Arbeiter:innenmacht

Katalonien: Hände weg von Autonomie und demokratischen Rechten

KD Tait, Infomail 969, 2. November 2017

Am 27. Oktober erklärte das katalanische Parlament seine Unabhängigkeit mit 70 zu 10 Stimmen bei 55 Enthaltungen. Der spanische Staat reagierte darauf, indem er den katalanischen Ministerpräsidenten und seine Regierung aus dem Amt entfernte, das Parlament auflöste und die Kontrolle über Regierung, Polizei und Medien der Region übernahm.
Für den 21. Dezember sind Neuwahlen angesagt. Bis dahin wird Soraya Sáenz de Santamaría, stellvertretende Ministerpräsident des Landes von der regierenden Partido Popular, die Amtsgeschäfte in Katalonien führen.
Die Weigerung des spanischen Staates, den KatalanInnen ihr demokratisches Recht auf ein Referendum über die Unabhängigkeit zu gewähren, bedeutet, dass die Regierung von Mariano Rajoy die Hauptverantwortung für die politische Krise tragen muss, die das Land heimgesucht hat.
Die Verhaftung katalanischer NationalistInnen, die Drohungen, die autonome Regierung aufzulösen und der gewaltsame Versuch, das Referendum zu unterbrechen, waren keine Verteidigung der Demokratie, sondern eine des Monopols des spanischen Zentralstaates über die nationalen Rechte seiner Völker.
Bei Drucklegung hat der Generalstaatsanwalt von Madrid Anklage wegen Rebellion, Aufruhr und Missbrauchs öffentlicher Gelder gegen die ehemalige katalanische Regierung und den Sprecherausschuss des katalanischen Parlaments erhoben. Diese Strafmaßnahme wurde durch den politischen Zusammenbruch der katalanischen NationalistInnen und das Versäumnis der spanischen ArbeiterInnenbewegung ermöglicht, die rücksichtslose Kriminalisierung der Unabhängigkeitsbewegung durch Rajoy zu stoppen.

Trennendes

Die Unabhängigkeitserklärung von etwas mehr als 50 Prozent des katalanischen Parlaments erwies sich jedoch als ein Abenteurertum, bei dem Tragödie und Farce nahe beieinander liegen. Nachdem die BefürworterInnen der Lostrennung einen eigenen Staat proklamiert hatten, taten sie nichts, um ihn zu einer Realität werden zu lassen.
So nahm Rajoy die Erklärung zum Vorwand, eine direkte Herrschaft des spanischen Zentralstaates durchzusetzen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die katalanische Bevölkerung weiterhin gespalten über nationale Loyalitäten bleibt, anstatt sich auf die Verteidigung ihrer gemeinsamen demokratischen Rechte zu einigen.
Es war ein absurdes Ende der Wochen der Lähmung und Ungewissheit nach dem Referendum am 1. Oktober, dessen Ergebnis die bisher vereinigten separatistischen Kräfte sofort spaltete. Die Partei von Carles Puigdemont, die PDeCAT, ist eine durch und durch neoliberale bürgerliche Partei, die sich erst vor kurzem zur separatistischen Sache bekehrte – auch, um von den Folgen ihrer Sparpolitik und der eingefleischten Korruption abzulenken. Unvermeidlich kam sie unter anhaltenden Druck ihrer eigenen Klasse, keine einseitige Unabhängigkeitserklärung abzugeben.
Umgekehrt drängten die beiden wichtigsten kleinbürgerlichen nationalistischen Parteien, die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) und die Kandidatur der Volksunion (CUP), wütend auf eine sofortige Erklärung.
Rajoy spürte, dass er Puigdemont an den Seilen festgenagelt hatte, und wollte keine Konzession oder Duldung einer formalen externen Vermittlung anbieten. Jetzt ist jedoch klar, dass hinter den Kulissen eine Vermittlung stattgefunden hat, bei der die Europäische Union Rajoy drängte, sich zurückzuhalten und ihr Zeit zu geben, Puigdemont selbst unter Druck zu setzen.

Spaltungen

Puigdemonts Verwirrspiel bedeutet, dass sein Widerstand gegen die Übernahme Madrids symbolträchtig sein wird. Wenn dies so bleibt und seine Partei die Teilnahme an den Wahlen im Dezember akzeptiert, wird dies wahrscheinlich die separatistischen Kräfte weiter spalten. Die kleinbürgerlichen Radikalen der CUP, die Puigdemonts Sparregierung unterstützt haben, werden sich besonders verraten fühlen, um nicht zu sagen: betrogen.
Auf der anderen Seite werden KatalanInnen, die sich gegen die Art und Weise wandten, wie das Parlament das Referendum ansetzte, und es deshalb boykottieren und durch die einseitige Unabhängigkeitserklärung davon noch weiter entfremdet worden sind, versucht sein, sich hinter den Parteien zu versammeln, die sich der Unabhängigkeit widersetzen. Wenn dies in Unterstützung für die katalanischen Sektionen der Partido Popular, Ciudadanos und der SozialistInnen (PSOE) übersetzt wird, wird es den reaktionärsten Kräften in Spanien einen Sieg schenken.
Einige UnabhängigkeitsbefürworterInnen hoffen, dass ein Sieg der NationalistInnen bei der bevorstehenden Volksabstimmung als juristisches Referendum fungieren und Madrid und Brüssel zum Nachgeben zwingen wird. Diese Hoffnung wird wahrscheinlich enttäuscht werden, obwohl der ERC und die CUP wahrscheinlich auf Kosten der PDeCAT gewinnen werden. Aber es ist zweifelhaft, ob es je eine eindeutige Mehrheit für eine Lostrennung in der Bevölkerung gegeben hat, und deren BefürworterInnen werden darüber hinaus bei den Wahlen einander gegenseitig beschuldigen und gespalten wie nie zuvor antreten.
So wie die katalanischen NationalistInnen durch die Niederlage gespalten werden, so kann auch der Sieg die SiegerInnen spalten. Es ist möglich, dass Rajoy, von den reaktionären Franquisten unter Druck gesetzt, überreizen könnte, was zu neuem Widerstand seitens der Unabhängigkeitsbewegung und demokratischer Kräfte führen könnte.
Die Vorwürfe von Aufruhr, Rebellion und Veruntreuung gegen katalanische MinisterInnen, die möglicherweise von den Wahlen im Dezember ausgeschlossen werden, zeigen, dass die Zentralregierung ernsthaft versucht ist, auf das Argument der Gewalt zurückzugreifen, anstatt das Ergebnis des Meinungsstreits zu riskieren.
Die Wahlen sind natürlich objektiv ein Diktat der Madrider Regierung, um der Aushebelung der Autonomie und der Unterstellung der Behörden in Katalonien eine „demokratische“ Legitimation zu verleihen. Aufgrund des politischen Versagens der Führung der Unabhängigkeitsbewegung, die „passiven Widerstand“ ankündigte, von dem bislang nichts zu sehen war, kann eine Teilnahme an den reaktionären Wahlen taktisch notwendig werden. Das hängt in erster Linie davon ob, ob es zu Massenwiderstand kommt und zweitens die Regierung in Madrid Wahlen zulässt, die ein offenes Antreten ihrer GegnerInnen erlauben. Sollte diese das blockieren, so dass jeder Zweifel an der Berechtigung der Wahlen haben muss, dann wäre die einzig angemessene Antwort ein aktiver Boykott und ein Generalstreik, um Rajoy daran zu hindern, eine Krönung der Parteien des spanischen Imperialismus zu organisieren.

Selbstbestimmung

Rajoys Beharrlichkeit, dass die KatalanInnen kein Recht haben, zu entscheiden, ob sie sich von Spanien trennen, ist ein Verstoß gegen das Grundrecht der Nationen auf Selbstbestimmung. Seine Behauptung, dieses Recht sei in der Verfassung von 1978 nicht möglich, mag zwar formal zutreffen, doch beweist dies nur ihren undemokratischen Charakter.
Wenn sich eine Nation innerhalb eines Staates unterdrückt fühlt, muss ihr Recht auf Selbstbestimmung auch ein Recht auf Abspaltung beinhalten – oder dieses Recht ist letztlich hohl. Beinhaltet die Zugehörigkeit einer Nation zu einem gemeinsamen Staat nicht auch das Recht auf selbstbestimmten Austritt, so basiert die „Einheit“ letztlich auf Zwang. Natürlich bedeutet das Recht auf Lostrennung wie jedes Recht keine Verpflichtung, es auszuüben – ganz so wie das Recht auf Scheidung auch keine Verpflichtung zu ebendieser bedeutet.
Generell sprechen sich SozialistInnen zugleich für die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse aus und lehnen Maßnahmen ab, die die Produktivkräfte beschränken, national zersplittern, die wir kontrollieren, der herrschenden Klasse entreißen und in den Dienst der Produktion für die menschlichen Bedürfnisse stellen wollen. Aus diesen Gründen sind wir generell nicht dafür, große Staaten oder Föderationen in kleinere aufzuspalten, denn eine solche Spaltung führt fast zwangsläufig zu einer Zunahme nationalistischer Vorurteile zwischen den Lohnabhängigen. Für SozialistInnen ist klein nicht schön, aber die Trennung stellt ein geringeres Übel dar als eine Einheit, die nur durch Gewalt und Betrug aufrechterhalten werden kann.
Der Versuch der spanischen Regierung, das Referendum zu verhindern, war eine Verletzung eines elementaren demokratischen Rechts, ob man nun mit der Sezession oder mit den Mitteln, die zur Durchführung des Referendums benutzt wurden, einverstanden ist oder nicht. Durch diese Maßnahmen hat Madrid das Recht auf Mitsprache bei der Entscheidung der KatalanInnen über ihre Zukunft verloren.
Bedeutet dies, dass SozialistInnen derzeit die völlige Unabhängigkeit Kataloniens unterstützen sollten? Nein, nicht, solange die Bevölkerung der Provinz nicht frei und ungehindert wählen kann. Dank der undemokratischen Neigung von Rajoy und Puigdemont wurde das Referendum nur mit 43 Prozent Zustimmung abgehalten. Das bedeutet nicht, dass diejenigen, die sich der Stimme enthielten, gegen die Unabhängigkeit waren, aber das Ergebnis ist eindeutig kein unbestreitbares Mandat, Menschen in die Unabhängigkeit zu zwingen.
Wenn Neuwahlen eine klare Mehrheit für separatistische Parteien darstellen oder wenn der Widerstand gegen Rajoys Unterdrückung die katalanische ArbeiterInnenklasse in eine allgemeine Mobilisierung unter dem Ruf nach Unabhängigkeit zieht, dann wäre es die Pflicht der SozialistInnen in ganz Spanien und Europa, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um dem katalanischen Proletariat bei der Erreichung des Unabhängigkeitsziels zu helfen. Allerdings hat die katalanische ArbeiterInnenbewegung bisher wenig Hinweise auf eine breite Unterstützung für die Unabhängigkeit gegeben. In der Tat dürfte auch sie, ähnlich wie die Gesamtbevölkerung, gespalten sein – und zwar aus reaktionären Motiven ebenso wie aus einer Ablehnung der neo-liberalen Politik Puigdemonts.

