Jona Everdeen, Neue Internationale 283, Juni 2024
Als jüngster deutscher Beitrag zur sich in ganz Nordamerika und Europa ausgebreitet habenden propalästinensischen Studierendenbewegung wurde am 22. Mai das Sozialwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität besetzt. Anders als zwei Wochen zuvor an der FU duldete die Universitätsleitung die Besetzung zunächst, jedoch wurde es am Abend des nächsten Tages ebenfalls mit brutaler Polizeigewalt geräumt. Wie ist die Situation der Studierendenbewegung in Berlin? Und was kann sie tun, um in Zukunft erfolgreich zu sein?
Während im Zuge des Protestcamps Aktivist:innen das Hauptgebäude der CUNY in New York besetzen und in „Hind’s Hall“ umbenannten und das Protestcamp an der Universität den Namen „Hind’s Garden“ trägt, wurde das Institut für Sozialwissenschaften in Jabalia-Institut umbenannt. Jabalia (deutsche Transkription: Dschabaliya) ist dabei eines der Lager, in die Palästinenser:innen flüchten mussten und auch bekannt als der Ort, an dem die Intifada 1987 begann und Hochburg des Widerstands im Gazastreifen. Nach mehreren Versuchen des israelischen Militärs, das Lager Anfang der 2000er Jahre einzunehmen, startete es im Oktober 2004 eine Invasion des nördlichen Gazastreifens, die sich besonders auf Jabalia konzentrierte. Nachdem es über 130 Palästinenser:innen getötet hatte, mussten es sich jedoch zurückziehen. Jabalia wurde in den letzten sieben Monaten der israelischen Invasion im Gazastreifen wiederholt bombardiert und wird derzeit erneut von den IDF angegriffen, was zu schweren Opfern unter der Zivilbevölkerung führt.
Die bloße Umbenennung ist jedoch nicht alles. Im Zuge der Besetzung und der Repressionen gehen die Forderungen der Studierenden schnell unter, doch wie bereits bei der Besetzung der FU dient diese nicht nur als Selbstzweck, sondern dazu, ihre Forderungen sichtbar zu machen und durchzusetzen. Die Hauptforderungen waren dabei:
1. Stoppt den Genozid in Palästina mit allen möglichen Mitteln.
2. Für den akademischen und kulturellen Boykott des israelischen Staates.
3. Schutz aller akademischen Freiheiten, Schluss mit allen Repressionen gegen Studierende insbesondere im Kontext der Palästinasolidarität.
4. Anerkennung von Deutschlands kolonialer Geschichte – und deren Anteil am aktuellen Genozid.
Organisiert von Studierenden der HU sowie Unterstützer:innen aus anderen Universitäten, begann der Protest am Mittwochnachmittag direkt nach Ende des vorherigen Unterrichtsblocks. Viele Studierende kamen direkt aus ihren Kursen, nicht wenige von ihnen schlossen sich Soliprotesten vor dem Institutsgebäude an. Doch ähnlich wie bei der FU-Besetzung dauerte es nicht lange, bis die Polizei vor Ort war. Diese riegelte zunächst gemeinsam mit dem Sicherheitsdienst der Universität den Haupteingang zum Gebäude ab, so dass niemand mehr hereinkam und es nur durch den Hintereingang verlassen werden konnte. Während der Protest vor der Uni auf rabiates Vorgehen der Berliner Polizei traf – eine Person musste ins Krankenhaus, mehrere wurden ohnmächtig – war es eine Überraschung, dass die Besetzung bis zum nächsten Tag um 18 Uhr geduldet und gar eine Diskussionsveranstaltung zwischen Präsidium und Besetzer:innen anberaumt wurde.
So fanden am nächsten Tag mehrere Workshops statt, es wurden großzügige Essensspenden ins besetzte Gebäude gebracht und die Stimmung während der Besetzung blieb durchweg kämpferisch. An der Diskussionsveranstaltung wollten mehr Aktivist:innen teilnehmen, als in den Raum passten, und gleichzeitig standen auch, wie am Vortag, zahlreiche solidarische Aktivist:innen vor dem Eingang des Institutsgebäudes in Protest gegen die drohende Räumung. Nachdem zunächst angekündigt wurde, dass nach der Diskussion erneut Verhandlungen um eine Fortführung der Besetzung stattfinden sollten, machte die Polizei bereits kurz vor den als Frist gesetzten 18 Uhr klar, dass sie gedachte, die Besetzung möglichst bald zu beenden, was sie dann etwas später auch, mit teils enormer Brutalität, tat – zumindest deren eigenen Aussagen zufolge gegen den Wunsch der Unipräsidentin und auf direkten Befehl von „weiter oben“.
