Marc Lassalle, Infomail 955, 4. August 2017
Der neue französische Präsident Emmanuel Macron sprach auf einer Unternehmenseröffnung und erklärte in gebrochenem Englisch: „Entrepreneur is the new France“ (UnternehmerIn ist das neue Frankreich). Seine ersten Amtshandlungen bedienen ganz offensichtlich die Interessen der sozialen Klasse, die ihn aus dem Nichts als politische Figur erschaffen, ihn unterstützt, seinen Wahlkampf und seine neue „Bewegung“ finanziert hat: die Großbourgeoisie.
Nun muss sich der Zögling seinen Zieheltern als dankbar erweisen und die Unterstützung zurückzahlen. Als erstes haben Macron und sein neuer Premierminister Édouard Philippe, ein konservativer Republikaner, ein Kabinett zusammengestellt, in dem es nur so wimmelt von konservativen PolitikerInnen und Bossen. Der konservative Republikaner Bruno Le Maire übernahm den Posten des Ministers für Wirtschaft und Finanzen. Er vertritt eine Politik des freien Markts, will die französischen Arbeitsämter privatisieren, das bisherige System der Finanzierung neuer Arbeitsstellen abschaffen und die Sozialleistungen begrenzen. Unter anderen Kabinettsmitgliedern findet sich Muriel Pénicaud. Sie war die frühere Personalchefin des Nahrungsmittelkonzerns Danone und tritt nun als Arbeitsministerin an, um endlich die Reform des französischen Arbeitsrechts zugunsten des Kapitals durchzusetzen. Die Geschäftsführerin eines Verlags, Françoise Nyssen, bekleidet das Amt der Kultusministerin, und Élisabeth Borne, ehemaliges Vorstandsmitglied bei der staatlichen Eisenbahn SCNF, fungiert für das Transportwesen.
Diese Regierung schickt sich an, eine weitreichende Kürzungspolitik umzusetzen, will den öffentlichen Sektor stark zurückfahren und Sozialausgaben zusammenstreichen. So werden z. B. die Mietzuschüsse für StudentInnen und ArbeiterInnen unterhalb der Armutsgrenze gekappt, während die Superreichen großzügige Vermögenssteuergeschenke erhalten sollen, wovon auch Macron selber profitieren würde. Der neue Präsident spielt den Antipoden des Robin Hood: raubt die Armen aus, um den Reichen zu helfen.
Das Hauptgericht bei diesem ekelerregenden Menü ist die Beseitigung der im Code du Travail niedergelegten Arbeitsgesetzgebung mit ihren Schutzbestimmungen gegen Heuern und Feuern, zur Begrenzung der Arbeitszeit, mit Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften, gewerkschaftlichen Vertretungsrechten und landesweiter Gültigkeit von Arbeitsverträgen sowie Regelung vieler anderer Gesichtspunkte für das Leben der ArbeiterInnenklasse. Die Bosse haben die „Vereinfachung“ dieser Regeln gefordert, und Macron will die unter Hollande begonnene Deregulierung fortsetzen, die durch die Proteste und Aktionstage des vergangenen Jahres verzögert und eingeschränkt ist.
Ein paar Beispiele genügen, um zu zeigen, was mit „Vereinfachung“ wirklich gemeint ist. Nach bestehendem Recht können alle ungesetzlich entlassenen ArbeiterInnen seinen/ihren Boss verklagen und Entschädigung erhalten, festgesetzt von Sonderarbeitsgerichten, deren Mitglieder teilweise von den ArbeiterInnen gewählt werden. Die Macron-Regierung will nun ein neues Gesetz durchdrücken, wonach die Entschädigungszahlung auf ein Mindestmaß gestutzt wird. Damit werden den Bossen volle Freiheiten gelassen, ArbeiterInnen ohne nennenswerte Folgen außerhalb der Gesetze zu entlassen. In einer Art orwellscher neuer Sprachregelung heißt dies Vorhaben dann „Befreiung der Unternehmen, Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Stopp der Prekarität.“
Noch bösartiger ist die sogenannte „Umkehr der Normenhierarchie“, ein phantasiereicher Tarnname für ein einfaches Konzept: Bislang konnten Vereinbarungen zwischen KapitalistInnen und Gewerkschaften in jedem Geschäftszweig oder in Einzelbetrieben getroffen werden, vorausgesetzt, sie waren für die ArbeiterInnen vorteilhafter als im Code du Travail vorgesehen, der als eine Art Sicherheitsnetz mit Elementarrechten und Regeln für alle dient. Das neue Gesetz stülpt dies um und gestattet lokale Abmachungen als Hauptregel. Da ArbeiterInnen die klar schwächere Seite in einer einzelbetrieblichen Situation darstellen, können sie von ihren Bossen mit der Drohung „Entweder ihr unterschreibt, oder der Betrieb wird dicht gemacht und euer Arbeitsplatz ist futsch!“ erpresst werden. Dies wäre das Ende des Code du Travail und würde daher eine totale Deregulierung ganz zum Vorteil der Unternehmenshäupter bedeuten.
