Arbeiter:innenmacht

Neues Selbstbestimmungsgesetz in Kraft: Ein Grund zur Freude?

Lucas Werkmeister, CC BY 4.0 , via Wikimedia Commons

Jürgen Roth, Infomail 1270, 21. November 2024

Seit dem 1. November ist das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) in Kraft. Es soll die Änderung von Namens- und Geschlechtseintrag für trans, inter und nichtbinäre Menschen erleichtern und den Vorgang entpathologisieren. Seit dem 1. August konnten bereits Anmeldungen erfolgen. Das Gesetz hatte etliche Vorläufer.

Kaiserreich und Weimarer Republik

Noch ins 20. Jahrhundert hinein galten insbesondere trans Frauen für weite Teile der Gesellschaft und Behörden gerade in der westlichen Welt als Homosexuelle. Genau wie diese wurden sie diskriminiert und bestraft. 1871 wurde im gerade gegründeten Kaiserreich der Paragraph 175 im Reichsstrafgesetzbuch eingeführt.

Sogenannte „widernatürliche Unzucht“, also Geschlechtsverkehr zwischen Männern, war demnach ab Januar 1872 mit einer Haftstrafe zu ahnden, lesbischer Geschlechtsverkehr war hingegen erlaubt. Grundsätzlich war es ebenfalls erlaubt, die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen. Trotzdem wurden trans Menschen wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ oder „groben Unfugs“ vielfach bestraft.

NS-Regime

Das NS-Regime verschärfte die Verfolgung von trans Menschen wieder massiv. Gesetzlich verboten war nicht die trans Identität an sich. Stattdessen wurden trans Menschen als Homosexuelle oder Exhibitionist:innen verfolgt. Das Regime verschärfte den Paragraphen 175 im Jahr 1935: Allein der bloße Verdacht, jemand sei homosexuell, konnte mit zehn Jahren Gefängnis bestraft werden. Schätzungen gehen davon aus, dass während des Nationalsozialismus rund 50.000 Männer aufgrund des Paragraphen 175 inhaftiert und Tausende in Konzentrationslagern ermordet wurden – wie hoch der Anteil an trans Menschen unter den Opfern war, ist nicht bekannt.

Bundesrepublik und DDR

In der Bundesrepublik und der DDR blieben trans Menschen ausgegrenzt und benachteiligt. In der öffentlichen Debatte der DDR kam geschlechtliche Vielfalt nicht vor, Informationen über transgeschlechtliche Identitäten oder medizinische Möglichkeiten des Geschlechtswechsels waren für trans Menschen vor allem nach dem Mauerbau schwer zu finden. Eine Subkultur und Orte der Vernetzung gab es kaum. 1968 erneuerte die DDR das Strafgesetzbuch und erlaubte homosexuelle Handlungen auch unter Männern. Anfragen nach Änderungen des Geschlechtseintrags mussten an das Ministerium für Gesundheitswesen gestellt und mit medizinischen Gutachten begründet werden. Erstmals erlaubt wurde dies laut der Psychologin Ulrike Klöppel 1959. 1976 erließ das Ministerium für Gesundheitswesen eine „Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten“, die jedoch kaum bekannt war und nur wenigen Personen weiterhalf.

In der Bundesrepublik wurde in der Psychologie und Chirurgie stärker über Geschlechtswechsel und geschlechtsangleichende Operationen diskutiert – durchgehend wurde „Transvestismus“ und „Transsexualität“ als psychische Störung, Abweichung von der Norm und eine Form der Homosexualität betrachtet. In den 1970er Jahren vernetzten sich trans Menschen zunehmend, schufen Hilfsangebote und forderten mehr Rechte und Anerkennung. Wenige transgeschlechtliche Menschen fanden bis dahin eine geregelte Arbeit, sodass viele sich prostituierten. 1978 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der Staat es trans Personen ermöglichen müsse, ihr rechtliches Geschlecht und ihren Vornamen ändern zu lassen. Das daraufhin ausgehandelte TSG trat am 1. Januar 1981 in Kraft.

Transsexuellengesetz (TSG)

Es wurde 1980 vom Bundestag beschlossen und seitdem stark verändert, da einzelne Vorschriften des Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt wurden. Für die Änderung des Vornamens oder des Geschlechts, die sogenannte Personenstandsänderung, musste ein Antrag gestellt werden, über den schließlich ein Gericht entschied. Dabei musste die antragstellende Person nachweisen, dass sie sich nicht mit dem Geschlecht auf ihrer Geburtsurkunde identifiziert sowie seit mindestens drei Jahren und voraussichtlich dauerhaft entsprechend ihrer Prägung lebt. Zwei Sachverständige wurden vom Gericht beauftragt, diese Fragen zu beurteilen.

