Arbeiter:innenmacht

30. November 2023 – Feministischer Generalstreik im Baskenland

Jürgen Roth, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Am 30. November 2023 wurde im Baskenland gestreikt. Neben Gewerkschaften hatten dazu auch Feminist:innen, Rentner:innenvereinigungen und soziale Organisationen aufgerufen. Es handelte sich um eines der größten und bedeutendsten Ereignisse dieser Art weltweit. Zudem hält es für Linke etliche Lehren bereit, wirft aber auch Fragen nach weiteren Perspektiven auf.

Nicht nur bessere Arbeitsbedingungen

Zu den Streikenden gehörten die Beschäftigten der Mercedes-Autofabrik in Vitoria-Gasteiz, der U-Bahn in Bilbao, des öffentlichen Gesundheitsdienstes (Osakidetza), alle Reinigungskräfte der drei größten Reinigungsunternehmen (Eulen, Garbialdi, ISS) und die Belegschaft des größten baskischen Fernsehsenders (EITB). So blieben Bahnen und Busse stehen, in zahlreichen Ortschaften Schulen und Verwaltung geschlossen. Der Rundfunk strahlte nur ein Notprogramm aus und ein Dutzend Fabriken mussten ihre Produktion komplett einstellen. Zentrale Forderungen des Generalstreiks lauteten: Aufbau eines öffentlich-gemeinwohlorientierten Caresektors, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften, Anhebung der Renten, Einführung der 30-Stundenwoche, mit der eine Umverteilung der Sorge- und Pflegearbeit zwischen den Geschlechtern angestoßen werden soll.

Die Mobilisierung verlief alles andere als einfach. Die spanischen Gewerkschaften Unión General de Trabajadores (UGT; Allgemeine Arbeiter:innengewerkschaft) und CC.OO. (Comisiones Obreras; Arbeiter:innenkommissionen) hatten erst gar nicht aufgerufen. Sie sind allerdings im Baskenland schwächer als die regionalen Dachverbände Eusko Langileen Alkartasuna (ELA; Arbeiter:innensolidarität) und Langile Abertzaleen Batzordeak (LAB; Komitees Patriotischer Arbeiter:innen). Die Sekretärin der LAB, Maddi Isasi Azkarraga, meinte dazu, dass CC.OO. und UGT den Streik deshalb nicht unterstützt hätten, weil er aufs Baskenland fokussiert blieb und sie generell Kämpfe nicht zuspitzen wollten. Sie stimmten aber mit den Zielen des Generalstreiks überein. Der Hauptgrund lag nicht etwa darin, dass sie Schwierigkeiten darin sahen, sich als gemischtgeschlechtliche Organisation an einem feministischen Streik zu beteiligen.

Längerer Organisierungsprozess

Ausgehend von Lateinamerika wurden seit Jahren zum 8. März Millionen Menschen mobilisiert. Auch im Baskenland fanden an diesem Datum seit 2018 feministische Streiks statt, bei denen Frauen die Pflege- und Sorgearbeit niederlegen sollten, damit deren gesellschaftliche Bedeutung sichtbar wird. Der jetzige Generalstreik richtete sich hingegen an die gesamte Gesellschaft und wurde vom feministischen Bündnis namens Denon Bizitzak Erdigunean (Das Leben in den Mittelpunkt stellen) angestoßen.

Dafür ging das Bündnis auf Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Kleinbauern- und -bäuerinnenverbände sowie die Rentner:innenbewegung zu. Letztere fordert seit Jahren eine Mindestrente von 1.080 Euro. Nach längerer Diskussion wurde ein Forderungskatalog (Sozialcharta) erstellt. Neben vom Bündnis formulierten längerfristigen Zielen wie dem Aufbau eines öffentlich-gemeinschaftlichen Pflegesystems wurden kurzfristig auszuräumende Missstände benannt wie die Arbeitsbedingungen von illegalisierten, migrantischen Frauen in Privathaushalten, die oft 7 Tage die Woche Alte betreuen. Es wurden mehr als 1.000 Versammlungen in Dörfern, Stadtteilen und Betrieben durchgeführt.

