Arbeiter:innenmacht

1923 – bedeutendes Jahr nicht nur für Deutschland

Bruno Tesch, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Ereignisse in Deutschland stellten die Weichen für den Sieg von Stalinismus und Faschismus, die Siege der politischen Konterrevolution im Arbeiter:innenstaat UdSSR wie im bürgerlichen Deutschen Reich. Ein Sieg der deutschen Revolution hätte für den Geschichtsverlauf dagegen eine Kehrtwende bedeutet. Gerade deshalb, aber nicht nur für deutsche Kommunist:innen, denn Deutschland war der Schlüssel zur damaligen Weltlage, ist es Pflicht, die Politik von KPD und Komintern in diesem Schicksalsjahr gewissenhaft zu studieren und entsprechende Lehren zu ziehen.

Deutschland Halbkolonie?

Als Kriegsverlierer im 1. imperialistischen Krieg ächzte Deutschland zwar unter den Reparationsleistungen an die Siegermächte der Kriegsentente, konnte aber dennoch auf eine unangetastete weitgehend intakte Wirtschaftsstruktur zurückgreifen. Das Land war in mehreren Sektoren produktiv gut aufgestellt. Die Großbetriebe fußten auf einem soliden Sockel an Klein- und Mittelunternehmen. Es gelang, die industrielle Produktion 1922 bereits auf 80 % des Standes von 1913 zu steigern. Die Entwicklung hin zu einem Preisverfall begünstigte den außenorientieren Handel und die Industrie. Im Bereich der Schwerindustrie beschleunigte sich der Zusammenschluss ehemals kleiner Anbieter:innen zu Großkonzernen. So nutzten Großindustrielle die Vorzüge, spekulativ Schulden mit entwertetem Geld zurückzuzahlen, die Produktionsprozesse zu modernisieren und sich der imperialistischen Konkurrenz gewachsen zu zeigen.

Das Deutsche Reich hatte neben einigen territorialen Verlusten an der Peripherie und dem völligen Wegfall seiner Kolonien zwar ökonomische und militärische Einschränkungen, z. B. Verbot der Rüstungsproduktion, Begrenzung der Sollstärke der Reichswehr, hinzunehmen, dies konnte durch Hinwendung zu zivilen Zielen und Ausbau etwa von Infrastruktur in Reichsbahn (Lokomotiv- und Waggonbau) wettgemacht werden. Ihm wurde auch keine Einschränkung des Kapitalverkehrs auferlegt.

Deutschland war also letztlich ein wenn auch tributpflichtiger und etwas gestutzter Imperialismus, verfügte jedoch weiterhin über teils höheres Wirtschaftspotenzial als seine Kontrahent:innen im Krieg.

Inflation und Lage der Arbeiter:innenklasse

Die deutschen Nachkriegsregierungen sahen sich indes mit Zahlungsforderungen der imperialistischen Konkurrent:innen konfrontiert. Auf diesen Druck reagierten die deutschen Staatsverwaltungen mit Ankurbelungen der Gelddruckmaschinen. Eine nie gekannte Geldentwertung setzte ein.

1922 überstiegen die Ausgaben für Reparationszahlungen bereits die Einnahmen des Reiches (ohne Kreditaufnahme). Um das Haushaltsdefizit auszugleichen, sah der Staat in der Kreditaufnahme bei der Reichsbank und in der weiteren Vermehrung des Geldumlaufs den Ausweg. Der Geldwert sank, zumindest die Inlandsschulden konnten dennoch bezahlt werden. Die Reallöhne der Arbeiter:innen minderten sich von 1921 auf 1922 im Schnitt um ein Drittel. Allerdings lag die Arbeitslosenquote bis weit ins Jahr 1923 erheblich niedriger als in anderen imperialistischen Ländern, im November 1922 bei nur 2 %. 1923 verschlechterten sich auf Grund des zunehmenden Preisauftriebs die Lohnverhältnisse drastisch: der Reallohn im Bergbau sank von 1922 auf 1923 auf rund 70 % des Vorkriegsstands. Auf Grund der Verknappung der Lebensmittelversorgung 1923 war die Arbeiter:innenschaft oft gezwungen, aufs Land zu fahren und sich per Naturaltausch mit Lebensmitteln einzudecken.

