Frederic Haber, Infomail 1263, 12. September 2024
Die Verlogenheit und Demagogie führender Politiker:innen ist ungeheuerlich. Sie reden von Demokratie und Menschenrechten, stellen sich als Freiheitskämpfer:innen dar und verteidigen dann den Völkermord in Gaza mit lächerlichen Argumenten, glatten Lügen oder indem sie sich dumm stellen. Die deutschen Grünen, die US-Demokrat:innen, fast alle Sozialdemokrat:innen und auch eine Reihe von „Linken“ und „Sozialist:innen“ haben zu Recht viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren.
Albin Kurti hat auch ein Problem mit seiner. Er ist auf der globalen politischen Bühne relativ unbekannt. Er wurde 2020 und 2021 zum Premierminister des Kosovo gewählt und gilt als einer der wenigen Linken in einer führenden Position auf dem Balkan oder allgemein in Osteuropa. Und in der Tat unterscheidet sich Kurti von Leuten wie Edi Rama, dem Ministerpräsidenten Albaniens (2013, 2017, 20219), oder Stevo Pendarovski, dem Staatspräsidenten Nordmazedoniens (2019 bis Mai 2024), der kürzlich abgewählt wurde. Kurti ist nicht aus einer als sozialdemokratische Partei getarnten bürgerlichen Partei hervorgegangen, die sich nach 1990 aus der stalinistischen Partei entwickelt hat.
Stattdessen baute Albin Kurti, der gerade 15 Jahre alt war, als Jugoslawien zusammenbrach, seine eigene Partei auf, die sich lange Zeit ausdrücklich nicht als Partei, sondern als Bewegung verstand. Ihr Name „Levizja Vetevendosje!“ steht albanisch für „Bewegung Selbstbestimmung!“. Sie war in der Lage, Zehntausende zu Demonstrationen zu mobilisieren. Die Selbstbestimmung, die Vetevendosje forderte, war nicht nur die Unabhängigkeit von Serbien, sondern auch von den USA und der EU, die die Republik Kosovo seit ihrer Gründung politisch kontrolliert haben. Sie kontrollieren sie weiterhin politisch und militärisch durch die UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) und die KFOR (Kosovo Force) und nutzen sie – im Falle der USA – als Militärbasis (Camp Bondsteel bei Ferizaj, Hauptquartier des US-amerikanischen KFOR-Kontingents), um die südliche Balkanregion zu dominieren.
Im Februar 2007 ging die UNMIK mit brutaler Gewalt gegen Aktionen der Vetevendosje (VV) vor, bei denen zwei Demonstrant:innen getötet wurden. Albin Kurti wurde verhaftet, was vom US-Gesandten ausdrücklich begrüßt wurde, der seine Festnahme als „gute Nachricht für den Kosovo“ bezeichnete.
VV hatte auch eine klare Position zu Palästina. Das Internetmagazin KOSOVO2.0 schreibt: „Während des Gazakrieges 2014 gab die VV eine Erklärung ab, in der sie die israelische Gewalt verurteilte und unter anderem erklärte: ,Die Albaner:innen :innen wissen nur zu gut, was es heißt, besetzt, unterjocht und von der Auslöschung des eigenen Landes bedroht zu sein.‘ Die VV und ihr Vorsitzender, der heutige Ministerpräsident Albin Kurti, waren sich auch der systematischen und kolonialen Gewalt Israels im Gazastreifen bewusst und zogen Parallelen zwischen Kosovar:innen und Palästinenser:innen, die seit langem der Gewalt seitens Serbiens bzw. Israels ausgesetzt waren. Auch die Praktiken des westlichen Interventionismus im Kosovo oder das britische Mandatssystem in Palästina, das auch als ‚Vormundschaft fortgeschrittener Nationen’ bezeichnet wurde, waren ihnen nicht verborgen geblieben.“ (https://kosovotwopointzero.com/en/silencing-solidarity/)
Nach dem Einzug ins Parlament und vor allem nach dem Wahlsieg 2019 begann ein Wandel: Aus der ehemaligen Bewegung wurde eine Regierungspartei und Politiker:innen wurden von etablierten Parteien übernommen, die zuvor als korrupt angegriffen worden waren. Pläne wie eine progressive Einkommenssteuer und die Rücknahme „unnötiger“ Privatisierungen, z. B. im Gesundheits- und Bildungswesen, fanden keine Umsetzung. Was blieb, waren rein symbolische Handlungen wie ein Kindergeld von 10 Euro pro Monat.