Während der Räumung wurden der Presse und einem Anwalt der Zutritt verwehrt. Ein Journalist der Berliner Zeitung, der sich innerhalb des Jabalia-Institutes befand, wurde niedergeschlagen und über mehrere Stunden festgehalten und eine Studierende sexuell angegriffen, indem bei der Räumung unter ihren Rock gefasst wurde und sie anschließend über eine Stunde isoliert wurde, „um sich zu beruhigen“. Ebenso wurden alle Personalien aufgenommen von jenen, die sich im Gebäude befanden – ohne dass irgendwelche Gründe genannt wurden, was ihnen konkret vorgeworfen wird.
Die brutale Räumung des Protestcamps an der FU unmittelbar nach dessen Errichtung – welches im Gegensatz zur Besetzung an der HU nicht einmal den Lehrbetrieb einschränkte – hatte den Effekt, dass sich jene, die sich bisher in Schweigen gehüllt haben, zu Wort meldeten. Die Empörung über die massive Polizeigewalt, Repression gegen die Studierenden und Einschränkung der Versammlungsfreiheit war groß, so dass sich der AStA der FU, nicht gerade für seine Palästinasolidarität bekannt, das Vorgehen scharf verurteilte und selbst einige prozionistische Dozierende und Professor:innen stellten sich gegen die Räumung und forderten stattdessen eine stärker auf Dialog ausgerichtete Politik.
Dies hatte zur Auswirkung, dass sich der Rahmen, in dem sich die Debatte bewegt, veränderte. Während vorher über Repressionen der Palästinasolidarität geschwiegen wurde, wurden nun offen die Aushebelungen der demokratischen Rechte und unverhältnismäßige Repression, der die Bewegung von Anfang an ausgesetzt ist, kritisiert. So wurde unmittelbar nach dem Protest ein offener Brief von Dozierenden sowie Professor:innen veröffentlicht. Ebenso gab es – nachdem sich Unterzeichner:innen des Briefs mit einer Hetzkampagne der BILD-Zeitung konfrontiert sahen – auch eine Bundespressekonferenz, die sich eigens mit der Legalität und Räumung der FU-Proteste auseinandersetzte – und alle vier akademischen Vertreter:innen verteidigten diese Erklärung. Die Besetzung der HU reiht sich in diesen Erfolg ein. Nicht nur, dass sich einige Professor:innen kurzzeitig solidarisierten und zu den Studierenden setzten – die Besetzung und ihre Räumung zeigte klar auf, auf wessen Seite die Unileitungen stehen.
Denn ein PR-Desaster wie an der Freien Universität wollte Julia von Blumenthal, Präsidentin der HU, sich ersparen und stattdessen als dialogbereit präsentieren. Als Teil einer solchen Strategie sind die zeitweise Duldung der Besetzung und die, offiziell als akademische Veranstaltung bezeichnete Diskussion zu verstehen. Denn Blumenthal hat mit ihrer Politik in der Vergangenheit bereits klargemacht, auf wessen Seite sie eigentlich steht, indem sie ein Sit-In, welches vor einigen Wochen vor dem Hauptgebäude der HU stattfand – kurz nach Räumung der FU –, gewaltsam räumen ließ, wie ebenso ihr repressiver Umgang mit dem Student Collective an der Uni selbst zeigt. Statt also ernsthaft den Rufen ihrer Kolleg:innen nachzukommen, die sich offen gegen die Einschränkungen des Versammlungsrechts stellen, hat sie letzten Endes der Politik des Berliner Senates nachgegeben, während sie versucht, Schuld von sich zu weisen.
Auch die Nachbereitung der Räumung zeigt, dass die Unileitung, trotz signalisierter Redebereitschaft und verbalen Protests gegen die Räumung seitens hochrangiger Universitätsangestellter Donnerstagabend, sicher nicht auf Seiten der Studierenden, sondern nur für ihre eigenen Interessen steht. So ist das Institutsgebäude für die nächsten mindestens 2 Wochen geschlossen, angeblich aus Renovierungsgründen. Dabei ist nichts so sehr kaputtgegangen, dass man nicht nach ein wenig Aufräumen den Regelbetrieb wieder aufnehmen hätte können. Doch auch Veranstaltungen, die überhaupt nicht in den betroffenen Räumen stattgefunden hätten, werden „in Folge der Besetzung“ abgesagt bzw. ins Digitale verlegt. Die Vermutung liegt also nahe, dass es eher darum geht, die Studierenden des Sozialwissenschaftlichen Instituts erst einmal von der Uni fernzuhalten, aus Angst, es könnte sonst zu weiteren kritischen Aktivitäten kommen.
