Oda Lux, Neue Internationale 283, Juni 2024
Taiwan ist eine relativ junge Demokratie. Die ersten freien Wahlen gab es 1996. Davor beherrschte eine rigide Militärdiktatur unter Tschiang Kai-schek und seinem Nachfolger das Land. Heute gilt es als liberal, weltoffen, demokratisch und auch im Bereich Queerrechte hat es anderen asiatischen Ländern einiges voraus. Proteste gibt es nicht besonders häufig, schon gar nicht so groß, dass sie es in westliche Medien schaffen. Doch nun sind Zehntausende auf den Straßen – warum?
Nach der Wahl von Lai Ching-te im Januar gab es im Mai die Vereidigung. Er löste seine Parteikollegin Tsai Ing-wen ab. Seine Demokratische Fortschrittspartei, die DPP, stellt sich offener gegen China als die Vorgängerin und bedient vor allem die Interessen des taiwanesischen Kleinbürger:innentums. Doch die DPP verlor die Mehrheit im Parlament, die Oppositionsparteien Kuomintang (Nationale Volkspartei Chinas; KMT) und Taiwanesische Volkspartei (TPP) verfügen dort gemeinsam über eine Mehrheit. Damit versuchen sie, an der Regierung Lais, die man nun wirklich nicht als Speerspitze der Progressivität ansehen kann, vorbeizuregieren.
Die KMT ist das offensichtliche Überbleibsel des Erbes Tschiang Kai-scheks sowie der Militärdiktatur. Auch das nationalistische Erbe, die Idee, dass es wieder ein einheitliches China, wohlgemerkt nach den Vorstellungen der KMT, die bei der Staatsgründung der VR China nach Taiwan floh, geben mag, erhält sie mit am Leben. Die TPP hingegen gilt als populistisch.
Am Abend des 22. Mai gingen rund 80.000 Menschen in Taipeh auf die Straße, um gegen die geplante Parlamentsreform von KMT und TTP zu protestieren.
Bei dem Gesetzesentwurf geht es u. a. um die Handlungsmacht des Präsidenten, die eingeschränkt werden soll. Er ist nicht nur inhaltlich, sondern auch in seinen praktischen Auswirkungen interessant. Geht der Entwurf durch, wären die Machtbefugnisse von Präsident und Regierung massiv eingeschränkt.
Das wäre jetzt nicht so schlimm. Doch zugleich und vor allem beschneidet der Gesetzentwurf die Rechte der Mitglieder des Parlaments, die nicht der Mehrheit angehören, massiv.
Die Dauer parlamentarischer Debatten, für Lesungen und die Diskussion von Gesetzesentwürfen würde auf ein Minimum zu reduziert, so dass diese ohne Zeit für Änderungen und öffentliche Mobilisierung im Eiltempo durchgesetzt werden können. Kritiker:innen sehen zu Recht die freie Rede im Parlament bedroht und damit auch die Rechte jeder parlamentarischen Minderheit. Auf den Straßen sieht man daher häufig den Slogan: „Keine Debatte? Dann beendet die Parlamentssitzung!“ Manche Presseberichte gehen sogar so weit, dass der Entwurf als Angriff auf die Verfassung gesehen werden kann. DPP-Abgeordnete behaupten sogar, man würde ihnen den gesamten Text bis zur Abstimmung vorenthalten wollen.
Zusätzlich vermuten die Demonstrierenden, dass die VR China beim Gesetzentwurf ihre Finger mit im Spiel hat und so versucht wird, die Demokratie von innen zu schwächen. Bedenkt man, dass die DPP pro-US-amerikanisch ist und die anderen beiden eher prochinesisch, ist diese Vermutung nicht ganz abwegig.
Im Parlament gingen Opposition und Regierung aufeinander los, wie wir es im Bundestag wohl selten zu sehen bekommen: Banner, Gewusel, Proteste, die Kundgebungen glichen, und einschreitende Sicherheitskräfte. Abgeordnete und Demonstrierende trugen Sonnenblumen und Spruchhaarbänder, wie sie bei Protesten üblich sind. Die Sonnenblumen erinnern an die Studierendenbewegung, die 2014 das Parlament besetzt hatte. Sie leitete das Ende der alten politischen Ordnung, die vor allem durch die KMT verkörpert wurde, ein.
Der Gesetzentwurf treibt vor allem die Jugend auf die Straße, viele darunter selbst DPP-Wähler:innen, und es kam zur größten Demonstration seit mindestens 10 Jahren. Zwar kennt die heutige Jugend die Zwänge der Militärdiktatur nur aus Erzählungen, dennoch ist laut Berichterstatter:innen vor Ort ihre größte, Angst die erlangten demokratischen Rechte wieder zu verlieren.