Dies wurde dadurch getragen, dass der Carebereich – Alten- und Krankenpflege sowie Kinderbetreuung – während der Coronapandemie zusehends in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte rückte. Die schlecht bezahlten und überwiegend von Frauen geleisteten Pflege- und Sorgearbeiten stellten sich als die unverzichtbarsten heraus, zudem das Baskenland an Überalterung leidet und viele Menschen Pflege benötigen. So waren die Grundforderungen des Streiks nicht schwer zu vermitteln.

Und jetzt?

Amaia Zubieta, eine der Sprecherinnen des Organisationsbündnisses, erklärte: „Ein Generalstreik ist kein Selbstzweck.“ Damit verlegt sie aber den eigentlichen „Kampf“schauplatz auf die Verhandlungen mit den Autonomieregierungen des Baskenlandes und der nordspanischen Region Navarra. In der baskischen Autonomiegemeinschaft regiert jedoch die Christdemokratie in Gestalt der Baskisch-Nationalistischen Partei EAJ – PNV. Direkt nach Streikende betonte der scheidende Ministerpräsident Urkullu, „seine Partei sei einem staatlich gelenkten öffentlichen und gemeinschaftlichen Pflege- und Sorgesystem“ verpflichtet.

Vorschneller Jubel ist allerdings unangebracht. Seine Rhetorik dient dem Gewinn der in diesem Frühjahr anstehenden Wahlen. Er will keine Angriffsfläche bieten. Die Praxis seiner Regierung spricht aber eine andere, weniger doppelzüngige Sprache, hat doch die regionale Christdemokratie in den vergangenen Jahrzehnten die Privatisierung der öffentlichen Grundversorgung massiv vorangetrieben. Und das wirft Fragen auf: Was bleibt vom Streik? Und wie können die Forderungen umgesetzt werden?

Revolutionäre Perspektive

Ohne Frage war der Streik ein eindrucksvoller politischer Massenstreik. Doch im Angesicht des drohenden Ausverkaufs blieb er durch die  bürokratische Begrenzung auf einen Tag nur ein symbolischer Protest. Natürlich ist das trotzdem ein Schritt vorwärts. Gleichzeitig gibt es jedoch die Gefahr, dass Teilnehmende demoralisiert werden, wenn man nicht klar aufzeigt, was die eigene Strategie ist, um die Forderungen zu erkämpfen. Deshalb müssen Revolutionär:innen in solchen Situationen von Anfang an argumentieren, dass der Generalstreik bis zur Erreichung seiner Ziele „befristet“ bleiben sollte. Gleichzeitig hätten sie betont, dass er mit dem Aufbau von Kontrollkomitees und Milizen zu seiner Verteidigung einhergehen müsse. Denn letzten Endes wirft ein ernsthaft geführter Generalstreik auch immer die Machtfrage auf: Also wem gehört eigentlich der Betrieb, der bestreikt wird? Was passiert, wenn sich weiter geweigert wird, die Forderungen durchzusetzen bzw. zu erfüllen?

Deswegen ist der Aufbau solcher Strukturen elementar, um vorbereitet zu sein, so einen Kampf auch ernsthaft durchzusetzen. Denn entweder man erkämpft zeitweise Verbesserungen, knickt ein und geht zum Status quo zurück oder geht einen Schritt voran und bildet eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen, um die Forderungen selber umzusetzen und das Tor zum Sturz des kapitalistischen Gesamtsystems, zur Diktatur des Proletariats, gestützt auf die werktätige Bauern-/Bäuerinnenschaft aufzusperren.

