Frederik Haber, Infomail 1212, 3. Februar 2023
Am 6. Dezember fand in der albanischen Hauptstadt Tirana die jüngste Konferenz der „Westbalkanstaaten“ und der Europäischen Union statt. Neben Vertreter:innen aus Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten nahmen auch solche aus Albanien, dem Kosovo, Mazedonien, Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro teil. Auf der Konferenz wurden mehrere Fragen im Zusammenhang mit den künftigen Beziehungen der teilnehmenden Staaten erörtert, darunter auch der Prozess eines eventuellen Beitritts zur Union. Die Diskussionen wurden jedoch in unterschiedlichem Maße von einer gemeinsamen Sorge geleitet: wie sich der aktuelle Konflikt zwischen der NATO und Russland auf die Völker und Staaten der Region auswirken würde.
Das Schicksal des Balkans, einer Region mit gegensätzlichen lokalen und externen Interessen, wurde im Laufe der Geschichte immer wieder von verschiedenen Krisen der Großmächte geprägt, von denen die bekannteste der Auslöser für den Weltkrieg im Jahr 1914 war. Dies ist auch heute noch der Fall, wobei die Region nicht nur durch die jüngste russische Invasion und die Reaktion der NATO destabilisiert wird, sondern auch durch die längerfristige Krise der Hauptprotagonistin der Konferenz, der Europäischen Union.
Die Versuche seitens Paris und Berlins, die EU zu nutzen, um die Hegemonie der Vereinigten Staaten in Frage zu stellen, sind gut 20 Jahre alt. So weigerten sich beide, sich direkt an der Invasion und Besetzung des Irak zu beteiligen, nicht wegen der offensichtlichen Lügen von Bush und Blair, dass Saddam Hussein „Massenvernichtungswaffen“ besäße, sondern weil es nicht zu ihrer eigenen imperialistischen Agenda passte. Ein weiterer Aspekt ihrer Politik betraf den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, wohin sie Produkte von Hightechmaschinen bis hin zu Lebensmitteln exportierten und woher sie billiges Öl und Gas importierten. Daher das 2001 beschlossene und 2011 in Betrieb genommene Nordstream-Pipelineprojekt.
Das Ziel der EU, dem US-Imperialismus Konkurrenz zu bieten, ist aus drei Gründen gescheitert. Ihr Entwicklungsplan schlug fehl, als nach der großen Rezession im Jahr 2008 Deutschland sich auf Kosten anderer EU-Mitglieder rettete und dabei die Industrien von Ländern wie Spanien und Italien ruinierte, während es andere wie Griechenland in einem Ausmaß ausplünderte, wie man es sonst nur im Krieg erlebt. Tatsächlich profitierte Deutschland von der größeren wirtschaftlichen Schwäche der anderen, die zu einem schwachen Euro (im Vergleich zur D-Mark vor 1990) führt, was die deutschen Exporte allgemein, aber auch gegenüber den Industrien der anderen begünstigte. Zweitens wurde die EU von China als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt überholt. Drittens schlug das amerikanische Imperium zurück, da es seine künftige Weltherrschaft durch China, die EU und sogar durch Russland bedroht sah. Unter Obama und Trump begann es, von den europäischen NATO-Mitgliedern zu verlangen, dass sie ihren „gerechten Anteil“ an den Beiträgen zum Bündnis übernähmen. Außerdem nutzte es die neuen östlichen Mitgliedstaaten, insbesondere Polen und Ungarn, um die Pläne der EU zu durchkreuzen und sich energisch gegen die Nordstream-2-Pipeline zu wehren.
Die Interventionen der USA und Großbritanniens in der Ukraine richteten sich ebenso sehr gegen die EU wie gegen Russland. Die EU hatte versucht, die Ukraine mit einem vorgeschlagenen Assoziierungsabkommen in ihren wirtschaftlichen Orbit zu ziehen, allerdings bis vor kurzem, ohne die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland abzubrechen. Die USA spielten unterdessen eine führende Rolle bei der Unterstützung der Maidanproteste, die von einem Volksaufstand zum Putsch auswuchsen, sowie der Bewaffnung des ukrainischen Staates und von Milizen wie dem Asow-Bataillon für deren revanchistischen Feldzug im Donbas(s) (Donezbecken). Auf dem Höhepunkt des Konflikts wurde ein Telefonat abgehört, in dem die US-Außenstaatssekretärin für Europa und Eurasien, Victoria Nuland, erklärte: „Fuck the EU“, was die Differenzen zwischen Brüssel und Washington deutlich machte.