Doch während die Politik der Unileitung auf vorsichtigem Taktieren basierte, zeigte sich auch wieder einmal, wie es mit der Autonomie der Hochschulen steht, wenn’s hart auf hart kommt. Bereits am Mittwoch vertrieb die Polizei, während die Verhandlungen zwischen Präsidium und Besetzer:innen liefen, die Protestierenden vor dem Gebäude, ohne einen wirklichen Grund dafür.
Noch stärker zeigt sich der Wunsch des Berliner Senats nach scharfer Repression an den Aussagen von Blumenthals, dass sie gar keine Wahl hatte, als der Räumung schließlich doch zu zustimmen, da der Befehl dafür „von oben“ gekommen sei. Sprich von Berlins rechtspopulistischen Möchtegernbonaparten Kai Wegner und seinem Bildungssenat. Auch wenn Julia von Blumenthal dies jetzt als Vorwand nutzen mag, die Schuld für die Räumung von sich zu weisen, zeigt es doch erneut, dass der deutsche Staat Gefährdungen seiner „Staatsräson“ im Zweifelsfall ganz unbürokratisch und ohne Beachtung gängiger rechtsstaatlicher Konventionen mit dem Polizeiknüppel niederschlagen lässt.
Die Besetzung hat jedoch auch die Stärke der Bewegung offenbart. Doch was tun, damit die Besetzung des Jabalia-Instituts zum Ausgangspunkt weit stärkerer Studierendenproteste wird und nicht deren Höhepunkt bleibt?
Eine Antwort auf diese Frage ist schwierig. Schließlich bewegt sich der Protest der Studierenden in den Grenzen der deutschen Debatten. Während Rafah bombardiert wird, weiter Menschen vertrieben, getötet und ausgehungert werden, geht es in der Debatte hierzulande oftmals darum, grundlegende demokratische Rechte zu verteidigen – und Palästinasolidarität überhaupt erst zu etablieren. Das laugt nicht nur aus, sondern limitiert den Protest bis zu einem gewissen Grad, ohne dass die Aktivist:innen Schuld daran tragen. Um das zu vermeiden, muss neben der existierenden Arbeit – der Zuspitzung des Konfliktes mit dem Berliner Senat – die Basisverankerung weiter gestärkt werden. Zumindest an den Berliner Universitäten ist die Palästinasolidarität seit Jahren die aktivste Bewegung, die eine reale Verankerung an den Unis aufweist – dabei wird sie zum Großteil von internationalen Studierenden getragen. Ohne sie wäre die Bewegung nicht möglich. Gleichzeitig braucht es – um den Protest auszuweiten – verstärkte Basisarbeit mit dem Ziel, weitere Studierende in die Aktivität zu ziehen. Mittel dabei können Vollversammlungen sein, zu denen mobilisiert werden muss mit dem Fokus, konkrete Verbesserungen an den jeweiligen Unis selber zu erkämpfen. Das bedeutet auch, einen Teil der Forderungsmatrix herunterzubrechen. Seien es solche nach konkreten Seminaren, die besagte deutsche Kolonialgeschichte auf den Prüfstand stellen, das Angebot, Gastprofessor:innen einzuberufen, die eine klare antizionistische Position vertreten (wie beispielsweise Nancy Fraser, deren Stelle von der Universität Köln gestrichen wurde), oder das Einstellen von Projekten, die den Genozid in irgendeiner Form unterstützen.
Erstere Vorschläge scheinen unmittelbar nicht viel zu bringen – zumindest nicht jenen, die in Palästina um ihr Leben fürchten. Gleichzeitig kann das Herunterbrechen auf konkrete Forderungen dazu führen, dass sich Studierende, die bisher geschwiegen haben, aktiver dazu verhalten – und zum Mitmachen animiert werden. Dies ist ein notwendiger Schritt, um die Bewegung weiter aufzubauen und an den Universitäten nachhaltig zu verankern.