätigt, den ständigen Ausschuss bei 7 Mitgliedern zu belassen und ihn praktisch mit 5 neuen seiner Getreuen zu besetzen. Gespannt war man, ob Wang Qishan, bis dahin Leiter der Zentralkommission für Disziplinarinspektion, wieder im Gremium vertreten sein würde. Obwohl er Xis Anti-Korruptionskampagne geleitet hat, stammt er aus der Finanzwelt (er war Leiter der Construction Bank). Auch wenn ihn der „Reformflügel“ gerne behalten hätte, wurde Wang mit 4 anderen Mitgliedern des ständigen Ausschusses Opfer der inoffiziellen 68-Jahre-Regelung. Seine Position wird der „nur“ 61-jährige Zhao Leji übernehmen, ein loyaler Apparatschik.
Die Diskussion um die Verlängerung der Amtszeit von Wang hat Diskussionen auch um Xis eigene Zukunft ausgelöst. Ein Bruch mit der Altersregelung hätte auch die Möglichkeit angedeutet, dass Xi selbst plant, über seine verfassungsrechtlich begrenzte zweite Amtszeit hinaus im Amt zu bleiben. In einer Einparteiendiktatur ist das natürlich durchaus möglich, aber zusammen mit der ganz offensichtlichen Förderung eines Persönlichkeitskults um Xi herum stellt sich die Frage: Warum sollte das Schicksal der bevölkerungsreichsten Nation der Erde, fast ein Viertel der gesamten Menschheit, auf den Schultern eines einzigen Mannes ruhen?
Die Antwort liegt in der Natur des Regimes selbst. Die Partei braucht eine einzige Autorität, weil sie es nicht hinnehmen kann, dass es zu einem offenen Kampf konkurrierender Ideen und Strategien kommt. Trotz ihrer enormen Macht repräsentiert die Partei im Wesentlichen nur den Staatsapparat, sie ist die Partei der BürokratInnen.
Mit der Restauration des Kapitalismus seit 1992 sind Chinas fundamentale soziale Kräfte, die ArbeiterInnenklasse und die KapitalistInnen, enorm gewachsen, aber zwangsläufig haben sie widersprüchliche Interessen. Eine offene Diskussion über die künftige Ausrichtung der Gesellschaft, über die Politik der Regierung würde zwangsläufig auch im Rahmen einer einzigen herrschenden Partei diese widersprüchlichen Interessen zum Ausdruck bringen. Eine offene Diskussion würde die Partei zerstören. Alle Fraktionen in ihr wissen das und unterwerfen sich jeder beliebigen Kraft, die sie beherrscht.
Das führt jedoch nicht dazu, dass die grundsätzlich entgegengesetzten Interessen von Arbeit„nehmer“Innen und KapitalistInnen verschwinden. Während sich die Dynamik des Kapitalismus entfaltet, treibt sie seine Widersprüche und Konflikte voran. Als Reaktion darauf setzt sich die Partei härter und härter gegen alle abweichenden Stimmen durch, wie sie es bereits bei DemokratieaktivistInnen in Hongkong, AnhängerInnen von Recht und Gesetz auf dem Festland und religiösen und nationalen Minderheiten in Tibet und Xinjiang getan hat. Deshalb muss die ArbeiterInnenbewegung in China die Fragen der demokratischen Rechte als zentralen Teil ihres eigenen Kampfes für die politische Unabhängigkeit und letztlich als gesellschaftliche Führung beim Sturz der KapitalistInnen und BürokratInnen aufgreifen.