Kein Wunder, dass Macron mit Widerstand rechnet. Im letzten Jahr baute sich eine weitverbreitete und wirksame Opposition gegen das von der damaligen Ministerin eingebrachte, parlamentarisch durchgesetzte und nach ihr benannte El Khomri-Gesetz auf. Das normale Gesetzgebungsverfahren erlaubte Vorbereitungszeit für und Konzentration auf Massenaktionen und Proteste. Nunmehr will Macron die Klippe umschiffen, indem er die Reform per Dekret erlässt. Das neue Gesetz wird mit Lichtgeschwindigkeit den Sommer über vorbereitet und mit einem gesonderten Verfahren praktisch an einer Diskussion im Parlament vorbeigeschleust, obwohl der Präsident dort ja über eine komfortable Mehrheit verfügt.
Schlimmer noch ist, dass unter Hinweis auf das übergroße Wählermandat, obgleich die Mehrheit der Wählerschaft sich der Stimme enthalten oder ungültig gestimmt hatte, sich die großen französischen Gewerkschaften, darunter auch die CGT, auf Scheinverhandlungen über die Arbeitsrechtsreform eingelassen haben. Macron hat es sogar fertig gebracht, die Force Ouvrière (FO), eine größere Gewerkschaft, die hinter der Protestbewegung des vergangenen Jahres stand, zu mehreren positiven Äußerungen zu bewegen: „In der Regierung herrscht ein wirklicher Wille zu diskutieren.“ Die FO wird sich wahrscheinlich nicht direkt gegen das neue Gesetz stellen, es sei denn, eine Massenbewegung veranlasst die Gewerkschaftsführung zu Maßnahmen.
Die Attacken der neuen Regierung machen jedoch nicht bei der Arbeitsgesetzänderung halt. Macron weiß, dass er auf die Hilfe des bewaffneten Flügels der Klassenmacht der Bourgeoisie angewiesen ist. Von daher stärkt er die Armee, Polizei und repressive Gesetze. Entlang dieser Linie wurde bereits zum sechsten Mal der Ausnahmezustand verlängert, dessen Inhalt nun dank eines neuen Gesetzes schon zum Normalfall werden soll. Nächtliche Polizeiüberfälle, umbenannt in „Besuche“, werden genauso ermächtigt wie die Beschlagnahme elektronischer Geräte. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit mit Aufenthaltsrecht nur in umgrenzten Bezirken gilt für „Verdächtige“, gegen die keinerlei Straftatvorwürfe vorliegen. Gebiete können zu „Sicherheitszonen“ erklärt werden, in denen die Polizei mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet ist. Diese ganzen antidemokratischen, jedoch gesetzlichen Mittel, die selbst von Amnesty International gerügt werden, sind bereits gegen soziale Bewegungen angewendet worden, und dies wird so weitergehen und den Ausnahmestatus zu einem Dauerzustand machen.
Macron hat die französische Armee in Mali besucht, wo die imperialistische Intervention schon jahrelang andauert. Obwohl dieses Jahr der Rüstungshaushalt Einbußen hinnehmen musste, die den Rücktritt des Armeechefs General Pierre de Villiers nach sich zogen und in den Medien große Beachtung fanden, wird der Rüstungsetat in den kommenden Jahren auf 2 % des Bruttoinlandsprodukts aufgestockt. Macron denkt gewiss nicht daran, die wiederholten Einsätze der Armee als Hauptwerkzeug des französischen Imperialismus aufzugeben. Im Gegenteil, er möchte eine noch aggressivere Rolle als Führer des europäischen Imperialismus spielen. Auf militärischem Gebiet repräsentiert Frankreich die größere Macht als Deutschland und kann es seine relative ökonomische Schwäche überspielen.
Diese Strategie trat bei den Einladungen an Putin, Trump und Netanjahu zum Besuch nach Paris offen zu Tage. Jüngst hat Macron seine Bereitschaft bekundet, eine Hauptrolle in Libyen zu übernehmen, wo er die Einrichtung von Sammellagern („hot spots“) plant, um MigrantInnen auszufiltern. Dies ist die Fortsetzung der zynischen EU-Linie, mit Tyrannen wie Gadaffi oder Erdogan ein schmutziges Geschäft zu machen, damit sie um jeden Preis die „Ordnung“ aufrechterhalten und den Strom der Flüchtlinge auf die andere Seite des Mittelmeers blockieren.
Angesichts der mehr als 100.000 MigrantInnen, von denen die meisten im Freien unter menschenverachtenden Bedingungen in der Gegend um Nizza, in Paris und Calais kampieren müssen, meinte Macron neulich: „Vor Ablauf des Jahres will ich keine Frauen und Männer auf der Straße oder in den Wäldern mehr sehen.“ Zwar hört sich das humanitär an, doch bedeutet es in Wahrheit, dass die willkürliche Auslese bei Flüchtlingen und WirtschaftsmigrantInnen viel schneller vonstatten gehen soll und die Abschiebungen stark zunehmen werden. 2700 EinwanderInnen wurden kürzlich in Paris in der 34. Polizeioperation innerhalb von zwei Jahren erfasst. Hinter dem humanitären Gerede steckt die bittere Wahrheit, dass nicht selten sogar die Verteilung von Wasser und Lebensmitteln durch humanitäre Organisationen von der Polizei unterbunden wird.