Die Invasion im Februar 2022, ein Versuch des russischen Imperialismus, die Ukraine zu einer direkten Kolonie zu machen, ermöglichte es dem US-Imperialismus, die strategischen Pläne der EU völlig über den Haufen zu werfen. Die USA und Großbritannien riefen am lautesten nach Sanktionen der G7-Staaten gegen Russland, die dann die EU-Staaten am stärksten betrafen. Nordstream 2 wurde gestrichen und Nordstream 1 zerstört, was zu einem Zustrom teurer US-Energie auf die europäischen Märkte führte, während die EU-Länder noch mehr Geld für Militärhilfe für die Ukraine und ihre eigene Aufrüstung ausgeben mussten.
Deutschland und Frankreich fanden sich mit ihrer Niederlage ab und suchten nach neuen Möglichkeiten, ihren Einfluss geltend zu machen. Sie boten der Ukraine und der Republik Moldau die Mitgliedschaft in der EU an. Ein Beitritt würde in erster Linie bedeuten, dass dem europäischen Kapital in diesen Staaten weniger Grenzen gesetzt würden, so dass es bei Wiederaufbau und Entwicklung eine Führungsrolle übernehmen und die prorussischen Elemente ihrer herrschenden Klassen weiter marginalisieren könnte. Diese offensichtliche Überholspur zur europäischen Integration war jedoch ein Affront gegen eine Reihe von Balkanstaaten, die seit Jahrzehnten vergeblich versuchen, eine Mitgliedschaft oder auch nur die Stufe eines „Kandidaten“ zu erreichen.
Vor 20 Jahren erklärte der EU-Rat auf seinem Gipfeltreffen in Thessaloniki den Beitritt der Länder des ehemaligen Jugoslawiens zur Union zur Priorität. In der Tat trat Slowenien 2004 der Union bei, gefolgt von Kroatien im Jahr 2013. Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien und der Kosovo wurden jedoch nicht aufgenommen, ebenso wenig wie Albanien. Bosnien beispielsweise brauchte sechs Jahre, um als Beitrittskandidat anerkannt zu werden, während die Ukraine und Moldawien vier bzw. drei Monate benötigten.
Alle diese Staaten sind in hohem Maße von den wichtigsten, meist imperialistischen Ländern der EU abhängig. Deutschland ist der größte Exporteur in die Region und seinen Unternehmen gehören große Teile der Infrastruktur wie Telekommunikation und Energie in allen Ländern. Österreich spielt eine führende Rolle im Finanzbereich, während Griechenland im Einzelhandel tätig ist. Italien ist besonders in Albanien engagiert, während Russland, China und die Türkei ebenfalls groß investieren.
Die Regierungen dieser kleinen Länder konkurrieren miteinander, indem sie Land, Infrastruktur, niedrige Steuern und extrem niedrige Löhne anbieten, oft für Arbeitskräfte, die in den verschiedenen „Freihandelszonen“ der Region besonders ausgebeutet werden. Durch ein Abkommen zwischen China und Serbien wurden chinesische Arbeitsgesetze für ein von China aufgekauftes Unternehmen eingeführt. Die Monatslöhne für Frauen in der Textilindustrie in Albanien und Mazedonien liegen bei weniger als 200 Euro und damit weit unter jedem existenzsichernden Einkommen.
Die Region produziert auch Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt der EU-Länder. Zwischen 60 und 90 Prozent der jungen Menschen in jedem dieser Länder sehen dort keine Zukunft und wandern ab. Diejenigen, die nach Deutschland, dem beliebtesten Zielland, kommen, können dies auf Grundlage des „Westbalkanabkommens“, das sie an das jeweilige Unternehmen bindet, das ihre Arbeitserlaubnis gesponsert hat. Die Visaregelung der EU für die Region, die jetzt auch auf den Kosovo ausgedehnt wurde, ermöglicht die Einreise in die Schengenzone für 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen. Diese legale Einreise wird häufig mit illegaler Arbeit kombiniert.
Es überrascht daher nicht, dass viele Menschen auf dem Balkan die EU-Mitgliedschaft als einen einfacheren und legalen Weg zur Arbeit ansehen. Die Erfahrungen Bulgariens und Rumäniens, des größten Exporteurs von Arbeitskräften in der EU, zeigen jedoch, dass die Migrationspolitik von den imperialistischen Staaten bestimmt wird, die den beiden Staaten nach wie vor die Mitgliedschaft in der Schengenzone verweigern, ganz zu schweigen von den zahlreichen Auflagen und Schlupflöchern, die innerhalb der Freizügigkeitszone bestehen.
Generell gibt es wenig Grund zur Annahme, dass sich die allgemeine wirtschaftliche Situation in den Balkanländern durch einen Beitritt zur EU verbessern würde. In Kroatien, Bulgarien und Rumänien ist dies sicherlich nicht geschehen. Ebenso zweifelhaft ist, dass sich die Staaten gegenüber der politischen Dominanz der imperialistischen Mächte besserstellen werden, angesichts des dann noch engeren Spielraums, um zwischen der EU, den USA und Großbritannien zu manövrieren oder gar mit China, Russland oder der Türkei zu flirten. Auch die nationalistischen Konflikte zwischen den Staaten oder ihren Ethnien werden nicht abnehmen. Das ist der Realität eines globalen kapitalistischen Systems, seiner Ausbeutung und seiner wachsenden Konflikte zwischen imperialistischen Mächten und deren Technik, Halbkolonien als Spielfiguren für ihre Pläne zu benutzen, geschuldet. Die USA und Russland demonstrieren dies seit Beginn dieses Jahrhunderts in der Ukraine, und der Preis, den das Land und sein Volk dafür zahlen, wird immer höher.
Diese Zweifel und Fragen, die so offensichtlich mit der EU-Mitgliedschaft zusammenhängen, sind in den Verlautbarungen der Brüsseler Staats- und Regierungschef:innen nicht enthalten. Bezeichnenderweise verkündeten sie in ihrer abschließenden „Erklärung von Tirana“, dass alles in Ordnung sein wird, vorausgesetzt, die Bewerber:innen erledigen ihre Hausaufgaben und werden so demokratisch, gesetzestreu und diskriminierend wie ihre Herr:innen.
„Die EU bekräftigt ihr uneingeschränktes und klares Bekenntnis zur Perspektive einer Mitgliedschaft des Westbalkans in der Europäischen Union und ruft dazu auf, den Beitrittsprozess auf der Grundlage glaubwürdiger Reformen seitens der Partner, einer fairen und strikten Konditionalität sowie des Grundsatzes der Beurteilung nach der eigenen Leistung zu beschleunigen, was in unserem beiderseitigen Interesse liegt.“
Und weiter: „Die EU begrüßt die Entschlossenheit der Partner im Westbalkan, im Einklang mit dem Völkerrecht die zentralen europäischen Werte und Grundsätze zu wahren.“
Das Mantra der EU-Führer:innen, dass die Bewerberländer ihre Pflichten erfüllen, ihre Rechtsvorschriften an EU-Standards anpassen, die öffentlichen Ausgaben kürzen, Korruption und Nationalismus bekämpfen und bessere Demokrat:innen werden müssen, stinkt geradezu vor Heuchelei.
Die Korruption, die in diesen Staaten in der Tat weitverbreitet ist, stellt eine direkte Folge ihrer Ausbeutung durch imperialistische Konzerne, Banken und Staaten dar, die einen Großteil des in der Region produzierten Wertes ins Ausland abfließen lassen, während die Märkte mit Konsumgütern von ausländischen Unternehmen überschwemmt werden. Jede bürgerliche politische Partei oder Regierung wird von multinationalen Unternehmen oder imperialistischen Mächten korrumpiert. Der Mangel an Mitteln, die einem größeren Teil der Massen zugutekommen könnten, sei es der Arbeiter:innenklasse oder dem Kleinbürger:innentum, lässt ihnen als einzige Möglichkeit offen, Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor an ihre eigenen Anhänger:innen zu vergeben.
Doch die EU-Bürokratie ist die letzte, die es sich leisten kann, mit dem Finger nach Südosten zu zeigen. Nur eine Woche nach dem Tiranagipfel kamen die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Eva Kaili, und andere ins Gefängnis, weil sie Geld von der Regierung Katars angenommen hatten. In Brüssel wimmelt es von Lobbyist;innen, die politische Entscheidungen im Interesse der Unternehmen, die sie bezahlen, „beeinflussen“. Auf dem Balkan selbst ist die Korruption in Ländern wie Bosnien und dem Kosovo am weitesten fortgeschritten, also genau in denen, deren politische Systeme am direktesten vom europäischen und amerikanischen Imperialismus kontrolliert werden.
Die mächtigste Institution in Bosnien und Herzegowina ist der Posten des Hohen Repräsentanten (HR) für Bosnien und Herzegowina, der mit dem Daytonabkommen von 1995 geschaffen wurde. Der Hohe Repräsentant kommt immer aus einem EU-Land und sein/e Stellvertreter:in aus den USA. Sie haben die Macht, gewählte Repräsentant:innen zu entlassen, neue Gesetze zu beschließen oder andere abzuschaffen und Institutionen aufzulösen. Selbst bürgerliche Demokrat:innen kritisieren die praktisch nicht vorhandene Rechenschaftspflicht dieser Institution. Erst in diesem Jahr beschloss der amtierende deutsche HR, Christian Schmidt, mitten im Wahlverfahren für das nationale Parlament, die Gewichtung der Stimmen so zu ändern, dass der nationalistischen kroatischen Partei HDZ-BiH mehr Mandate zugeteilt werden konnten. Außerdem schlossen sie die Augen vor einem schweren Wahlbetrug in der Republika Srpska, der der serbischen nationalistischen Partei SDS (Serbische Demokratische Partei) zugutekam.
Bosnien und Herzegowina ist auch das beste Beispiel dafür, wie die nationalen und ethnischen Konflikte auf dem Balkan von den Imperialist:innen angeheizt und missbraucht werden. Der durch das Daytonabkommen geschaffene Staatsaufbau aus Entitäten (Teilrepubliken) und Kantonen hat die ethnischen Konflikte von vor 30 Jahren zementiert. Dass dieses System und die Dominanz der nationalistischen Parteien im letzten Jahrzehnt von demokratischen politischen und sozialen Bewegungen von unten in Frage gestellt worden sind, geschah nicht wegen, sondern trotz der und gegen die von der EU aufgestellte/n Bürokratie.
Dass die allgemeinen wirtschaftlichen Perspektiven für die Region, die Krisen aus schwacher Entwicklung und hoher Auswanderung, die zunehmenden nationalistischen Spannungen und die allgegenwärtige Diskriminierung von Menschen aus dem Balkan überhaupt kein Thema auf der Konferenz waren, mutet offen gesagt bizarr an. Ein/e Beobachter:in könnte sich zu Recht fragen, worin überhaupt ihr Sinn lag.
Das Endergebnis der Konferenz befasst sich wie immer nur mit den Interessen und Bedürfnissen der Herren und Damen der EU. Dem unveränderten Brüsseler Repertoire wurde lediglich ein neuer heuchlerischer Slogan im Rahmen der neuen globalen Konjunktur hinzugefügt: Alle vereint gegen Russland!
„Im Zuge der Vertiefung unserer Zusammenarbeit mit den Partnern fordern wir sie nachdrücklich auf, rasche und anhaltende Fortschritte bei der vollständigen Angleichung an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU zu erzielen und entsprechend zu handeln, auch in Bezug auf restriktive Maßnahmen der EU. Wir würdigen diejenigen Partner im Westbalkan, die bereits ihr strategisches Engagement in dieser Hinsicht unter Beweis stellen, indem sie sich vollständig an die GASP der EU anpassen, und ermutigen diejenigen, die dies noch nicht getan haben, diesem Beispiel zu folgen.“
Die „Partner:innen“ sollten sich auch an der Propagandaschlacht beteiligen und ihrer Bevölkerung sagen: „Die EU ist für die Region nach wie vor der engste Partner, der größte Investor und Handelspartner sowie der wichtigste Geber. Diese in ihrem Ausmaß und Umfang einzigartige Unterstützung sollte von den Partnern in ihrer öffentlichen Debatte und Kommunikation klarer herausgestellt und proaktiv wiedergegeben werden, damit die Bürgerinnen und Bürger die konkreten Vorteile der Partnerschaft mit der EU würdigen können.“
Die große Geldgeberin/Ausbeuterin EU verspricht dem Balkan auch einen Anteil an ihrem Energiepaket, das seinerseits ein Mechanismus ist, um die verheerenden Auswirkungen der unerbittlichen Preistreiberei der Lieferant:innen in der Region und ebenso verheerenden Sanktionspolitik der EU zu mildern.
In der Erklärung wird dann versprochen: „Die kontinuierliche Umsetzung des Wirtschafts- und Investitionsplans (EIP) sowie der grünen und der digitalen Agenda für den Westbalkan wird dazu beitragen, die Wirtschaft und die Resilienz der Region zu stärken, unter anderem durch weitere Unterstützung für die Konnektivität, die Energiewende und die Diversifizierung der Energieversorgung.“
Bei der Frage nach der Konnektivität der Region, einschließlich Eisen- und Autobahnen, geht es nur selten um den praktischen Nutzen für die Bewohner:innen, sondern vielmehr um die potenzielle Rentabilität für ausländische Investor:innen, in deren Interesse entschieden wird, wo und warum sie gebaut werden und mit wessen Mitteln. In den Balkanländern stehen die Neuinvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur oft in keinem Verhältnis zum bestehenden Netz, mit dem sie verbunden werden, und in krassem Gegensatz zu dessen Kapazität und der Umwelt. Die Gewinne aus Fahrkarten, Mautgebühren und natürlich aus der staatlichen Finanzierung verbleiben selten in den Ländern, in denen sie erwirtschaftet werden, sondern gehen direkt an die Unternehmen, die mit dem Bau und Betrieb der Strecken beauftragt wurden. Das „ehrgeizige Investitionspaket, mit dem fast 30 Milliarden Euro für die Region mobilisiert werden sollen“, ist also ein koordinierter Plan für die multinationalen Unternehmen der EU, um ihren Anteil an den Volkswirtschaften zu erhöhen und noch mehr Profit aus den Menschen und dem Boden der Region zu ziehen.
Die großen Demokrat:innen der EU wollen Flüchtende und Arbeitsmigrant:innen aus Asien und Afrika fernhalten. Also erklären sie:
„Seit Anfang 2022 ist auf der Westbalkan-Migrationsroute ein erheblicher Anstieg der Migrantenzahlen zu verzeichnen. Das Migrationsmanagement bleibt eine gemeinsame Herausforderung, die die EU und der Westbalkan gemeinsam und in enger Partnerschaft angehen werden. Deshalb hat die EU ihre finanzielle Unterstützung für die Region erheblich aufgestockt, sodass bereits über 170 Mio. EUR an bilateraler und regionaler Hilfe im Rahmen des IPA III bereitgestellt wurden.“
Sie ziehen es vor, dass andere sich die Hände schmutzig machen und diejenigen ausschließen, denen sie nach internationalem Recht Asyl gewähren sollten:
„In diesem Zusammenhang ist die EU bereit, die Partner im Westbalkan dabei zu unterstützen, die Rückkehr und Rückführung, auch direkt aus der Region in die Herkunftsländer, zu verstärken. Die Zusammenarbeit mit Frontex sollte – unter anderem durch den raschen Abschluss und die rasche Umsetzung aktualisierter Statusvereinbarungen – intensiviert werden, ebenso wie die Zusammenarbeit mit der Asylagentur der Europäischen Union und Europol.“
Und sie nennen die Bezahlung der Westbalkanstaaten für diese Drecksarbeit „finanzielle Unterstützung“. Nur zwei Tage nach der Tiranakonferenz wurde eine neue Studie des Border Violence Monitoring Network veröffentlicht, die 25.000 gewaltsame Push-backs an den EU-Grenzen dokumentiert und davon ausgeht, dass deren tatsächliche Zahl wahrscheinlich noch höher ist. Diese geschehen auch an den Grenzen der Balkanstaaten, unabhängig davon, ob sie der EU angehören oder nicht.
