Alex Rutherford, Infomail 1261, 29. Juli 2024
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat angekündigt, dass sein Krieg gegen die Palästinenser:innen bald in eine „neue Phase“ eintreten wird. Dies wird das Gemetzel in Gaza nicht beenden, aber es droht weitere Gewalt im Westjordanland und im Südlibanon.
Israels Völkermord an der Bevölkerung des Gazastreifens nähert sich seinem Jahrestag, nachdem er seit 10 Monaten andauert. Die Verwüstungen sind regelmäßig in den Fernsehnachrichten und im Internet zu sehen. Bei Redaktionsschluss erreichte uns gerade die Nachricht, dass im Flüchtlingslager al-Mawasi westlich von Chan Yunis (Chan Junis) bei einem israelischen Luftangriff weitere 90 Palästinenser:innen ermordet und 289 verwundet wurden.
Trotz platonischer Appelle von US-Präsident Joe Biden hat Israel nicht eine Minute lang von solchen Gräueltaten abgesehen. Am 9. Juli 2024 griffen israelische Streitkräfte aus der Luft eine Schule an, in der Vertriebene untergebracht waren, wobei mindestens 29 Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Ein Video des Angriffs kursiert in den sog. sozialen Medien. Darin sind Schulkinder beim Fußballspielen zu sehen, kurz bevor die Bomben einschlugen.
Dies ist nur eine von vier Schulen, die im Juli angegriffen wurden. Die Menschenrechtsorganisation Euro-Mediterranean Human Rights Monitor erklärte, die Angriffe auf Schulen, die als Notunterkünfte genutzt werden, zeigten „eine bewusste Politik, die darauf abzielt, die Sicherheit im gesamten Gazastreifen zu verhindern und den vertriebenen Palästinenser:innen Stabilität oder Schutz zu verweigern, selbst wenn dieser Schutz nur vorübergehend ist“. Israel hat auch weiterhin Evakuierungsbefehle für Gebiete erlassen, in denen sich Menschen aufhalten, die bereits mehrfach vertrieben wurden, und die Bemühungen um Hilfslieferungen vereitelt.
In einem von der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichten Bericht heißt es, dass die Zahl der bestätigten Todesopfer derzeit zwar knapp unter 40.000 Menschen liegt (was an sich schon eine erschütternde Zahl ist), dies aber nicht das wahre Ausmaß des Grauens widerspiegelt, das dort herrscht. Zum einen berücksichtigt diese Zahl nicht die mehr als 10.000 Menschen, die unter den Trümmern der zerstörten Häuser und Gebäude begraben sind.
Diese Zahl erhöht sich noch weiter, wenn man die indirekten Todesfälle berücksichtigt, die durch die israelischen Kriegsverbrechen verursacht wurden, und zwar aufgrund der „Intensität des Konflikts, der zerstörten Infrastruktur des Gesundheitswesens, des gravierenden Mangels an Nahrungsmitteln, Wasser und Unterkünften, der Unfähigkeit der Bevölkerung, an sichere Orte zu fliehen, und des Verlusts von Finanzmitteln für das UNRWA, eine der sehr wenigen humanitären Organisationen, die noch im Gazastreifen tätig sind“, heißt es in dem Bericht.
Weiter heißt es, dass in den jüngsten Konflikten die Zahl der indirekten Personenschäden mit tödlichem Ausgang im Allgemeinen das Drei- bis Fünfzehnfache der Zahl der direkten Todesopfer beträgt. Selbst bei einer konservativen Annahme von indirekten und direkten Todesfällen im Verhältnis von 4 : 1 schätzt der Bericht die Gesamtzahl der Todesopfer auf mehr als 186.000, was 7,9 % der Bevölkerung des Gazastreifens entspricht. Selbst bei einem sofortigen Waffenstillstand wäre dies also eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das je begangen wurde.
Die israelische Brutalität ist jedoch nicht auf den Gazastreifen beschränkt. Die gesamte palästinensische Bevölkerung ist bedroht. Während die Aufmerksamkeit auf den Gazastreifen gerichtet war, hat Israel seine Enteignungen und Landnahmen im Westjordanland verstärkt. Nach Angaben der israelischen Überwachungsgruppe Peace Now (Frieden sofort) hat Israel in diesem Jahr bereits 23,7 km2 Land im Westjordanland offiziell annektiert – ein „noch nie dagewesenes“ Ausmaß.
Am 4. Juli genehmigte die israelische Regierung den Bau von 5.295 Häusern in illegalen Siedlungen. Diese Maßnahmen untergraben die Grundlage für jede Art von „Zweistaatenlösung“ weiter. Der jüngste Landraub würde nämlich mehrere bestehende Siedlungen miteinander verbinden und eine Barriere bilden, die den Palästinenser:innen den Zugang zum Jordan versperrt. Kurz gesagt: Das Westjordanland soll in ein weiteres „Freiluftgefängnis“ verwandelt werden, genau wie Gaza.
Auch im Westjordanland ist ein deutlicher Anstieg gewalttätiger Übergriffe zu verzeichnen. Der britische Sender BBC berichtete am 30. Juni, dass drei palästinensische Männer an die Motorhauben eines Jeeps der israelischen Armee gefesselt und mit hoher Geschwindigkeit über Dorfstraßen gefahren wurden. Dies ist nur ein Beispiel für die Folter, die der palästinensischen Zivilbevölkerung angetan wird. Auch die Selbstjustiz der Siedler:innen hat zugelegt. Inzwischen wurden seit dem 8. Oktober fast 10.000 Palästinenser:innen im Westjordanland festgenommen.
Es ist fast zwei Monate her, dass Biden den angeblichen „israelischen Vorschlag“ für eine dreistufige Friedensverhandlung, die zu einem Waffenstillstand führen soll, vorstellte. Seitdem sind die Fortschritte eisig, denn Israel hat sich strikt geweigert, einen Waffenstillstand in Betracht zu ziehen, der es ihm nicht ermöglicht, „alle seine Kriegsziele zu erreichen“, einschließlich der vollständigen Vernichtung der Hamas. Dies wäre natürlich kein echter Waffenstillstand.
Der Mangel an Fortschritt spiegelt Israels rachsüchtigen Wunsch wider, der Zivilbevölkerung von Gaza möglichst viel Leid zuzufügen. Einen Vernichtungskrieg zu vervollständigen, entspricht jedoch nicht den Wünschen der imperialistischen Oberherr:innen Israels. Da die westlichen Imperialiste:innen mit Waffenlieferungen an die Ukraine beschäftigt sind und innenpolitisch unter Druck stehen, weil ihr Lebensstandard sinkt, fällt ihr Appetit auf einen langwierigen Krieg gering aus. Der Völkermord führt auch zu erheblichen Unruhen und scheint sich sogar auf die Ergebnisse der jüngsten Wahlen in Großbritannien und Frankreich ausgewirkt zu haben.
Auch Israel steht unter wirtschaftlichem und militärischem Druck. Trotz seiner enormen Überlegenheit gegenüber der Hamas in diesen Bereichen ist ein Großteil des Tunnelnetzes im Gazastreifen weiterhin in Betrieb. Das Ziel Israels, die Widerstandsgruppe auszulöschen, liegt noch in weiter Ferne. Unterdessen hat die jüngste Eskalation der Kämpfe gegen die Hisbollah an Israels Nordgrenze zum Libanon das Schreckgespenst eines regionalen Flächenbrands aufkommen lassen.
In Anlehnung an den US-General Curtis LeMay während des Vietnamkriegs erklärte Israels Verteidigungsminister Joaw Galant am 22. Juni vor Reportern in Washington D.C., dass Israel in der Lage sei, den Libanon „in die Steinzeit zurückzuwerfen“. Es kann kaum bezweifelt werden, dass der zionistische Staat dazu in der Lage ist, und das derzeitige Kabinett hätte wenig Skrupel, dies zu genehmigen.
Dies würde natürlich Bidens (und Trumps) Kalkül der „Normalisierung“ der Beziehungen Israels zu den reaktionären arabischen Staaten Ägypten und Saudi-Arabien durchkreuzen. Dies hat Benjamin Netanjahu dazu veranlasst, Abgesandte des Schin Bet (Inlandsgeheimdienst, einer der drei Geheimdienste) zu den Verhandlungen in Kairo und Katar zu entsenden.
Aber seine wiederholten Vetos gegen Hamasvorschläge und die rechtsradikalen Siedlerminister:innen in seinem Kabinett haben deutlich gemacht, dass es weder einen vollständigen noch einen dauerhaften Waffenstillstand geben wird, geschweige denn den Abzug der Sicherheitstruppen des IDF oder eine Öffnung der Grenzen des Gazastreifens für Hilfe und Wiederaufbau. Auch wenn der Unterstützer des Genozids, Joe Biden, weiterhin den verwesten Leichnam der Zweistaatenlösung hochhält, glaubt ihm niemand eine Minute lang.
Jedes Abkommen, das unter dem Deckmantel von Netanjahus und Ben Gvirs „Neuer Nakba“ und den Diensten des US-Imperialismus zustande kommt, würde lediglich bedeuten, dass die Qual der Palästinenser:innen und die Verweigerung ihrer demokratischen Rechte und nationalen Souveränität fortgesetzt werden. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die Palästinenser:innen im Kampf gegen ihre Unterdrücker:innen zu unterstützen, bis ihr Land frei ist.
Das bedeutet insbesondere, dass wir dafür kämpfen müssen, die Aufrüstung Israels einzustellen und dass wir einen bedingungslosen Waffenstillstand und den Rückzug der IDF aus dem Gazastreifen und Westjordanland fordern. Um unsere Kräfte auf eine Reihe gemeinsamer Ziele zu konzentrieren, müssen die palästinensische und die Antikriegskampagne sowie die Gewerkschaften auf nationaler und internationaler Ebene Delegiertenversammlungen einberufen, um einen Aktionsplan auszuarbeiten – Boykotte, Blockaden, Streiks und Besetzungen von Arbeitsplätzen, Regierungsbüros, Schulen und Unternehmen als Teil einer Kampagne der Arbeiter:innenklasse, die sich gegen die Profite und das normale Funktionieren der Kapitalist:innen und Regierungen richtet, die am israelischen Völkermord beteiligt sind.