Gewerkschaftsbürokrat:innen und das feministische Organisationsbündnis hätten dem sicher entgegnet, dafür seien die Massen noch nicht reif. Aber welche Art Führung haben sie dem Kampf denn gegeben, die diese Reife beschleunigen hätte können? Natürlich hätten Revolutionär:innen auf Anhieb kaum einen Blumentopf für ihre Forderungen bei den Massen gewinnen können. Doch mindestens einem Teil der Fortgeschrittensten und Aktivsten wäre spätestens nach dem Ausgang des Streiks klar geworden, dass es mehr braucht. Kurzum: Natürlich ist die Forderung des Umsturzes des Kapitalismus nicht die, worum man den Generalstreik organisiert. Doch es ist wichtig, währenddessen die unterschiedlichen Ansätze offen zu diskutieren, vor allem, da auch viele Vertreter:innen des baskischen Feminismus sich als Antikapitalist:innen verstehen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die Debatte um den Umgang mit der Transformation des Caresektors:

Wie bei der „Reife“ des Klassenbewusstseins, die sich baskische und andere Reformist:innen und Zentrist:innen offensichtlich nur als Naturprozess wie beim Apfelbaum vorstellen können, so gehen sie auch an die Transformation des Caresektors heran.

Transformation des Caresektors

Elena Beloki von der linken Parteienstiftung Fundación Iratzar dazu: „Der Staat muss die Mittel für die Grundversorgung bereitstellen. Die Einrichtungen sollten genossen- oder gemeinschaftlich getragen werden.“ Dieser Aufbau eines nicht profitorientierten öffentlichen Pflegesystems sei nicht einfach „nur“ eine Verstaatlichung. Doch was ist es denn dann? Sozialismus? Leider nicht. Dieser von vielen Anarchist:innen, Zentrist:innen und Linksreformist:innen gehuldigten Transformation liegt die Vorstellung zugrunde, man könne die Ballonhülle des Systems schrittweise durch Austausch von kapitalistischem Gas mit sozialistischem füllen, ohne sie zum Platzen bringen zu müssen. Doch genossenschaftliche Inseln inmitten profitorientierter Meereswellen werden ein Laden wie jeder andere auch oder Teil eines Planes für die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen. Dieser lässt sich jedoch ohne gewaltsame Sprengung des Ballons nicht erreichen.

Deswegen reicht es nicht zu schweigen, welche und wie viele Mittel der Staat bereitstellen müsse oder wie man besagte Transformation finanzieren will. Das sind berechtigte Fragen, bei denen es gilt, eine klare Perspektive im Interesse der Arbeiter:innen und Unterdrückten zu formulieren: Das heißt beispielsweise, dafür einzutreten, dass die Finanzierung durch eine progressive Besteuerung v. a. bei den Reichen stattfindet, sowie den staatlichen wie genossenschaftlichen Sektor unter Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer:innen zu stellen. Warum? Zum einen haben sie durch ihre Stellung im Produktionsprozess Einblick, was gebraucht wird und ob die Veränderungen in ihrem Interesse stattfinden. Zum anderen sorgt es dafür, dass Streik- und Aktionskomittees über den Streik hinaus bestehen bleiben und als Kontrollorgane fungieren können. Das ist nicht nur ein Schritt voran, wenn es darum geht, Selbstermächtigung zu erlernen, sondern erleichtert auch Mobilisierungen, wenn es darum geht, Errungenschaften zu verteidigen oder weitere Angriffe abzuwehren.