Außerdem wurden die Lohnabhängigen steuerlich massiv benachteiligt. Die Lohn- und Einkommensteuer wurde bei dieser Gruppe zeitlich unmittelbar nach der Auszahlung eingezogen. Im Gegensatz dazu konnten Landwirt:innen und Unternehmer:innen ihre Steuerverbindlichkeiten erst später entrichten. Durch die schnelle Entwertung der Mark war es den Selbstständigen also möglich, Steuerforderungen seitens der Finanzämter mit wertloser Mark zurückzuzahlen. Diese Ungleichbehandlung machte sich auch am Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen des Reiches bemerkbar. Dieser stieg von 56 % im Haushaltsjahr 1922 auf 93 % im Jahr 1923. Insgesamt nahm aber das reale Steueraufkommen stetig ab, da die Steuererhöhungen bald nicht mehr mit der Geldentwertung Schritt halten konnten.

Neben den Arbeiter:innen mussten auch die Beamt:innenschaft erhebliche Einbußen hinnehmen. Zudem traf die völlige Entwertung der Spareinlagen und Anlagen auf Schuldverschreibungen insbesondere Mittelständer:innen (Beamt:innen, Freiberufler:innen, kleinere Gewerbetreibende). Ebenso brach das Vermögen der gesetzlichen Sozialversicherungen, Krankenkassen, Stiftungen und privaten Versicherungsgesellschaften, das großenteils auf dem ursprünglichen Markwert basierte, zusammen.

Zu den Profiteur:innen der Inflation hingegen gehörten generell die Schulder:innen. Diese konnten sich durch die Entwertung der auf Mark laufenden Darlehen günstig ihrer Verbindlichkeiten entledigen. In erster Linie zählte dazu der Staat. Natürlich konnte sich auch das Großkapital schadlos halten, indem große stahlerzeugende und -verarbeitende Konzerne durch die risikolose Kreditaufnahme während der Inflation Kohlezechen, Erzgruben und Hersteller von Hilfsstoffen oder Maschinenfabriken kauften. So gerieten sie auch in Hinblick auf die kommenden Jahre der Weimarer Republik zu einem nicht mehr zu unterschätzenden politischen Machtfaktor.

Besetzung von Rhein und Ruhr

Die Besetzung an Rhein und Ruhr ist kein barbarischer Überfall aus heiterem Himmel gewesen. Die linksrheinischen deutschen Gebiete (Rheinland-Pfalz und Saarland) wurden nach Kriegsende zunächst von französischen Truppen besetzt, ehe sie nach dem Versailler Vertrag unter gesamtalliierte Kontrolle gestellt wurden.

Ende November 1922 legt die konservative Regierung Poincaré den anderen Allierten einen Plan vor, wonach Maßnahmen zu einer „produktiven Pfändung“ ergriffen werden müssten, falls die neu ins Amt gekommene deutsche Regierung Cuno ihre Ankündigung wahrmachen werde, das Deutsche Reich zwecks Sanierung seiner Finanzen

auf drei bis vier Jahre von allen sich aus dem Versailler Vertrag ergebenden Bar- und Sachleistungen zu befreien.

Der Poincaré-Plan sah vor:

  • Eine vollständige Beschlagnahme der Rheinlande, die Frankreich besetzt hält, sie könnte v. a. in der Ersetzung von deutschen durch französische Beamt:innen zum Ausdruck kommen.
  • Besetzung von zwei Dritteln des Ruhrgebietes einschließlich Essens und Bochums, so dass die an Frankreich vom Deutschen Reich zu liefernden Kohlen und der für die französische Industrie erforderliche Hüttenkoks gesichert seien.

Am 11. Januar 1923 rückten französische und belgische Truppen in das bis dahin noch unbesetzte Ruhrgebiet ein. Neben dem Eingriff in die Verwaltung, u. a. teilweise Ersetzung der deutschen Polizei als Ordnungsfaktor, wurde der Abtransport der Reparationen, v. a. von Kohle durch die militärische Präsenz und hartes Vorgehen gegen Widerstand durchgedrückt.

Passiver Widerstand

Die deutsche konservative Regierung unter Wilhelm Cuno (parteilos), die seit November 1922 das Amt von einer liberal-sozialdemokratischen Koalition übernommen hatte, rief zu einem passiven Widerstand auf, dem einzig die Reichstagsfraktion der KPD nicht zustimmte (12 von insgesamt 296 Mandatsträger:innen).