Der Machtkampf zwischen DPP einerseits und KMT und TPP andererseits erhält seinen explosiven Charakter und seine Bedeutung vor allem, weil es dabei auch im den geostrategischen Einfluss der VR China und der USA geht.
Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt will die VR China auf das strategisch gut gelegene Taiwan ebenso wenig verzichten wie die USA.
Anders als bei früheren Regierungen und Präsidentschaften ist jedoch an Lai vor allem neu, dass er sich stark von China und dem Chinesisch-Sein distanziert. Besonders jungen Taiwanes:innen gefällt das. Zusätzlich ist es ein Zeichen der Unabhängigkeit. Bis heute erhebt die VR China Ansprüche auf die Insel. Die Bevölkerung Taiwans hingegen hat andere Pläne. Doch ist es ein Kampf David gegen Goliath, wenn man ihn ohne Verbündete kämpfen müsste. Man könnte meinen, dass im Angesicht dieser Entwicklung alte Ideen und Ressentiments jetzt wieder hochkommen und gerade deshalb die KMT so eine wichtige Rolle für die Auslösung der Proteste spielte.
Am 23.5.24, also drei Tage nach Amtsantritt, startete China eine der größten Militäroperationen in taiwanesischen Gewässern (!!!). Bei der Häufigkeit, in der in den letzten Jahren nationale Grenzen der bürgerlichen Ordnung übertreten wurden, erscheint dies keine nennenswerte Nachricht. Jedoch sind Grenzen von Nationalstaaten ein Kernelement bürgerlicher Ordnung. Je öfter man diese missachtet, desto näher rücken Krieg bzw. Annexion. Und auch die chinesische Rhetorik deutet darauf hin. So seien die Übungen eine „Strafe“ für die Wahl des Separatisten. Gemeint ist Lai. Die andauernden Übungen umkreisen dabei die gesamte Insel.
In Festlandchina erleben wir seit dem Amtsantritt Xi Jinpings eine massiv voranschreitende Aufrüstung und aggressiver vorgetragene imperiale Interessenpolitik. Das Militär ist größer denn je. Und auch in Taiwan bereitet man sich vor. Immer mehr Menschen treten in Wehrsportvereine ein und auch der Staat baut aus. So sieht man in den Straßen Taipehs regelmäßig Hinweisschilder auf den nächst gelegenen Luftschutzbunker. Wohl wissend, dass Taiwan sich allein gegen die chinesische Armee kaum halten kann, dienen diese Maßnahmen wohl eher der Beruhigung der Bevölkerung.
Es ist eine Halbkolonie, die allein vom Wohlwollen Washingtons abhängt. Außerdem baut das Land auf eine hochentwickelte IT-Industrie. Rund 90 Prozent der modernsten Mikrochips werden in Taiwan vom Konzern TSMC hergestellt, die Rohstoffe, Maschinen und notwendigen Chemikalien kommen zu rund 90 % aus den USA, der EU und Japan. Ein Krieg um Taiwan würde nicht nur die USA und die VR China wahrscheinlich in einen globalen militärischen Konflikt zwingen, er würde auch die Produktion in Taiwan zerstören. Doch dieses „Friedenspfand“ muss, ja wird wohl nicht ewig bestehen, investieren doch die USA und China zur Zeit Milliarden in den Aufbau einer eigenen Halbleiterindustrie.
Das Recht auf und der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung kümmern letztlich weder die VR China, die das Land einfach für sie sich reklamiert, und die KMT noch die USA.
Marxist:innen verteidigen das Selbstbestimmungsrecht Taiwans, ohne die Politik der bürgerlichen DPP oder den bürgerlichen Nationalismus zu unterstützen, zumal dieser in den letzten Jahren auch reaktionärere Formen annimmt. So kam es bspw. im letzten Jahr zu rassistischen Anfeindungen nach Ausbruch einer Welle des Denguefiebers unter Arbeiter:innen aus Südostasien. Bedenkt man, dass Taiwan auf eben jene Migrant:innen setzt und bisher das taiwanesische Kleinbürger:innentum eine relativ integrative Politik betrieb, die unterschiedliche ethnische, nationale und sprachliche Herkunft anerkannt und sogar im Schulwesen gefördert hat, kann man das als erstes Indiz sehen, dass sich die Stimmung im Land verändert. Im Kriegsfall muss man sich auf die Geschlossenheit der Einwohner:innen verlassen können. Doch wenn das Misstrauen schon so groß ist, dass man einzelne Bevölkerungsgruppen für Krankheiten verantwortlich macht, zeigt sich, dass Sündenböcke jetzt schon gesucht werden.