Lehren des feministischen Streiks

Was sind also die Lehren des Streiks? Der Streikkampf vom 30. November stellt einen großen Schritt nach vorne dar. Gemeinsame Mobilisierungen sind nicht Standard: Aus Angst, dass „gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften“ den Streik vereinnahmen (oder diese den Streik ablehnen, weil es „kein richtiger Streik“ wäre) kommt es häufig zu isolierten Streiks. Darüber hinaus gibt es einen Teil des feministischen Spektrums, der den gemeinsamen Kampf per se ablehnt, da die Unterdrückung der Frau in männlicher Gewalt, einer Art universellen Patriarchats, wurzelt. Historisch bezeichnet Patriarchat aber die Herrschaft männlicher Familienoberhäupter über andere Menschen, darunter auch junge und familienlose Männer. Sie konnte erst mit der Erzeugung eines stetigen Überschusses und dessen Aneignung durch die Patriarchen inkraft treten, Der Kapitalismus hat sich das zu eigen gemacht und in eine systematische Diskriminerung umgeformt. Deswegen muss sich der Kampf gegen Frauenunterdrückung auch gegen das kapitalistische System richten. Das bedeutet nicht, dass man Ersteren unterordnet, sondern beide Hand in Hand gehen sollten.

Deswegen ist der Einbezug aller Geschlechter ein positiver Schritt nach vorne. Dieser wurde von dem Bündnis aus mehreren Gründen gesetzt. So sollten gut bezahlte, meist männliche Industriebelegschaften auch deshalb streiken, weil schlecht bezahlte, meist weibliche Pflegekräfte ihre Arbeit oft erst gar nicht niederlegen können. Ein weit bedeutenderer Grund liegt unserer Meinung nach indes darin, dass die Unternehmen dann deutlichere Profiteinbußen erleiden – der eigentliche Antrieb jeden Streiks! So kann nämlich mehr Druck ausgebübt werden. Darüber hinaus bringt der gemeinsame Kampf die Möglichkeit mit sich, die Auswirkungen der sozialen Unterdrückung politisch zu diskutieren und bestehende Vorurteile zu überwinden.

Eine weitere Lehre ist die Frage der Kontrolle des Streiks. Um die Instrumentalisierung der Mobilisierung durch gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften zu verhindern, wurde vereinbart, dass das feministische Organisationsbündnis „federführend“ bleibt. Laut Azkarraga hat es alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Die Frage ist jedoch, was das praktisch heißt?

Unserer Meinung nach muss die Kontrolle des Streiks bei den Streikkomittees und über  diese bei den Massenversammlungen der Streikteilnehmer:innen selber liegen. Nur so ist es möglich, die Entwicklung von Klassenbewusstsein und Selbsttätigkeit angemessen zu fördern. Nur so ist es möglich, Organe der Kontrolle von unten zu schaffen, die Streikführung und -ergebnis im Sinne der Masse der Klasse zu überwachen und ggf. revidieren ermöglichen. Die Streikenden – darunter auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und anderen Bevölkerungsschichten – müssen das Streikkomitee, ihre unmittelbare Kampfesführung auf Vollversammlungen wählen und jederzeit abwählen können! Alles andere ist mit den Prinzipien der Arbeiter:innendemokratie unvereinbar.

Dieser elementare Grundsatz bedeutet, dass sich feministische wie Vertreter:innen anderer politischer Couleur dem Votum und der Kontrolle durch die Masse der Streikenden stellen müssen. Geht man diesen Weg nicht, kann auch die feministische Führung dazu führen, sich nicht von der klassischen Gewerkschaftsbürokratie zu unterscheiden, da die Kontrollmöglichkeit durch die Streikenden fehlt.

Verglichen mit Ländern wie Deutschland, wo die Gewerkschaften schon kalte Füße bekommen, wenn es darum geht, die eigenen Lohnforderungen durchzusetzen, zeigt dieser Streik, was alles möglich ist – und dass weitergehende Forderungen und Kämpfe dementsprechend auch keine Utopie bleiben müssen. So wäre es beispielsweise auch sinnvoll – neben den Elementen der Arbeiter:innendemokratie – auch dafür einzutreten, dass der Streik auf ganz Spanien ausgeweitet wird. Dort erfolgt aktuell ein massiver Angriff auf das Gesundheitssystem und statt sich mit den Ausreden der UGT und CC.OO. zufriedenzugeben, sollte man diese offen auffordern, aktiv mitzukämpfen und zu streiken – nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern der gesamten Bevölkerung!

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