Dieser Anlass war, so sehr er auch die eigene Wirtschaft bedrückte, politisch für die deutsche Bourgeoisie nicht unwillkommen. So konnte sie die nationale Einheit, die Bedrohung durch den äußeren Feind beschwören, dem die Verantwortung für die Verschlechterung der Lage und die zunehmende Teuerung zugeschoben werden konnte.

Die Arbeiter:innenklasse beteiligte sich tatsächlich mit zahlreichen Arbeitsniederlegungen an dem Widerstandsaufruf, beschränkt jedoch zumeist auf die okkupierten Territorien.

Nationale Selbstbestimmung?

Die Okkupation stellte auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) vor ideologische und praktische Probleme, die exemplarisch ihren Zustand beleuchteten.

Die Stationierung einer Besatzungsmacht im Verein mit dem Versailler Vertrag leistete nationalistischen Kräften Vorschub, die Deutschland als von fremden Mächten unterdrückte Nation ansahen.

Zu Beginn gab es noch einen hoffnungsvollen revolutionär-internationalistischen Ansatz in Form einer gemeinsamen Konferenz mit Vertreter:innen der KP Frankreichs, die bereits vor der Ruhrbesetzung am 7.1.1923 in Essen stattfand und auf der eine Zusammenarbeit z. B. mit antimilitaristischer Propaganda beschlossen wurde. Im März 1923 folgte eine Zusammenkunft in Frankfurt/Main, die zusätzlich von linksreformistischen und zentristischen Kräften beschickt war und die selbständige Klassenpolitik nach außen wie nach innen als Losung ausgab. Die KPD vernachlässigte jedoch bald den Kampf gegen die eigene Regierung.

Stattdessen revidierte die Partei die Auffassung, dass der deutsche Kapitalismus durch Kriegsniederlage und den Versailler Vertrag seinen imperialistischen Charakter nicht eingebüßt hatte, vertrat nun Thesen zum Status Deutschlands als Halbkolonie und eine Einschätzung, die die Niederlage des französischen Imperialismus als „kommunistisches Ziel“ in einer Veröffentlichung des Mitglieds der Parteiführung, Thalheimer, erklärte. Das deutsche Proletariat müsse nunmehr die Führung in einem gerechten, nationalen Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch den französischen Imperialismus übernehmen. Der deutschen Bourgeoisie wurde eine objektiv revolutionäre Rolle „wider Willen“ angedichtet. Diese Wendung geht einher mit dem Versuch der Gewinnung von reaktionären Kreisen, die im Widerstand gegen die Okkupation aktiv waren, was sich im Verständnis für nationalistische Anschläge ausdrückte (Radeks Schlageterrede) bis hin zur antisemitischen Anbiederung an völkische Kräfte (Ruth Fischer). Die KPD begab sich damit in gefährliches Fahrwasser reaktionärer Ideologie, die Deutschland als. in ‚Zinsknechtschaft‘ ausländischer Mächte schmachtendes und unterdrücktes Land mystifizierte. Nationalbolschewistischen Tendenzen wurde eine Kolumne in der Parteizeitung Rote Fahne zugestanden.

Zustand der KPD

Die Kommunistische Partei Deutschlands war nach 1920 schlagartig zu einer Massenpartei durch Vereinigung mit einem Großteil der zentristischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angewachsen, verstrickte sich in militärische Auseinandersetzungen (Märzaufstand). Darauf folgten Behinderung und teilweise Illegalisierung der Parteiarbeit. Diskussionen über die Kursbestimmung brachten jedoch keine klare Linie in ihre Politik. Die Partei befand sich nach wie vor in einem instabilen Zustand. Dies drückte sich auch im Austausch von Führungen aus.

Die KPD wirkte durch die ständigen Herausforderungen, die die instabile Lage in Deutschland mit sich brachte, überfordert. So war sie auf ihrem Leipziger Parteitag (28.1. – 1.2.1923) in Debatten über die Generallinie verstrickt, wo es sich um Auslegung von Einheitsfront bzw. Arbeiter:innenregierung als Taktik drehte. So elementar auch Versuche waren, Klärungen in diesen Fragen herbeiführen zu wollen, hätte die Partei sich nicht mit der Ablehnung des Regierungsaufrufs begnügen dürfen, sondern frühzeitig die Gelegenheit ergreifen müssen, die Situation der Ruhrbesetzung im Interesse der Arbeiter:innenklasse offensiv zu nutzen.