In einem 2016 vom Bundesfamilienministerium beauftragten Gutachten wird das TSG als „reformbedürftig“ bezeichnet: Es verstoße gegen Grundrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention. In seinem Aufbau basiere das Gesetz auf der Vorstellung, dass „Transsexualität“ eine psychische Erkrankung sei und trans Menschen eine chirurgische Angleichung unbedingt durchführen wollten. Beide Annahmen seien inzwischen widerlegt.
Als wichtigste Kritikpunkte nennt das Gutachten:

  • Die Begutachtung durch die Sachverständigen, die von den Betroffenen als entwürdigend und als Eingriff in ihre Privatsphäre wahrgenommen würde.
  • Die hohen Kosten der Verfahren von durchschnittlich über 1.800 Euro.
  • Die lange Dauer der Verfahren von durchschnittlich neun Monaten.

Bis vor wenigen Jahren unterlag ein Wechsel der Geschlechtszugehörigkeit noch höheren Hürden. Diese wurden durch Gerichtsentscheidungen gekippt.

  • 1982 hob das Bundesverfassungsgericht die damalige Altersgrenze von 25 Jahren für den Geschlechtswechsel auf, seit 1983 gibt es auch die Altersgrenze für den Namenswechsel nicht mehr.
  • 2008 kippte es die Regelung, nach der transgeschlechtliche Menschen sich scheiden lassen müssen, um ihr Geschlecht ändern zu dürfen.
  • 2011 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass sich für den Geschlechtswechsel niemand sterilisieren lassen muss oder geschlechtsangleichende Operationen durchgeführt werden müssen.
  • Seit 2020 dürfen trans Menschen nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs auch den Geschlechtseintrag „divers“ wählen oder ihn offenlassen. Davor galt die Regelung nur für intergeschlechtliche Personen.

Kein Ende der Diskriminierung

Fast 10 Jahre – zwischen 2011 und 2020 – taten die Großen Koalitionen aus Union und SPD also nichts. Im neuen SBGG wird die reale Selbstbestimmung durch staatliche Autorität teils eingeschränkt. So sind bei Änderung des Geschlechtseintrags in fast allen Fällen zwingend neue Vornamen zu wählen – ein Rückfall hinters TSG. Sie müssen dem geänderten Geschlechtseintrag „entsprechen“.

Andere Regelungen verzögern den Vorgang. Drei bis sechs Monate vor Abgabe der Erklärung muss die obligatorische „Bedenkzeit“ angemeldet werden. Wird die Erklärung nicht binnen sechs Monaten nach Anmeldung bestätigt, verfällt sie und es muss ein neuer Anlauf genommen werden.

Hinzu kommt eine einjährige Sperrfrist, in der eine betroffene Person keine weiteren Änderungen tätigen darf. Bedenkzeit und Sperrfrist sollen einer angeblichen Missbrauchsgefahr vorbeugen.

Personen mit Duldungsstatus und solche im Asylverfahren dürfen das SBGG gar nicht nutzen. Wegen kurzen Duldungsfristen und im Anerkennungsverfahren sowieso ist es schwieriger, langfristige Anstellungen zu finden. Es müssen häufiger Bewerbungen erfolgen und Identifikationspapiere vorgelegt werden, die aufgrund von „Widersprüchen“ zwischen Namen und äußerem geschlechtlichen Erscheinungsbild rassistische und/oder transphobe Diskriminierungen wahrscheinlicher werden lassen.

Misstrauensgesetz

Besonders zwei Bevölkerungsgruppen unterliegen besonderem Misstrauen: die ohne deutsche Staatsangehörigkeit und die Wehrpflichtigen nach Art. 12a des Grundgesetzes.

§ 2 (4) des SBGG zielt auf Personen mit Aufenthaltstitel, z. B. Flüchtlingsschutz. Erklären deutsche Behörden innerhalb zweier Monate nach Abgabe der Erklärung ein Ereignis zu einem, das zur Löschung des Aufenthaltstitels führt, tritt die Änderung nicht in Kraft. Der enge zeitliche, aber zufällige Zusammenhang wird dabei vom Gesetz als Betrugsabsicht interpretiert.

Wollen deutsche Staatsangehörige ihren männlichen Geschlechtseintrag ändern und tritt binnen zweier Monate nach der Erklärung ein Spannungs- oder Verteidigungsfall ein, bleibt die Änderung nur im Zivilleben gültig. Militärgeschlechtlich bleibt die Person ein Mann! Nimmt man noch die Bedenkzeiten hinzu, ist der tatsächliche zeitliche Abstand größer als 2 Monate.

Regelungen wie Militärgeschlecht und Schikanen für Geflüchtete suchen weltweit ihresgleichen und fallen deutlich hinters TSG zurück.