Macrons Wahlmandat und die Vermeidungsstrategie von parlamentarischen Verzögerungen in Form durchgepeitschter Erlasse bedeuten, dass viel weniger Zeit bleibt, um Widerstand dagegen zu organisieren als noch bei den Attacken zu Amtszeiten von Hollande und Sarkozy. Die Zeit arbeitet nicht für die französischen ArbeiterInnen, die Jugend und die Einwanderergemeinde unter Polizeiangriffen.
Eine jüngst sich formierende Bewegung, die Soziale Front FS (Front Social), besteht aus radikalen GewerkschafterInnen und anderen AktivistInnen. Die FS hat schon 3 Demonstrationen gegen Macrons Offensive organisiert, jede etwa 2000 TeilnehmerInnen stark. Es war völlig richtig, den Kampf vom ersten Tag der Amtsgeschäfte Macrons an zu organisieren, aber Massenkräfte müssen in einer machtvollen Einheitsfront mobilisiert werden, wenn das Aushängeschild der Liberalismus-Ideologie des europäischen freien Markts demontiert werden soll.
Das heißt ein vereinter Widerstand gegen Macrons reaktionäre Reformen ist dringend geboten. Die Gewerkschaften, die Jugend und StudentInnen müssen auf die Straße gehen und ihre Betriebe und ihr Universitätsgelände besetzen. Tous ensemble – alle zusammen!, so wie es viele im vergangenen Jahr gegen das El Khomri-Gesetz getan haben. Philippe Martinez, der Sekretär der CGT, der kämpferischeren der größten Gewerkschaften, plant einen Streiktag und Demonstrationen am 12. September. Mitmachen will auch die Gewerkschaft SUD. Die mit 875.000 mitgliederstärkste Gewerkschaft CFDT (CGT verfügt über 710.000, FO über 310.000) hat hingegen ebenso wie die FO angekündigt, dass sie nicht zu Streiks gegen die „Reform“ aufrufen wird.
Eine weitere Schwäche des Widerstands liegt in der politischen Uneinigkeit der Linken, v. a. erweist sie sich als Hindernis bei der Formierung einer einheitlichen Kampffront gegen Macron. Jean-Luc Mélenchons Auftreten als vermeintlicher Führer des Widerstands und seine Überbetonung der von ihm geführten populistischen Bewegung „La France insoumise“ (Unbeugsames Frankreich) entfremdet nur andere Kräfte aus der ArbeiterInnenbewegung.
Sein sozialer Patriotismus, d. h. ausgesprochen nationaler Chauvinismus, trat zu Tage, als er Macron wegen der Entlassung von General de Villiers und der Einsparung von Rüstungsausgaben verurteilte, denn „Frankreich braucht seine Armee“. Ebenso kreidete er Macron die Entschuldigung des französischen Staates wegen der Zusammentreibung und Deportation von Pariser Ju(e)dInnen 1942 an und rief aus: „Nein, nein, Vichy (der mit der deutschen Besatzung kollaborierende Teil Frankreichs unter der Regierung Pétain – d. Ü.) das ist nicht Frankreich!“ Mélenchon hat die Trikolore für die rote Fahne eingetauscht und die Marseillaise für die Internationale. Er verkörpert die rückschrittlichsten Tendenzen in der Linken und taugt überhaupt nicht als Führer des Widerstands gegen Macron. Seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen führt er einen Rachefeldzug gegen die französische KP und die Überbleibsel der Sozialistischen Partei PS. Er hat zu eigenen Demonstrationen am 20. September aufgerufen.
Natürlich hat das Fehlen einer größeren und militanten antikapitalistischen revolutionären Partei, die eine strategische Führung im Klassenkampf bilden könnte, das Erblühen solcher populistischen Abweichungen gestattet. Unterdessen haben sich Spaltungen innerhalb der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA) ergeben. Die einen tendieren zu Mélenchon und die anderen wollen unabhängig innerhalb der Sozialfront in den Widerstand eingreifen. Diese Spaltung in der NPA würde aber bedeuten, dass ihre Stellung sehr schwach wäre, wenn es um die politische Führung ginge. Seit Gründung der NPA sind innere Auseinandersetzungen, die kein positives Ergebnis in Form eines gemeinsam beschlossenen Aktionsprogramms gebracht haben, in starke Mitgliederverluste gemündet.
Es wird zwar sicher Widerstand auf den Straßen geben, aber die soziale Bewegung muss sich auf Basisebene in Aktionsausschüssen organisieren, sonst wird die Regierung wie in der Vergangenheit Nutzen aus der Feigheit und dem Reformismus der Gewerkschaftsführung ziehen. Ansonsten droht, dass die Regierung die Bewegung schwächen und spalten kann und Angriffe startet, die zu einer strategischen Niederlage der kämpferischsten ArbeiterInnenklasse in Westeuropa führen könnten.