Der linke Flügel, der im Ruhrgebiet eine seiner Hochburgen besaß, verwies auf diese Notwendigkeit, erhob Forderungen nach proletarischen Produktionskontrollen und Warenverteilung sowie die Übernahme von Betrieben in Bergbau und Schwerindustrie. Das teilweise Machtvakuum durch Zersetzung der deutschen Verwaltungen im Ruhrgebiet schien nutzbar, um auch politische Stellungen der Arbeiter:innenklasse ausbauen zu können. Doch in ihrem Eifer schossen die Genoss:innen abenteuerlich übers Ziel hinaus, weil sie einem militärischen Aufstand und davon ausgehenden Fanal für die restliche Republik Erfolgsaussichten einräumten.

Eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg hätte den Blickwinkel für Klassensolidarität aus nationaler Enge weiten und die Aktionsfähigkeit für den Widerstand gegen beide Imperialismen stärken können. Reparationsforderungen und Versailler Vertrag drängten auf eine revolutionär-internationalistische, proletarische Antwort: Gesamteuropäischer Aufbauplan zur Beseitigung der Kriegszerstörungen als Konkretisierung der Forderung nach Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!

Differenzen

Die anfangs zögerliche Haltung der KP-Führung im Ruhrkonflikt rührte von katastrophalen Erfahrungen mit militärischen Abenteuern wie dem Märzaufstand her, in die sich die Partei nicht wieder stürzen wollte. Sie verfolgte die Linie eines allmählichen Kräfteaufbaus und Stärkung der Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenbewegung.

Als zentrales Mittel nahm sie die Einheitsfronttaktik wahr, verknüpfte sie auch mit der Frage einer Arbeiter:innenregierung. Dabei traten gravierende Unstimmigkeiten in der Partei zu Tage. Die Führung setzte sich für eine umfassende Taktik ein, um auf die reformistisch beeinflussten Massenorganisationen SPD und Gewerkschaften einwirken zu können, während die Opposition nur ein Zusammengehen mit Anhänger:innen der SPD an der Basis akzeptierte, wobei sie bei Aktionen ultimativ die Führungsrolle beanspruchte. Eine Unterstützung einer SPD-geführten Regierung lehnte sie ab. Die Mehrheitssozialdemokrat:innen gehörten für den Oppositionsflügel zum linken Rand der Bourgeoisie.

Auf dem Leipziger Parteitag war eine Charakterisierung der Arbeiter:innenregierung als Kompromissformel angenommen worden, die sich deutlich von den Leitsätzen der Kommunistischen Internationale auf dem IV. Weltkongress 1922 unterschied: „Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen Arbeiter:innenpolitik zu betreiben.“ Diese Formel kittete jedoch die Differenzen nicht, sondern übertünchte sie nur.

Kurswechsel

Die ausbleibende Ausweitung von Protesten gegen die Ruhrbesetzung auf das übrige Deutschland schien der Einschätzung der KP-Führung anfänglich noch recht zu geben. Doch die unversöhnlich harte Haltung Frankreichs, dessen gewalttätige Besatzung einen Blutzoll forderte, sowie die schlechte Versorgungslage für die Bevölkerung ließen Streiks und Hungerunruhen immer wieder aufflammen.

Noch im Mai lehnte die KPD-Zentrale einen Machtkampf im Ruhrgebiet als nur dem Klassenfeind im In- und Ausland dienlich ab. Die wirtschaftliche Einschnürung durch die sprunghafte Preisspirale hielt ab Hochsommer das gesamte Land im Griff und ließ die Stimmung gären. Die SPD entzog nun der Cuno-Regierung die Unterstützung. Die Unruhe wuchs auch in den Parteigliederungen der KPD. So musste sich die Führung schließlich zu einer einschneidenden Kurskorrektur bequemen und bereitete sich auf einen Generalstreik gegen die bürgerliche Regierung vor.