Seit die Krise von 2008/9 eine Neuaufteilung der Welt eingeleitet hat und sich imperialistische Konkurrenz offen, und auch kriegerisch zeigt, sind wir regelmäßig Zeug:innen von kleinen und größeren Schritten hin zu einem Umbau bürgerlicher Demokratien. Insbesondere der weltweite Rechtsruck hat Personen wie Trump oder Bolsonaro an die Macht gebracht, die alles daran setzen, bürgerliche Demokratien autoritärer zu gestalten oder die Wahlergebnisse nach ihrer Abwahl nicht anzuerkennen – vor Gericht oder auf der Straße. Doch waren sie einmal weg, blieben ihre Politik sowie nationalistische, proautoritäre und rassistische Grundstimmung erhalten. Der taiwanesische Gesetzentwurf steht hierbei nicht allein. Es reiht sich ein in eine weltweite Entwicklung, die auf nationalistischer Law-und-Order-Politik beruht. Unter dem Schein, die Sicherheit und Ordnung zu erhalten, werden demokratische Rechte beschnitten.
Zugleich lehnt die DPP die Angriffe natürlich nicht aus einem uneigennützigen Interesse an „der“ Demokratie an sich ab, sondern weil die Gesetzänderungen auch ihre Macht und die des reaktionären Präsidentenamts einschränken würden.
Das bedeutet aber nicht, dass der Arbeiter:innenklasse die Sache egal sein kann. Die Angriffe auf demokratische Rechte richten sich immer gegen die Lohnabhängigen. Daher sind insbesondere Gewerkschaften dazu aufgerufen, gegen die Einschränkung selbst bürgerlich-demokratischer Freiheiten zu mobilisieren – und zwar nicht nur auf der Straße, sondern auch mit Streiks. Revolutionär:innen vor Ort müssen zugleich die Bewegung nutzen, um die evidenten Widersprüche aufzuzeigen und zu mobilisieren.
Die taiwanesische Arbeiter:innenklasse braucht eine politische Perspektive. Weder DPP noch KMT oder TPP können Taiwan aus seinem Schlamassel, eine bedrohte und umkämpfte Halbkolonie zu sein, heraushelfen. Doch daran hängt auch die Selbstbestimmung. Während sich die KMT und, wenn auch weniger eindeutig, die TPP an der VR China ausrichten, hängt die DPP an den USA. Als Revolutionär:innen verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht der taiwanischen Bevölkerung. Doch die nationale Selbstbestimmung ist – wie alle demokratischen Fragen – nie unabhängig und isoliert von den Klasseninteressen zu betrachten. Für die verschiedenen Flügel der taiwanesischen Bourgeoisie wie auch bedeutende Teile des Kleinbürger:innentums geht es bei der Selbstbestimmung vor allem um ihre Kapital- bzw. Geschäftsinteressen. Für die Arbeiter:innenklasse geht es hingegen darum, das Selbstbestimmungsrecht mit der Frage der sozialistischen Umwälzung zu verbinden, so dass die Massen auch wirklich über ihr eigenes Land bestimmen können.
Doch fast ebenso wichtig wie für die Arbeiter:innen Taiwans ist dieser Kampf für jene Chinas und der USA. Sie müssen dessen Selbstbestimmungsrecht unterstützen, indem sie sich auch in ihren Ländern gegen Aufrüstung und Imperialismus wenden und ihren Kampf mit dem in halbkolonialen Ländern verbünden. Das Beispiel Taiwans zeigt, dass nur, wenn wir das imperialistische System weltweit zerschlagen, halbkoloniale Länder endlich Unabhängigkeit erlangen und wir gemeinsam für eine sozialistische Zukunft kämpfen, der Konflikt gelöst werden kann. Nur wenn sich die Arbeiter:innen Chinas und der USA gegen die Politik ihrer Regierungen stellen, die Taiwan nur allzu gern als Halbkolonie halten oder sich einverleiben wollen, kann die nationale Selbstbestimmung erlangt werden. Und nur auf dieser Basis wird eine dauerhafte internationale Kampfgemeinschaft zwischen den Arbeiter:innenklassen aller Länder möglich sein.
Eine solche Perspektive gilt es, in die Bewegung zu tragen. Sie stellt eine politische Alternative zu allen bürgerlichen Parteien dar. Damit sie Wirklichkeit werden kann, müssen die politisch bewusstesten Lohnabängigen und die Jugend für sie gewonnen werden mit dem Ziel des Aufbaus einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei.