Martin Suchanek, Infomail 1163, 20. September 2021
Gut eine Woche vor den Bundestagswahlen wurden die letzten Umfragen von ARD und ZDF veröffentlicht. Im Deutschlandtrend vom 16. September liegt die SPD mit 26 Prozentpunkten vor CDU/CSU (22 %) und den Grünen (15 %). AfD und FPD würden auf je 11 % kommen und DIE LINKE mit 6 % zwar sicher, aber abgeschlagen in den Bundestag einziehen.
In den letzten Wochen prägt ein eigentümlicher Gegensatz den Wahlkampf. Einerseits könnte er mit einem überraschenden Sieg einer politischen Untoten enden, einer SPD, die über Jahre in den Umfragen um die 15 % dümpelte. Nicht nur die Frage, wer die Regierung führt, sondern auch welche Koalition gebildet wird, ist offen wie nie nach 16 Jahren Merkel-Regierungen.
Zugleich bleibt der Wahlkampf selbst extrem inhaltsleer, wie nicht nur ein Blick auf die Wahlplakate zeigt. So verspricht Scholz „Kompetenz für Deutschland“ und „Respekt für Dich“. Die Grünen und ihre Spitzenkandidatin Baerbock preisen „unser Land“ an. Es „kann viel, wenn man es lässt“. Die CDU/CSU verspricht „Sicherheit“ in unsicheren Zeiten. Und die FDP erklärt nur: „Es gab noch nie so viel zu tun.“
Von einem Lagerwahlkampf ist nichts zu spüren, es gibt auch keinen. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass wahrscheinlich drei der vier oben genannten Parteien, also SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP nach den Wahlen in eine Koalitionsregierung eintreten werden. Auch wenn von SPD und Grünen mit der Linkspartei rechnerisch eine Koalition im Bereich des Möglichen liegt, so ist sie trotz hartnäckiger Bemühungen der Linkspartei-Spitze nach den Wahlen sehr unwahrscheinlich. Sowohl SPD wie auch Grüne streben bei einem Wahlsieg von Scholz eine Koalition mit der FDP an, um so dem deutschen Kapital Verlässlichkeit und Stabilität zu signalisieren. Sollten die Unionsparteien das Ergebnis doch noch drehen können und zur größten Fraktion im Bundestag werden, läuft es wahrscheinlich auf eine Regierung mit der FPD und Grünen oder SPD hinaus.
Theoretisch wäre auch der Eintritt der CDU/CSU in ein SPD-geführtes Kabinett möglich, doch das würde mit ziemlicher Sicherheit die tiefe Krise der Unionsparteien noch weiter verschärfen und ist daher nicht zu erwarten.
Bemerkenswert an diesem Wahlkampf ist zweifellos, dass sich die Umfragen seit Anfang 2021 mehrmals drehten. Eine Zeit lang schien es so, als würden die Wahlen auf ein Duell von CDU/CSU und Grünen hinauslaufen und diese schließlich eine Regierung bilden. Dann fielen aber die Grünen zurück und die Unionsparteien sahen wie die sicheren Siegerinnen aus. Offen war nur, ob Söder oder Laschet Merkel-Nachfolger werden würde.
Mit Olaf Scholz schicke die SPD einen Großkoalitionär vom rechten Parteiflügel ins Rennen, der wie die sichere Fortsetzung ihrer Dauerkrise und ihres langsamen Absterbens wirkte. Wohlmeinende bezeichnen seine Rhetorik als unaufgeregt. Andere schlafen bei seinen Ansprachen einfach ein und sparen so wenigstens am Schlafmittel.
Lange Zeit schien er, sicherer Dritter im Rennen um die KanzlerInnenschaft zu werden, wirkte eigentlich wie ein Pseudokandidat, dessen Partei obendrein das schlechteste Ergebnis aller Zeiten einfahren würde. Doch im Gegensatz zur SPD leisteten sich ihre Konkurrentinnen einen offenen Kampf um die Frage des/der SpitzenkandidatIn. Während CDU und CSU dabei mehr oder weniger offen Laschet beschädigten, geriet die grüne Spitzenkandidatin Baerbock sehr früh ins Sperrfeuer einer Gegenkampagne von Teilen der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Medien.
All dies trug sicher dazu bei, dass sich die Umfragen drehten. Die SPD profitierte im Wesentlichen von den Schwächen der anderen, so dass sie nun reale Chancen hat, am 26. September zur stärksten Partei zu werden und den Kanzler zu stellen. Die Grünen sind mittlerweile faktisch aus diesem Rennen ausgeschieden, so dass sich die Wahl als Zweikampf zwischen Scholz und Laschet zuspitzt.
