Arbeiter:innenmacht

Massenbewegung zwingt Regierung in Jammu und Kaschmir zum Rückzug

Imran Javed, Neue Internationale 283, Juni 2024

Die seit einem Jahr andauernde Bewegung im pakistanisch verwalteten Jammu und Kaschmir, eine Fortsetzung des Jahrzehnte währenden Kampfes gegen die Brutalität, Unterdrückung, Gewalt und Verhaftungen, zwang die herrschende Klasse zum Einlenken.  Am 13. Mai gab die pakistanische Regierung den Hauptforderungen der Protestbewegung nach und kündigte die sofortige Bereitstellung von 23 Milliarden Rupien (82.712.002 US-Dollar) für Asad Jammu und Kaschmir, den von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs, an.

Die Regierung gewährte einen subventionierten Preis von 1.100 Rupien pro 40 Kilogramm Mehl und einen Zuschuss zu den Strompreisen. Außerdem gab sie auch einer Reihe anderer Forderungen nach, die im Mai 2023 erhoben worden waren, als die Bewegung aufgrund der massiven Preiserhöhungen, die die Arbeiter:innen und Bäuer:innen, aber auch das städtische Kleinbürgertum und die Mittelschicht trafen, begann. Ein Jahr lang dauerte die Massenbewegung an, beginnend mit Sitzstreiks und Boykottaktionen gegen die Stromrechnungen. Monatelang hatten sich sowohl die Regional- als auch die Zentralregierung geweigert, die Forderungen der Bewegung zu erfüllen, aber es war die Entschlossenheit, die Ausbreitung und die Radikalisierung des Kampfes, die sie schließlich zum Einlenken zwangen.

Massenkampf

Diese Radikalisierung war seit Herbst letzten Jahres zu beobachten. Im September 2023 fanden in allen größeren Städten des so genannten Asad Kaschmir Proteste mit Tausenden von Demonstrant:innen statt, und Händlerverbände, Transportunternehmen und Rechtsanwält:innen traten in den Streik. Auch für den 5. Februar 2024 wurde zum Streik aufgerufen, dem die Arbeiter:innen, aber auch die Händler in den Städten folgten.

Monatelang antworteten die Regierungen mit Repression und Gewalt. Letztlich scheiterten jedoch alle diese Taktiken angesichts einer Bewegung von Millionen von Menschen. Monatelang hatte die Regierung versucht, die Bewegung zu zerstören, indem sie den Verhandlungsprozess in die Länge zog. Doch die Empörung und Entschlossenheit der Massen wurde nur noch stärker, trotz der schwachen Strategie der Führung des Joint Awami Action Committee (JAAC), das stark von Teilen der Händler beeinflusst und geführt wurde. Die Führer:innen des Komitees waren zwar oft kleine Händler, Teile des Kleinbürgertums oder kleinere Kapitalist:innen, aber sie haben ihre Verbindungen zu den größeren Händlern nie gelöst.

Doch trotz der Bemühungen der Führung, eine Einigung auf der Grundlage einer unvollständigen Akzeptanz der Forderungen der Bewegung zu erzielen, konnten sie die Bewegung das ganze Jahr über nicht beenden. Sie wurde sogar noch stärker, weil Millionen mobilisiert wurden und der Druck auf die Führung enorm zunahm. Nach Ansicht des bekannten progressiven, nationalistischen Führers Tawqir Gilani ist der Erfolg der Volksbewegung eher dem Kampf und der Leidenschaft des Volkes zu verdanken als irgendeiner Führung oder Partei.

Auch die Führung des Joint Awami Action Committee hatte nicht mit einer derart spektakulären Bewegung gerechnet. Angesichts der öffentlichen Begeisterung für die Entscheidung, einen Langen Marsch zu organisieren, waren die Machthaber des so genannten Asad Kaschmir so erschrocken, dass sie Anfang Mai die pakistanische Regierung um eine Intervention baten. Diese Nachricht erzürnte die Öffentlichkeit, und am 6. Mai kam es in ganz Kaschmir zu Protesten gegen diese Entscheidung.

Die Tage im Mai

Anfang Mai 2024 dehnte sich die Bewegung auf einen weiteren Höhepunkt in ganz Kaschmir aus. Das Joint Awami Action Committee rief für Samstag, den 11. Mai, zu einem „Langen Marsch“ aus allen Teilen des Staates in die Hauptstadt von Jammu und Kaschmir auf. Diese allgemeine Massenmobilisierung legte das Land lahm.

Der Aufruf selbst war auch eine Reaktion auf die massiv verstärkte Repression. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai führte die Polizei in den drei Bezirken von Mirpur Razzien durch, und die Anführer:innen der Aktivist:innen wurden verhaftet. In Dadyal, Nikyal, Tatta Pani und anderen Städten begannen ein „Schließungsstreik“ und Proteste gegen diese Verhaftungen. Die Polizei beschoss die Demonstrant:innen in Dadyal mit Tränengas, wodurch viele  verletzt und mehr als ein Dutzend Schülerinnen der Government High School aufgrund des Tränengasbeschusses bewusstlos wurden.