Kurtis einzige Möglichkeit, seine Position zu sichern, ist der Nationalismus, aber auch die anderen, rechtsbürgerlichen Parteien im heutigen Kosovo sind sehr gut im dumpfen Nationalismus. Kurti hat diesen, wie seine Vorgänger:innen, auf einen antiserbischen reduziert. Er hat alle Angriffe auf den US- und EU-Imperialismus eingestellt. Schlimmer noch, sein Verhalten in Bezug auf Palästina zeigt, dass er eine Marionette der westlichen Imperialist:innen ist, die ihn vor Jahren inhaftiert und seine erste Regierung im Jahr 2019 unterminiert haben.
Seit dem Beginn des Gazakrieges hat die Regierung des Kosovo kein einziges Wort mehr gesagt. Schlimmer noch, die früheren Erklärungen von VV wurden aus dem Internetarchiv entfernt. Vjosa Musliu und Piro Rexhepi schreiben darüber auf KOSOVO2.0:
„Als die meisten westlichen und europäischen Länder eine einheitliche Unterstützung für die Ukraine starteten, versuchte das Kosovo, auf den gleichen Zug aufzuspringen, indem es eine riesige ukrainische Flagge mit der Aufschrift Slava Ukraini (Ehre der Ukraine) am kultigen Hotel Grand in Pristina enthüllte.
Im November 2023 enthüllte eine Gruppe von Aktivist:innen eine ähnlich große palästinensische Flagge an demselben Hotel, direkt neben der ukrainischen Flagge. Sie wurde von der kosovarischen Polizei rasch entfernt. Die Aktion fand Stunden vor einem Fußballspiel der Männer zwischen dem Kosovo und Israel statt, das ursprünglich für den 15. Oktober 2023 angesetzt war, aber nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 verschoben wurde.
Die Entfernung der palästinensischen Flagge verdeutlicht zwei Befürchtungen des derzeitigen politischen Establishments im Kosovo. Erstens erschwert die palästinensische Flagge das geopolitische Kalkül des Kosovo, denn für die politische Elite im Kosovo sendet die palästinensische Flagge die falsche Botschaft an Brüssel, Berlin und Washington und könnte den ,europäischen Weg’ des Kosovo behindern. Zweitens birgt die palästinensische Flagge die Gefahr, die Kosovar:innen als nichtweiße und muslimische Subjekte zu rassifizieren, also als Nichteuropäer:innen und letztlich als unerwünschte Mitglieder der ,europäischen Familie’“.
Die Autor:innen des Artikels auf KOSOVO2.0 sind zu beglückwünschen, weil sie diese Geschichtsfälschung aufgedeckt haben. Auch im Kosovo wächst die Solidarität mit Gaza. Wir, die Liga für die 5. Internationale, unterstützen einen offenen Brief an Kurti. Die weltweite Palästinasolidaritätsbewegung kann auch der kleinen Linken im Kosovo helfen, ihre Isolation sowohl im Land selbst als auch international zu überwinden.
Gleichzeitig zeigt aber das Beispiel des Kosovo, seines Premierministers und seiner Partei, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung nicht so einfach ist: Eine Partei und Bewegung, die sich in ihrem eigenen Land und international klar zu diesem Kampf bekannt hatte, wird unter dem Druck des US-Imperialismus gezwungen, ihn aufzugeben. Sie ordnet sich unter und macht sich zu einem Werkzeug des Imperialismus, sei es gegen die Palästinenser:innen oder gegen Serbien, das letztlich auch ein unterdrücktes und ausgebeutetes Land im Rahmen des Weltimperialismus ist.