Zweifellos kommt dem SPD-Mann dabei zugute, dass ihn selbst Teile der CDU-WählerInnen und der herrschenden Klasse für den besseren oder wenigstens vorzeigbareren Kanzler halten. Es wäre freilich viel zu kurz gegriffen, die Frage auf letztlich zweitrangige, personelle Faktoren zu reduzieren.
Die raschen Veränderungen in den Umfragen, drücken vielmehr eine wachsende politische Instabilität und Krise im bürgerlichen Lager aus. Dies reflektiert zwar auch eine Unzufriedenheit in der Bevölkerung, vor allem aber eine politisch-strategische Krise der Parteien, die über Jahrzehnte die Regierungen in der Bundesrepublik stellten und die Stützen des etablierten bürgerlich-parlamentarischen Systems bildeten.
Entscheidend und vorrangig zu nennen ist hier die Krise der CDU/CSU. Selbst wenn Laschet noch vor Scholz landen, die Unionsfraktion zur stärksten im Bundestag werden und die nächste Regierung anführen sollte, wäre ihr Ergebnis katastrophal. Schon 2017 erreichte sie mit 32,9 % das zweitschlechteste in der Geschichte der Bundesrepublik (nur 1949 war es ärger), als CDU/CSU gegenüber 2012 8,6 % verloren. Dieses Mal könnten sich die Verluste in ähnlichen Dimensionen bewegen.
Dem Niedergang der Unionsparteien entspricht eine Zersplitterung des bürgerlichen Lagers, also all jener Parteien, die historisch nicht aus der ArbeiterInnenbewegung stammen. Den Aufstieg der Grünen, die wohl ihr bestes Ergebnis einfahren und sich als dritte politische Kraft festigen, ergänzen FDP und AfD, die beide mit Sicherheit über 10 % der Stimmen erhalten werden. Das verdeutlicht, dass CDU/CSU ihre historische Rolle als Hauptpartei(enbündnis) des BürgerInnentums immer weniger zu erfüllen vermögen. Über Jahrzehnte vermochten die Unionsparteien, verschiedene kleinere offen bürgerliche Kräfte, die in der Weimer Republik miteinander konkurrierten, in einer Partei zu integrieren und so für Einheit im bürgerlichen Lager zu sorgen. Partikularinteressen von kleinbürgerlichen Schichten, Teilen der ArbeiterInnenschaft, unterschiedliche Kapitalfraktionen konnten im Interesse des Gesamtkapitals zu einem Ganzen verbunden werden.
Das gelingt immer weniger. Das liegt insbesondere daran, dass die CDU/CSU-Allianz immer weniger eine Politik zu formulieren vermag, die die Interessen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals als einigermaßen konsistente Strategie artikuliert. Vielmehr sind die Unionsparteien von einer Reihe politischer Gegensätze durchzogen. So schwankt ihre ganze Politik z. B. zwischen Green Deal mit staatlichen Investitionsprogrammen einerseits und einem neoliberalen, „rein“ marktwirtschaftlichen Kurs. Der Green Deal hat dabei natürlich wenig bis gar nichts mit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zu tun, sondern stellt bloß ein „ökologisches“ Programm zur Erneuerung der stofflichen Basis und Konkurrenzfähigkeit des industriellen Kapitals dar. Der andere Flügel setzt aber auf eine wesentlich neoliberale Politik, da so den Interessen der FinanzinvestorInnen am besten gedient sei und der Markt nebenbei auch die ökologischen Probleme lösen würde.
Beide Seiten repräsentieren unterschiedliche Fraktionen des Monopol- und Finanzkapitals und auch unterschiedliche Vorstellungen über die zukünftige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Klassen. Ein Flügel setzt auf Korporatismus und SozialpartnerInnenschaft und damit eine gewisse Einbindung der ArbeiterInnenklasse über den Gewerkschaftsapparat und die Betriebsräte. Dem anderen (FDP, Merz-Flügel in der CDU) erscheint das als grundlegendes Problem.
Schließlich kommt hinzu, dass die verschiedenen politischen Kräfte über keine gemeinsame längerfristige und klare Strategie zur Lösung der EU-Krise sowie der des transatlantischen Verhältnisses verfügen, deren Konflikt unter Biden nicht verschwunden ist, sondern nur seine Form geändert hat. Da beide Fragen untrennbar mit der des Verhältnisses zu China und Russland verknüpft sind, ergibt sich eine weitere Baustelle außenpolitischer Strategie.
Klar ist nur: Es muss sich Entscheidendes ändern. Aber es gibt keine klare Strategie „des“ deutschen Kapitals, ja selbst die verschiedenen Lager durchdringen sich teilweise.
Während sich die unterschiedlichen Richtungen bürgerlicher Politik in der CDU/CSU auch parteiintern gegenüberstehen, herrschen bei Grünen und FDP jeweils bestimmte Richtungen vor, so dass diese Parteien über eine relativ große Einheitlichkeit verfügen.
In gewisser Weise gilt das auch für die SPD. Sie steht – ähnlich wie die Grünen – für den Green Deal. Aber sie vermag es eher und glaubwürdiger, dessen soziale Abfederung und die Rücksichtnahme auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, die bei einem massiven Umbau des Exportkapitals im Bereich der Metall-, Elektro- und chemischen Industrie zu Recht um ihre Arbeitsplätze fürchtet, zu verkaufen. Das erklärt auch, warum die Sozialdemokratie die Grünen in den Umfragen überholen konnte.
Allzu viele soziale Wohltaten sollte auch von Olaf Scholz und seiner SPD niemand erwarten. Mit gerade 3,- Euro/Monat bepreist die Sozialdemokratie die viel beschworene „soziale Gerechtigkeit“ bei der jüngsten Hartz-IV-Erhöhung. So billig sollen die Ärmsten der Armen auch in Zukunft abgespeist werden.
Unter einer von Scholz oder Laschet geführten Bundesregierung sollen die sozialen und ökonomischen Kosten für die Corona-Programme, für die Staatsverschuldung, für die „Reform“ der EU, für die „ökologische Erneuerung“, für Rüstung, Militär und weitere Auslandseinsätze die Lohnabhängigen zahlen. Die Frage ist nur, ob die herrschende Klasse auch einen „Anteil“ tragen oder nach dem Modell von Union und FDP als „Leistungsträgerin“ ganz ungeschoren davonkommen soll. Dass die herrschende Klasse nicht allzu sehr zur Kasse gebeten wird, dafür werden sich in jeder neuen Koalition genug Kräfte finden und wird auch der unvermeidliche Druck des deutschen Kapitals sorgen. Die konjunkturelle Lage mag zwar einen gewissen Spielraum für einzelne Lohnerhöhungen und soziale Abfederung mit sich bringen, aber das ist nur das Zuckerbrot zur Peitsche drohender Massenentlassungen und Umstrukturierungen in der Industrie oder bei den nächsten Sparprogrammen im öffentlichen Sektor. Hinzu kommt, dass die steigende Inflation zu einer weiteren Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen führen wird. Was die Bekämpfung der Corona-Pandemie betrifft, so setzen im Grunde alle vier auf eine Mischung aus Impfungen und Durchseuchung der Ungeimpften, also die sog. Herdenimmunität. Es geht längst nicht mehr darum, die Verbreitung des Virus zu stoppen, sondern nur noch darum, die Belastung des Gesundheitssystems und die Sterberaten in „akzeptablen“ Grenzen zu halten.
Die strategische Linie des deutschen Kapitalismus wird in der nächsten Regierung weiter umstritten und schwankend sein, weil sie sich selbst aus unterschiedlichen Richtungen zusammensetzen wird und auch diese für sich genommen keineswegs über ein schlüssiges, klares „Zukunftskonzept“ verfügen.
Zugleich wird die nächste Regierung wichtige Angriffe starten oder fortsetzen – unterscheiden werden sich die verschiedenen Koalitionen allenfalls dadurch, wie sehr sie die Gewerkschaftsführungen und die Betriebsräte in den Großkonzernen weiter „partnerschaftlich“ in den Kampf um Weltmarktanteile einbinden.
Gemäß der Mechanik der Klassenzusammenarbeit soll davon ein Teil an die ArbeiterInnenaristokratie fallen. Doch dieser Anteil wird vor dem Hintergrund fallender Profitraten und immer härterer Weltmarktkonkurrenz zusehends geringer. Für viele besteht er schon heute, nach erfolgreichem, sozial abfederten Strukturwandel, nur noch im „Privileg“, die eigene Arbeitskraft weiter verkaufen zu dürfen – zu deutlich schlechteren Bedingungen, versteht sich.
Den wunden Punkt des deutschen Imperialismus stellt jedoch seine außenpolitische und militärische Schwäche dar. Daher muss eine zukünftige Regierung, ob unter Scholz oder Laschet, danach trachten, den gordischen Knoten der EU-Krise und des weiteren Zurückbleibens in der Konkurrenz mit den USA und China zu lösen. Ob das gelingt, ist durchaus zweifelhaft. Das Schwert, mit dem er durchschlagen werden kann, muss noch geschmiedet werden.
Allein daher können wir eine größere Instabilität erwarten. Falls der kommenden Regierung keine wirkliche Lösung dieser strategischen Krise gelingt, müssen wir mit einer weiteren Umgruppierung im bürgerlichen Lager rechnen. Die rassistische und rechtspopulistische AfD wird zwar regelmäßig von inneren Konflikten heimgesucht, aber sie hat sich bei über 10 % der Stimmen stabilisiert. Auch in der nächsten Periode wird sie enttäuschte und wütende kleinere Kapitale, KleinbürgerInnen und rückständige ArbeiterInnen durch eine Mischung aus rassistischer Demagogie und Freiheitsversprechen für „ehrliche“ KleinunternehmerInnen binden können.
Bei diesen Wahlen kommt die AfD aufgrund ihrer Anti-EU-Haltung weder für CDU/CSU noch für die FDP als Koalitionspartnerin in Frage. Doch dies kann sich in der nächsten Legislaturperiode ändern – sei es, wenn die Krise der EU andere Optionen für das Kapital notwendig macht, sei es als mögliche Partnerin gegen den Widerstand der ArbeiterInnenklasse oder sozialer Bewegungen (z. B. Umwelt, Mieten) gegen kommende Angriffe. Außerdem werden die Unionsparteien und die FDP danach trachten, ihre Regierungsoptionen zu erweitern, um die Möglichkeiten von SPD und Grünen auszugleichen, die auch auf die Linkspartei als Drohkulisse zurückgreifen können.
Im Grunde wird es aber bei den Wahlen um die Alternative zwischen zwei möglichen zukünftigen Richtungen des deutschen Imperialismus gehen. SPD und Grüne stehen für eine sozial und ökologisch abgefederte Modernisierung. FDP und rechter Unionsflügel setzen auf eine Neuauflage des Neoliberalismus. Ein Teil der CDU/CSU steht entweder dazwischen oder SPD, Grünen und der EU-Kommission näher.
Wie die deutsche Bourgeoisie diese Krise löst, hängt letztlich natürlich nicht vom Ausgang der Wahlen ab und von den Verhandlungen um eine neue Regierung. Wesentlich wird die Frage im Kampf entschieden, sowohl mit anderen Blöcken und Staaten um die Zukunft der EU und der Weltordnung als auch zwischen den Klassen. Darin müssen sich die verschiedenen bürgerlichen Strategien als tauglich erweisen.
Auf reiner Regierungsebene werden wir es unmittelbar – nicht unähnlich den Verhältnissen in der EU – mit einer Koalition der beiden Richtungen zu tun haben. Verstärkt wird das unmittelbar noch durch das föderale System der Bundesrepublik, das der parlamentarischen Opposition bei wichtigen Gesetzen noch immer „Mitspracherechte“ gegenüber der Regierung einräumen würde. In jedem Fall wäre dies, anders als in früheren Perioden, ein fragiles, instabiles Kabinett.
Grundsätzlich bietet eine solche Lage auch Chance für die ArbeiterInnenklasse. Doch der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte, der selbst aus Niederlagen (Hartz-Gesetze, EU-Diktat gegenüber Griechenland, Rechtsrutsch nach der sog. Flüchtlingskrise) herrührt, führte mit dazu, dass nicht die Linke, sondern die politische Rechte von den krisenhaften Prozessen profitierte.
Dies wurde und wird durch die Politik von SPD und Gewerkschaften – insbesondere durch den sozialpartnerschaftlichen Schulterschluss der Bürokratie während der Krise und der Pandemie – massiv verschärft. Die großen DGB-Gewerkschaften verzichteten faktisch auf Tarifauseinandersetzungen. Die größten gesellschaftlichen Mobilisierungen kamen von kleinbürgerlich-geführten Bewegungen gegen Rassismus und vor allem gegen die Umweltpolitik der Regierung, was dazu beitrug, dass diese wie auch die außerparlamentarische Linke stark von kleinbürgerlichen Ideologien geprägt sind.
Auch wenn es 2021 eine eingeschränkte Trendumkehr mit wichtigen Arbeitskämpfen bei der Bahn oder im Gesundheitswesen oder durch Kampagnen gegen steigende Mieten gab, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese nur einzelne Sektoren und Teilkämpfe betrifft. In den großen Betrieben herrscht ein von oben, mithilfe der Gewerkschaften und Betriebsräte organisierter Frieden vor, er von den Beschäftigten mit Verzicht auf allen Ebenen und Arbeitsplatzverlusten bezahlt wird.
Die Linkspartei vermochte es nicht, aus dieser Krise der SPD politisches Kapital zu schlagen. Sie ist vielmehr selbst Teil des Problems, der politischen Krise der ArbeiterInnenklasse. Das drückt sich auch, aber nicht nur bei den Wahlen aus. Gegenüber 2017 wird sie in diesem Jahr wahrscheinlich um die 2 – 3 % verlieren. Das reicht zwar zum Einzug in den Bundestag. Die Frage stellt sich aber, warum sie um die 6 % dümpelt?
Der entscheidende Faktor ist wohl der: Die Linkspartei vermochte, sich selbst nicht als glaubwürdige Alternative zur Regierung und das heißt vor allem zum sozialpartnerschaftlichen Kurs der SPD und der Gewerkschaftsführungen zu präsentieren. In Thüringen, Berlin und Bremen ist sie bekanntlich an den Landesregierungen beteiligt – und damit verschwimmt selbst der Unterschied ihres linksreformistischen Programms zur Politik von SPD und Grünen.
Andererseits hat sich die Linkspartei durchaus gewandelt. Seit Jahren zählt sie zwar um die 60.000 Mitglieder, doch während bei der Fusion von PDS und WASG eine deutliche Mehrheit aus Ostdeutschland kam, ist es heute nur noch eine Minderheit. Die Partei hat sich auch verjüngt und weist eine stärkere Verankerung unter gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen auf, als die ehemalige PDS sie je hatte. Sie ist eigentlich eine „klassischere“ bürgerliche ArbeiterInnenpartei geworden, eine kleinere reformistische Schwester der SPD. Sie organisiert zur Zeit die politisch bewussteren Teile der ArbeiterInnenklasse und spielt eine wichtige, wenn nicht führende Rolle in bedeuteten Arbeitskämpfen, so im aktuellen Streik an den Berliner Krankenhäusern, so in der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder in den Mobilisierungen gegen das verschärfte Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen.
Dass die Partei trotz ihrer reformistischen Politik und Programmatik politischer Ausdruck dieser Kräfte und Bewegungen wurde, bringt ihre Verankerung in fortschrittlicheren und kämpferischeren Teilen der Lohnabhängigen zum Ausdruck und bildet die Basis dafür, sie bei den kommenden Wahlen kritisch zu unterstützen. Um einen Kampf gegen die kommenden Angriffe erfolgreich zu führen, ist die Gewinnung dieser Teile der ArbeiterInnenklasse für eine Einheitsfront unbedingt notwendig, sowohl wegen ihres eigenen gesellschaftlichen Gewichts, aber auch als Hebel zur Gewinnung breiterer Schichten der Klasse.
Doch die Reaktion der Führung der Linkspartei auf eine nach einigen Umfragen mögliche rechnerische Mehrheit im kommenden Bundestag verdeutlicht auch, warum ein Wahlaufruf nur ein sehr kritischer sein kann. Die Spitze der Partei konzentriert sich in den letzten Wochen nicht darauf, sich als linke, kämpferischer Alternative zu allen proimperialistischen Kräften und möglichen bürgerlichen Koalitionen zu präsentieren. Sie setzt vielmehr auf eine Regierungsbeteiligung. Dazu veröffentlichten die Vorsitzenden der Partei und der Parlamentsfraktion Anfang September ohne Diskussion im Parteivorstand ein Sofortprogramm für eine rot-grün-rote Regierung, in dem alle wesentlichen Differenzen mit SPD und Grünen (insbesondere auch zur NATO und zur Außenpolitik) umschifft werden. Gegenüber dem deutlich linkeren Wahlprogramm kommt es einer Kapitulation gleich.
Die Linkspartei verkennt dabei nicht nur, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; sie verkennt auch, dass eine rot-grün-rote Regierung mit einer SPD unter Scholz nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.
Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green (New) Deal im Kapitalinteresse.
Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.
Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock und Lindner werden nach dem 26. September sicher für massive soziale Angriffe sorgen. Dabei werden sie sich aber auch in langwierige Koalitionsverhandlungen verstricken. Und das kann für uns nützlich sein, wenn wir selbst entschlossen reagieren und nicht erst auf eine Regierungsbildung warten.
Eine Massenbewegung gegen die Abwälzung der Kosten von Krise und Pandemie auf die Lohnabhängigen aufzubauen, ist das Gebot der Stunde. Dazu schlagen wir eine bundesweite Aktionskonferenz vor, die die Lage nach den Wahlen diskutiert und einen Aktions- und Mobilisierungsplan gegen die zu erwartenden Angriffe beschließt.