Doch die Menschen wehrten sich. Mehrere Polizeibeamt:innen, darunter der stellvertretende Polizeipräsident, wurden ebenfalls verletzt, ein Auto des pakistanischen Geheimdienstes (ISI) wurde in Brand gesetzt. In der Stadt Dadyal kam es den ganzen Tag über zu Zusammenstößen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei. Diese Serie von Verhaftungen weitete sich auf ganz Kaschmir aus, und eine große Zahl von Studentenführer:innen, Geschäftsleuten und politischen Mitarbeiter:innen wurde festgenommen.

Als Reaktion darauf setzte die Regierung zusätzliche Polizei und Grenztruppen ein. Die JAAC reagierte auf die Zusammenstöße, indem sie die Schließung ihrer Geschäfte ankündigte und für den 11. Mai zu einem Streik aufrief. Die Menschen wehrten sich mit Stöcken und Schlagstöcken gegen die Polizei und Sicherheitskräfte.

Am 12. Mai wurden 1.300 Rangers, paramilitärische, den US-Rangers nachempfundene Repressionskräfte, gegen die Bewegung eingesetzt. Drei Jugendliche wurden erschossen, Hunderte wurden verletzt. Dies war der letzte Versuch, die Bewegung mit Gewalt zu zerschlagen. Der Widerstand der Massen zwang die Rangers zum Rückzug. Die einjährige Bewegung führte zu Sitzstreiks und setzte den Kampf durch Streiks und öffentliche Kundgebungen fort, bis sie sich über ganz Kaschmir ausbreitete. Seit die Bewegung gegen die Stromrechnungen im Mai 2023 in Poonch begann, hatte sie sich nicht nur auf alle größeren Städte und Gemeinden, sondern auch die Dörfer ausgebreitet.

Die Führer:innen des Joint Awami Action Committee kündigten für Freitag, den 10. Mai, ab 12 Uhr mittags einen kompletten Streik in ganz Kaschmir an und erklärten, dass der Streik auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde und während dieser Zeit auch Proteste in verschiedenen Städten stattfinden sollten. Die Führer:innen riefen die Bevölkerung auf, sich auf einen entschlossenen Kampf vorzubereiten. Es fanden Sitzungen der studentischen Aktionsausschüsse statt, in denen beschlossen wurde, gemäß dem Beschluss des Joint Awami Action Committee eine führende Rolle bei der Organisation des Schließungsstreiks zu übernehmen. Alle Bezirksanwaltskammern, einschließlich der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs, kündigten ebenfalls ihre volle Unterstützung an. Der Streik wurde fortgesetzt, bis der lange Marsch Muzaffarabad erreichte und die Forderungen akzeptiert wurden.

Ab Freitag, dem 10. Mai, wurde das normale Leben in allen kleinen und großen Städten in Kaschmir vollständig eingestellt und der Verkehr auf allen Straßen, die Jammu und Kaschmir mit Pakistan verbinden, unterbrochen. Tausende nahmen an Protestkundgebungen in verschiedenen Städten teil, protestierten und riefen Slogans gegen die staatliche Unterdrückung. Am 11. Mai begann der lange Marsch wie geplant. Als dieser lange Marsch Rawalakot erreichte, befanden sich zu diesem Zeitpunkt nach vorsichtigen Schätzungen Hunderttausende Demonstrant:innen darunter. Die Teilnehmer, die sich aus anderen Bezirken anschlossen, veränderten den Charakter des Langen Marsches. Es handelt sich um den größten Volksaufstand in der Geschichte des so genannten Asad Kaschmir.

Die Regierung macht einen Rückzieher

Aus Angst, die Bewegung könnte sich noch weiter ausbreiten und zu einer Doppelherrschaft in der Provinz führen, billigte der Premierminister am Abend des 13. Mai die beiden Hauptforderungen der Bewegung.

Diese Bewegung forderte die steuerfreie Lieferung von Strom zu den Produktionskosten der Mangla-Talsperre, die Lieferung von Mehl zu den Preisen von Gilgit-Baltistan (Sonderterritorium unter Bundesverwaltung und Teil Kaschmirs) und ein Ende der Privilegien der herrschenden Elite. Aufgrund des Ausmaßes und der Militanz dieser Bewegung wurde der Strompreis auf 3 bis 6 Rupien pro Einheit für Haushalts- und 10 bis 15 Rupien pro Einheit für gewerbliche Kund:innen festgesetzt, und es wurde beschlossen, die Mehlpreise um 1.100 Rupien pro 40 kg zu senken. Außerdem wurde beschlossen, die Rechnungen in einfachen Raten einzutreiben, mit Erleichterungen für Rechnungen, die 10 Monate lang boykottiert worden waren, und es wurde eine Mitteilung zur Einsetzung einer Justizkommission herausgegeben, um die Privilegien der herrschenden Elite zu beenden.

Haltung der herrschenden Klasse

Alle regierungsfreundlichen Parteien, einschließlich der PPP, haben diesen Kampf als Ergebnis einer Einmischung von außen bezeichnet. Die herrschende Klasse bezeichnete ihn auch als eine Verschwörung Indiens und versuchte, die Bewegung auf verschiedene Weise zu diskreditieren, um die Menschen von ihr zu entfremden.