Antifaschistischer Tag

Erste Station einer sichtbaren Initiative der Partei sollte der am 11.7. von der Parteiführung beschlossene „Antifaschistische Tag“ am 29.7. mit großem Aufgebot für eine zentrale Demonstration sein. Er sollte zugleich ein Zeichen sowohl gegen die Regierung wie auch reaktionär-nationalistische Kräfte setzen, die die Krise für ihre Zwecke nutzen wollten. Schwirrende Bürgerkriegs- und Putschgerüchte von rechts und links hatten die Regierungsstellen aufgeschreckt. Die Behörden ordneten für diesen Tag ein Verbot jeglicher Aufmärsche an. Die KP-Führung sagte daraufhin die Demonstration ab.

Diese Entscheidung empörte die Parteiopposition, was sich auf der folgenden Sitzung des Zentralkomitees in einem Disput über die Parteilinie entlud. Sie machte geltend, dass den Massen unbedingt ein Signal hätte gegeben werden müssen, um die Machtfrage unter Führung der KPD zu stellen. Die Leitung bestand wiederum darauf, dass der Augenblick zur Errichtung einer proletarischen Diktatur erst gekommen sei, wenn die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter:innen gewonnen werden könne. Die bürgerliche Herrschaft würde selbst zur gegebenen Zeit zusammenbrechen.

In der Schlusserklärung einigte man sich auf die Notwendigkeit, die derzeitige Regierung so bald wie möglich zu Fall zu bringen und eine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierumg“ zu fordern. Doch der Zwist innerhalb der Partei war abermals nicht beigelegt.

Streik gegen die Regierung

Da die Ausstände auf Fabrikebene und Zusammenstöße mit der Ordnungsmacht zugenommen und auf das gesamte Deutsche Reich seit Juni übergegriffen hatten und sich zunehmend auch gegen die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Reichsregierung wandten, gab die KP-Führung dem Drängen der linken Basis aus dem Betriebsrätemilieu nach und sah sich veranlasst, das Kampfmittel des Generalstreiks anzuwenden.

Die Vorzeichen standen nicht ungünstig, denn die KPD hatte seit Ende 1922 dank gezielter Einheitsfrontarbeit nicht nur ihre Mitgliederzahl vergrößern, sondern auch ihr organisatorisches Umfeld bis tief in mehrheitssozialdemokratische Arbeiter:innenkreise ausdehnen können. Bei ihrer Heerschau musterte die KPD im Juli 1923 allein 4.000 kommunistische Gewerkschaftsfraktionen. Bei den Betriebsräten im Metallarbeiter:innenverband Berlin-Brandenburg belief sich das Überzahlverhältnis der KPD- zur SPD-Angehörigkeit sogar auf etwa 2:1.

Die KPD-Betriebsräte hatten im Verein mit linken Sozialdemokrat:innen rasch den „Fünfzehnerausschuss“ als Verbindung zwischen den Fabrikausschüssen der Hauptstadt formiert. Dieser rief zum Generalstreik auf. Das Berliner Gewerkschaftskartell trat zusammen, beschloss jedoch unter dem Einfluss der rechten SPD-Führung, sich dem Streik nicht anzuschließen. Er wurde dennoch ausgerufen, begann aber merkwürdigerweise am 11.8., einem Sonnabendabend. Jedoch die Eisenbahner:innen befolgten den Streikaufruf nicht. Die Streikfront bröckelte im Laufe des Montag. Die KP-Zentrale entschied sich daher zum Abbruch der Aktion.

Entscheidend für das Scheitern dieses Streikversuchs war auch, dass die Bourgeoisie mittlerweile sehr wendig gehandelt hatte. Sie sah, dass die alte Regierung nicht mehr zu halten war. Diese demissionierte am 12.8. Einen Tag später schon stand eine neue unter Stresemann (liberal-konservative Deutsche Volkspartei). Dem Klassenfeind in den Steigbügel half erneut die MSPD und beteiligte sich auch an dem neuen Kabinett. Die Aufgabe des passiven Widerstands und ein radikaler Währungsschnitt als Lösung der Hyperinflation wurden vorbereitet.