Widerstand

Die Auferlegung von Artikel 155 ist schlicht und ergreifend ein Affront gegen die Demokratie. Wenn Rajoy, der Senat, der Oberste Gerichtshof und König Felipe VI. in Katalonien einen Sieg erringen, wird dies nicht nur für die EinwohnerInnen der Region, sondern auch für die fortschrittlichen Kräfte in ganz Spanien ein schwerer Schlag sein.
Es ist die Pflicht der SozialistInnen im übrigen Spanien, seine Umsetzung zu behindern, die Freilassung der beiden Jordis, ein Ende der Verfolgung von für die Unabhängigkeit eintretenden PolitikerInnen und die Wiederherstellung der Autonomie der katalanischen Institutionen zu fordern, die Neuwahlen zum katalanischen Parlament unter ihrer eigenen Autorität einberufen sollten. Die Führung von Podemos hat Rajoys Staatsstreich angeprangert. Gut. Aber ebenso sollten sich die Gewerkschaftsverbände CC.OO. und UGT gegen Rajoys Verfassungscoup und die Verhaftung katalanischer FührerInnen aussprechen. Die Linken in der PSOE sollten sich vom Verräter Pedro Sánchez lösen, der sich entschieden hat, die Verfassung zu verteidigen und nicht das Selbstbestimmungsrecht der KatalanInnen zu unterstützen.

Wahlen

Wenn es andererseits, wie es möglich scheint, keine Massenopposition gegen die Unterdrückung der katalanischen Autonomie durch Rajoy gibt, so sollten sich die SozialistInnen in Katalonien darauf vorbereiten, mit ihren eigenen Losungen und Programm daran teilzunehmen.
Die ArbeiterInnenklasse Kataloniens sollte Carles Puigdemont, dem ERC oder den nationalistischen „AntikapitalistInnen“ der CUP kein Vertrauen schenken. Die SozialistInnen sollten sich um eine Plattform für die Verteidigung der demokratischen und nationalen Rechte, ein sozialistisches Programm zur Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes durch Besteuerung und Enteignung der Reichen und eine verfassungsgebende Versammlung zur Schaffung einer Verfassung auf der Grundlage einer demokratischen Föderation der sozialistischen Republiken in Spanien vereinigen. Mit einem solchen Programm können SozialistInnen die nationalistischen Spaltungen überwinden und eine Klassenopposition gegen Rajoy und Puigdemont sammeln.
Im übrigen Spanien sollte Podemos Unidos die Linke der PSOE drängen, mit der sozialchauvinistischen Führung der Partei zu brechen und dabei helfen, eine neue sozialistische Partei der ArbeiterInnenklasse zu gründen, die den Kampf anführen kann, Rajoys Regierung zu verjagen und Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung zu fordern.
In einer solchen Versammlung sollten die SozialistInnen nicht nur für das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Sezession kämpfen, sondern auch für die Abschaffung der bourbonischen Monarchie, des Senats und der nicht gewählten Justiz.
In ganz Europa sollten ArbeiterInnen und Jugend, sozialistische und Labourparteien die Aktionen von Rajoy und die beschämende Unterstützung durch die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union für sie verurteilen und Demonstrationen zur Unterstützung der demokratischen Rechte der KatalanInnen organisieren.

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