Die in Tirana durchgesetzte Agenda hatte die EU-Führung im Jahr vor der Konferenz ändern müssen. In dieser Zeit hatte sich ihr Schwerpunkt vom Westen auf den Osten verlagert, d. h. auf die Ukraine, Moldawien, Rumänien und andere Staaten der Region, die im Kampf gegen ihren früheren Partner Russland von größerem strategischem Wert sind. Der Rest der Region, die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und Albanien, mussten sich im Handumdrehen an die neue Ausrichtung der EU anpassen.
Diese nutzte die Konferenz, um ihre „Partner:innen“ daran zu erinnern, und griff die neu geschaffene Freihandels- und Freizügigkeitszone zwischen Albanien, Serbien und Mazedonien an, die als Open Balkan Initiative firmiert. Der slowakische EU-Sonderbeauftragte für den Kosovo-Serbien-Dialog Miroslav Lajcák bezeichnete die Initiative, die zuvor als „Mini-Schengen“ bezeichnet worden war, als „ungesunde Konkurrenz“ zum europäischen Integrationsprozess. Darüber hinaus hat die EU ihren Widerstand gegen einen Beitritt von Bosnien und Herzegowina und des Kosovo zur Open Balkan Initiative bekräftigt und de facto ihr Vetorecht gegenüber den politischen Systemen beider Länder geltend gemacht, um dies zu verhindern.
Diese ungeheuerliche Einmischung in die Souveränität der beteiligten Staaten ist eine weitere Erinnerung an die Beherrschung des Balkans durch die imperialistischen Mächte, die zuerst die Spaltungen und schließlich die Kriege in der Region schürten, was zur Schaffung neuer Staaten führte, die ihrer Hegemonialmacht völlig untergeordnet sind. Die Offene Balkaninitiative, selbst ein bescheidener bürgerlicher Versuch, den EU-Integrationsprozess unter weniger repressiven Bedingungen für die beteiligten Staaten voranzutreiben, ist daher eine unannehmbare Bedrohung für die Ambitionen der Imperialist:innen, die ein politisch zersplittertes Gebiet voller nationaler Feindseligkeiten benötigen, um die Region vollständig zu kontrollieren und auszubeuten.
Nur die föderale Einheit der Balkanstaaten hätte das jahrhundertealte Spiel verhindern können, in dem diese versuchen, sich gegeneinander durchzusetzen, um die Unterstützung der einen oder anderen imperialistischen Großmacht betteln – ein Spiel, das im zwanzigsten Jahrhundert zu zerstörerischen Kriegen auf dem Balkan geführt hat. Alle Großmächte der Geschichte haben diese Menschen benutzt und sie gegeneinander ausgespielt, um ihre Macht zu festigen. Jede „Unterstützung“ der EU, der USA, Russlands und Chinas für die Völker des Balkans wird auch in Zukunft diesem Zweck dienen.
Aber weder die herrschenden Klassen dieser Länder noch ihre bürgerliche politische Kaste werden in der Lage sein, dieses Dilemma zu beenden. Sie werden Abkommen wie Open Balkan für kleine Privilegien verkaufen und müssen die nationalistische und chauvinistische Karte spielen, um an der Macht zu bleiben. Die einzige Kraft, die das objektive Interesse und die potenzielle Stärke besitzt, die miserable wirtschaftliche und politische Situation der Region zu überwinden, sind die Arbeiter:innenklassen der Balkanländer. Sie sind nicht an imperialistische Kräfte gebunden, können die nationalen und ethnischen Spaltungen überwinden, verfügen sogar über das Potenzial, die Unterstützung der Arbeiter:innenklassen der imperialistischen Länder zu gewinnen.
Es ist wahr, dass die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten große Niederlagen erlitten hat, insbesondere in den ehemaligen bürokratischen Arbeiter:innenstaaten. Es stimmt, dass sie international schlecht organisiert und das revolutionäre sozialistische Klassenbewusstsein gering ist. Es ist die Aufgabe der Sozialist:innen und Revolutionär:innen auf dem Balkan und in ganz Europa, ein Programm zu erarbeiten, wichtige soziale und demokratische Forderungen aufzustellen und Kämpfe dafür zu initiieren. Ein solches Programm wird sich grundlegend gegen die gesamte EU-Agenda sowie gegen Russland und die Kriege der Nato richten müssen.
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