Die Haltung der Kommunistischen Internationale

Diese versuchte, in den Streitigkeiten zwischen den beiden Flügeln zu vermitteln, und stand anfangs eher auf Seiten der KPD-Führung. Deren Politik der Arbeiter:inneneinheitsfront trug bereits 1922 Früchte und schien verlässlicher als der oft sprunghafte Voluntarismus der Opposition. Zwar war in der KI die Anschauung verankert, dass Deutschland die zentrale Rolle als Zündfunke für die sozialistische Weltrevolution einnehmen sollte, und sie hatte ihrer internationalistischen Verantwortung bewusst entsprechend gehandelt und Verbindungen zu der französischen Sektion aufgenommen, doch diese Arbeit nach der Frankfurter Konferenz nicht mit der Entsendung von Material, Personal und Ausgabe politischer Direktiven energisch fortgesetzt. Sie wurde erst im Zusammenhang mit Aufstandsplänen für Oktober 1923 wieder aufgegriffen. Die Dimension der Ruhrbesetzung wurde tendenziell unterschätzt.

In der KI selbst zeichnete sich jedoch eine Uneinigkeit über den Kurs ab. Sinowjew und Bucharin teilten ein halbes Jahr später ab Sommer 1923 im Wesentlichen die Einschätzung des Fischer/Maslow-Flügels und drängten in einer abrupten Wendung auf eine proletarische Erhebung. Sie ließen sich anscheinend von einem überzeichneten Bild der Verhältnisse leiten. Es herrschte die Einschätzung vor, dass in Deutschland die Bourgeoisie bankrott wäre und sich die Lage in Arbeiter:innen- und aufkommende faschistische Massenbewegung polarisierte, die Situation auf einen Bürgerkrieg zusteuerte. Der objektiv revolutionären Lage fehlte jedoch die subjektive Reife.

Der Verlauf des Generalstreikversuchs im August hätte eine Warnung sein müssen.

Hoernle, neben Zetkin deutsches Mitglied im Exekutivkomitee der KI, kritisierte in einem Brief an Brandler vom 3 .7.1923 die in der KI-Führung bereits im Schwange befindlichen Gedanken an einen Aufstand und merkte an, dass die Betriebshundertschaften in Deutschland zunächst noch „nicht Organ des bewaffneten Kampfes und als bewaffnete Macht noch kaum aktionsfähig“ sein würden.

Die KI-Führung hätte zum einem die Brandler-Führung, die zu behäbig darauf zu warten schien, dass die Bourgeoisie von allein zusammenbrechen würde, auf Trab bringen, und andererseits dem zumeist dilettantisch vorschnellen Aktionismus der KP-Opposition die Zügel anlegen müssen. Ein international koordiniertes Eingreifen mit einer straff strukturierten Vorbereitung hätte bereits mit Beginn der Ruhrbesetzung einsetzen und kontinuierlich fortgeführt werden müssen. Dies und ein klares politisches Programm, das die nationalbolschewistischen Flausen und sektiererischen Irrwege hätte austreiben müssen, hätten die Erfolgsaussichten auf eine siegreiche Revolution in Deutschland und darüber hinaus sicherlich erhöht.

Das Interview zwischen Trotzki und Walcher (17. – 20. August 1933) bringt die Politik von KPD und KI zwischen Jahresbeginn und Oktober 1923 ähnlich auf den Punkt: „Zum Punkt 1923 fuhr Gen. L. T. fort zu bekräftigen, dass zu dieser Zeit, hervorgerufen durch eine schlechte Politik, große objektive Möglichkeiten für den revolutionären Kampf vermasselt worden sind. Aber er denke überhaupt nicht, dass der entscheidende Fehler im Oktober zur Zeit der Chemnitzer Konferenz begangen worden sei. Er hat daran erinnert, er habe schon 1924 die Situation des Jahres 1923 mit der eines Reiters verglichen, der sein Pferd vor einem aufgetürmten Hindernis zu sehr am Zügel gehalten habe und dem folglich nur zwei Möglichkeiten blieben: entweder vor dem Hindernis zurückzuweichen oder trotzdem den Sprung zu wagen, der nur nach gewaltigem Anlauf erfolgreich hätte sein können, und sich infolgedessen den Hals zu brechen. Die KPD, kraft der falschen Politik ihres Zentralkomitees und auch zweifellos der Exekutive der Kommunistischen Internationale, war genau in die Lage dieses Reiters versetzt.“

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