Aus dem berechtigten Kampf gegen die nationale Unterdrückung der Albaner:innen in Jugoslawien, vor allem unter Milosevic nach dem Zerfall Jugoslawiens, wurde im Kosovo und in seiner Befreiungsbewegung UCK schnell ein Ausverkauf an den US-Imperialismus und damit die Unterdrückung der nationalen Minderheiten im Kosovo. Kurti und seine Partei hingegen hatten das Selbstbestimmungsrecht auch gegenüber den USA und der EU gefordert und vertreten. Nun ist auch ihr Kampf um Selbstbestimmung in einen engstirnigen und egozentrischen Nationalismus umgeschlagen, der es den Großmächten vor allem auf dem Balkan, aber nicht nur dort, seit Jahrhunderten erlaubt, ein Volk gegen ein anderes zu instrumentalisieren, heute das eine und morgen das andere fallen zu lassen und nach Gutdünken Konflikte und Kriege anzuzetteln. Den ökonomischen Grund für solche Konflikte, die Not und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit der Mehrheit aller dort lebenden Menschen, liefern diese Großmächte durch die Ausbeutung von Arbeitskraft und Bodenschätzen ohnehin.
Wie können also selbst Parteien und Völker, die in jüngster Zeit das Leid der nationalen Unterdrückung erfahren und den Kampf dagegen angeführt haben, daran gehindert werden, sich auf eine „letztlich rassistische und reaktionäre Politik“ einzulassen, wie es die Autor:innen von KOSOVO2.0 richtig formulieren?
Ihre Erklärung dafür ist jedoch ein völliger Irrweg: „Andererseits scheint es, dass das Schweigen der VV zu Palästina mehr als ein Schachzug ist, um die Souveränität des Kosovo zu fördern, und ihre Unfähigkeit verdeutlicht, Dekolonialität jenseits der Lektüre von Karl Marx zu verstehen, dessen blinde Flecken gegenüber den Hemisphären der Hautfarbe, des Geschlechts und der Sexualität seit langem entlarvt und bequem wiederhergestellt wurden, um einen scheinbar linken Diskurs, aber letztlich eine rassistische und reaktionäre Politik aufrechtzuerhalten.“
Nein, es ist nicht so, dass VV die Dekolonialität falsch verstanden hat oder zu marxistisch war. Es ist genau das Gegenteil der Fall: Die VV hat soziale Forderungen aufgegriffen, aber nie das Privateigentum an den Produktionsmitteln und den Kapitalismus in Frage gestellt. Sie unterliegt genau demselben Irrtum wie die meisten Anhänger:innen dekolonialistischer Ideologien: dass eine Entkolonialisierung auf nationaler Ebene und im Rahmen des Kapitalismus möglich ist.
Kapitalismus bedeutet Ausbeutung der Arbeitskraft durch das Kapital auf internationaler Ebene die Ausbeutung anderer Nationen und Völker durch die imperialistischen Mächte. Und so wie in jedem Land die arbeitende Bevölkerung gegen sich selbst ausgespielt und unterdrückt werden muss, um die Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit zu gewährleisten, so spalten die imperialistischen Mächte die „halbkolonialen“ Länder, um sie auszubeuten und zu beherrschen. Sie versuchen, jeden Freiheitskampf für ihre geopolitischen Strategien zu nutzen, sie nutzen jeden Konflikt zwischen zwei Halbkolonien, um sie zu schwächen.
Es ist also gerade die Tatsache, dass die VV nie ein sozialistisches, antikapitalistisches Programm hatte, die sie dazu gebracht hat, vor dem US- und EU-Imperialismus zu kapitulieren. Ein paar Marxzitate sind kein Ersatz dafür, sie können durchaus auch eine dekolonialistische Politik ausschmücken.
Ein revolutionäres Programm würde von der Marx’schen Erkenntnis ausgehen, dass nationale und rassistische Unterdrückung – ebenso wie die geschlechtliche – ein notwendiger Bestandteil der Ausbeutung der Arbeitskraft ist. Die Perspektive „Arbeiter:innen aller Länder vereinigt euch“ richtet sich daher auch an die am stärksten Unterdrückten und damit in der Regel am meisten Ausgebeuteten.
Auch wenn wir mit den Kämpfen aller unterdrückten Völker solidarisch sind, ist uns klar, dass letztlich nur die internationale Revolution, der Sturz des Kapitalismus auf globaler Ebene, die Grundlage für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben der Völker bilden kann.
One thought on “Kosovo und der Gazakrieg: Ohne Solidarität keine Selbstbestimmung!”