Diese Bewegung und die Reaktion der herrschenden Klasse haben die Realität der Souveränität des so genannten Asad Kaschmir schonungslos offengelegt, d. h., dass die pakistanische Regierung in allen Fragen eine entscheidende Rolle spielt, und sie haben die nationale Unterdrückung Kaschmirs deutlich gemacht. Sie machte auch deutlich, dass die Regierung durch einen Massenkampf besiegt und ihre Forderungen durchgesetzt werden können, egal wie viel Druck der IWF ausübt, und dass ab einem bestimmten Stadium die Angst vor einer Revolution alles verändert.

Diese Bewegung machte auch deutlich, dass die Institutionen des Staates die Hüterinnen des Kapitals und der imperialistischen Interessen sind und nicht der brennenden Bedürfnisse des Volkes und das Parlament nicht die Masse des Volkes vertritt, sondern den Interessen des Kapitals Vorrang einräumt. All dies wurde von den Massen selbst bewerkstelligt. Die Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Studierenden haben in den Kämpfen des letzten Jahres viel gelernt. Sie haben in vielen Städten und sogar auf dem Lande Aktionsräte gegründet. Vor allem die studentischen Aktionskomitees übernahmen eine führende Rolle in der Organisation des Kampfes, was zu einem ersten Erfolg führte. Dieser Sieg hat den Massen viel Selbstvertrauen verliehen. Die Tradition dieses Kampfes wird sich in ganz Pakistan ausbreiten. Es besteht die Notwendigkeit und die Möglichkeit, die Kaschmir-Lektionen landesweit zu verbreiten, weil die Menschen hier die Inflation und die teure Elektrizität satt haben und immer wieder beginnen, dagegen zu kämpfen.

Der Erfolg dieser Bewegung hat den politischen Status quo gebrochen, eine große Zahl von politischen Aktivist:innen hat sich dem Kampf angeschlossen. Doch trotz dieses Erfolges suchen die Regierung und staatlichen Kräfte nach Möglichkeiten, gegen die Menschen in Kaschmir zurückzuschlagen.

Wir müssen auch anerkennen, dass innerhalb der Bewegung die Führung der Händler des Joint Awami Action Committee (JAAC) eine Herausforderung von unten erfahren hat, durch lokale Aktionskomitees, embryonale Räte. Andererseits wurden diese lokalen, eher linken und aus der Arbeiter:innenklasse stammenden Komitees nie koordiniert und brachen somit nicht die Kontrolle und Führung des JAAC, das das Abkommen mit der Regierung im Namen der Bewegung unterzeichnete.

Während die Klassendifferenzierung innerhalb der Massen im Laufe des Jahres sichtbarer wurde und sich weiterentwickelte und die Arbeiter:innenklasse und Studierenden entscheidend für die lokale und massenhafte Mobilisierung waren, haben sie keine eigene Kraft entwickelt, die die Führung der Händler hätte herausfordern und ersetzen können, d. h. eine Partei der Arbeiter:innenklasse.

Dies wird jedoch eine entscheidende Aufgabe für die nächste Periode darstellen. Nur unter Führung durch die Arbeiter:innenklasse werden die Kämpfe gegen die Preiserhöhungen und die von den Regierungen und dem IWF auferlegten Kürzungen weitergehen können. Es ist ganz klar, dass die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Händler nicht so weit gehen werden, da sie selbst an das System des Privateigentums gebunden sind.

Trotz des großartigen Kampfes der Bewegung und der Anwesenheit von fortschrittlichen und nationalistischen Arbeiter:innen und Parteien in ihr war das Fehlen einer revolutionären Partei in der Bewegung deutlich zu spüren. Was getan werden muss, ist, ein revolutionäres Programm für die Zukunft des Kampfes in Jammu und Kaschmir und in Pakistan vorzulegen, das die Hegemonie des Kapitals ablehnt und den Kampf für soziale und demokratische Forderungen mit dem für eine sozialistische Gesellschaft und Revolution verbindet.

Die Aktionskomitees, die in diesem Kampf entstanden sind, zeigen das Potenzial, Kampforgane zu schaffen, die die Massen, die Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Student:innen und alle Unterdrückten im Kampf gegen die staatliche Unterdrückung vereinen können. Sie haben die Macht, Aktionen und Selbstverteidigung zu organisieren, die den bestehenden bürgerlichen Staat lähmen können. Diese können, wenn sie auf demokratischer Grundlage entwickelt, verallgemeinert und zentralisiert werden, zu Organen einer Arbeiter:innen- und Bäuern:innenregierung geraten, die sich auf Räte und bewaffnete Organe der Massen stützt. Aber für eine solche Strategie ist eine bewusste politische Kraft, eine revolutionäre Partei erforderlich, eine Partei, die die entschlossensten und politisch fortgeschrittensten Arbeiter:innen und Jugendlichen in Kaschmir und ganz Pakistan vereinen muss.

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