Privatisierung der Geschlechtlichkeit, Verrechtlichung des Politischen

Der sog. Hausrechtsparagraph 6.2 SBGG regelt alles andere als eindeutig, dass niemand allein aufgrund eines Namens und Geschlechtseintrags Zugang z. B. zu einer Frauensauna „verlangen“ darf. Darüber hinaus regelt das Hausrecht den Zugang zu besonderen Räumen im Interesse derer Besitzer:innen. De facto wird damit die im alten TSG zeitlich begrenzte externe Begutachtung privatisiert und verlängert, durch öffentliche Toiletten, Sportvereine und andere Orte in Gang gesetzt. Durch die Auslagerung an Privatinteressen kann man sich aufs Recht weder berufen noch verlassen. Die cis Normativität setzt sich außer auf dem Weg über den Geldbeutel (Privatklage), also hinter dem Rücken wieder durch, sprich: trans Rechte sind exklusiv, nur für Reiche! Recht haben und Recht bekommen ist also etwas Verschiedenes und deren Deckungsgleichheit bleibt „in letzter Instanz“ eine Klassenfrage!

Das SBGG verweist also zwar auf das allgemeine Antidiskriminierungsgesetz („Gesetz zur Gleichstellung und sozialen Gleichbehandlung“), gleichzeitig besagt es, dass Menschen aus Privaträumen ausgeschlossen werden dürfen, wenn Menschen, die sich „normalerweise dort aufhalten“, bedroht fühlen. Damit provoziert es Streitigkeiten zwischen zwei Privatinteressen, die beide rechtlich geschützt sind. Wo Recht gegen Recht steht, entscheiden aber „normalerweise“ die Gewalt oder die Brieftasche. Ganz dem neoliberalen Geiste entsprechend bilden Auslagerung von (politischen) Prozessen und Vorfällen in Geschäfte mit und als Waren (Kommodifizierung), Privatisierung und Justizialisierung einen unauflöslichen und verhängnisvollen Zusammenhang.

Das SBGG bildet also ein Gesetz mit Ausnahmecharakter, sein überwiegender Teil beschäftigt sich eben mit Ausnahmen von der einfachen Erklärung. Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht? Der deutsche Amtsschimmel wiehert so deutlich wie im sonstigen Alltag.

Minireform des Abstammungsrechts im SBGG

Das trifft auch auf seine Abstammungsregeln zu. So hat ein mit einer cis Frau verheirateter passing trans Mann gute Chancen, als Vater auf der Geburtsurkunde des Kindes zu stehen, ein gebärender trans Mann aber nie, ebenso wenig eine trans Frau als Mutter. Der Gesetzgeber schafft hier also neben Zivil- und Militär- auch noch Sperma- und Gebärmuttergeschlechter. Inter Personen kommen nicht vor, weitere Ausnahmen vom einfachen Recht, Namen und Geschlecht per Willenserklärung zu ändern, stattdessen hinzu.

Der Dienstleistungscharakter des Gesetzes scheint eher in Konzentration auf die Ängste uninformierter Gruppen zu liegen, die sich von Minderheiten bedroht fühlen, als für trans, inter und nichtbinäre Personen, für deren Schutz es eigentlich da sein soll.

Selbsbestimmungsrecht, demokratische und Klassenforderungen

Es liegt im ureigensten Interesse der Arbeiter:innenklasse, auf allen Gebieten der Unterdrückung und Diskriminierung als Vorreiterin für umfassendste bürgerlich-demokratische Rechte zu agieren. Dies aus 2 Gründen: Zum einen erleichtert es die Einsicht für breite Volksmassen in den Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, wenn persönliche Privilegien abgeschafft werden. Diese, also damit rechtliche Ungleichbehandlungen, waren Merkmal vorbürgerlicher Klassengesellschaften. Zum anderen schafft es bessere Voraussetzungen für ihre eigene Einheit im Klassenkampf – ohne Unterschiede für Geschlechter, sexuelle Orientierungen, Religionen, Hautfarben oder Nationalitäten.

Diese Gleichheit vor dem Gesetz stellt allerdings fürs Bürgertum das Ende der Fahnenstange dar, fürs Proletariat aber erst den Beginn seiner Klassenemanzipation. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, z. B. auf Geschlechts- und Namensänderung, kann nur den Ausgangspunkt bilden. Die Arbeiter:innenklasse muss hier für Kostenfreiheit gewünschter Transformation eintreten, während das die Bürgerlichen nicht schert.

Darüber hinaus muss sie nicht nur für sozial gerechte Lösungen innerhalb des Kapitalismus eintreten, sondern für eine sozialistische Lösung der Frage sozialer Reproduktion. Die allgemeine Antwort lautet: Sozialisierung der gesamten Reproduktionssphäre.

Deshalb: Selbstbestimmung für alle, unabhängig von Alter oder Herkunft: Volle rechtliche Gleichstellung von LGBTIA+! Gleichstellung aller Partnerschaften und Lebensgemeinschaften mit der Familie! Umfassende Vergesellschaftung der privaten Reproduktionssphäre!

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