Arbeiter:innenmacht

Der Fall Orhan Akman – ein Sittenbild der ver.di-Bürokratie

Helga Schmid, Infomail 1208, 28. Dezember 2022

Seit Monaten würgen ver.di-Verantwortliche interne Kritik gegen überholte Strukturen und falsche politische Ausrichtung mit bürokratischen Mitteln ab. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, den „Fall“, den sie selbst erst geschaffen haben, vor bürgerliche Gerichte zu bringen.

Mit schikanösen Vorwürfen und Maßnahmen geht der Apparat seit gut sechs Monaten gegen Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für Einzelhandel und Versand, vor. Dazu zählen: zwei Ermahnungen, zwei fristlose Kündigungen (sowie eine dritte, beabsichtigte Kündigung, die dann aus formalen Gründen nicht mehr ausgesprochen wurde), Zutrittsverbot in sein Büro, Abberufung von seiner Funktion als Bundesfachgruppenleiter Einzel- und Versandhandel und Widerruf aller ihm erteilten Tarifvollmachten.

Gericht entscheidet gegen bürokratischen Apparat

Am 13. Dezember hat nun das Arbeitsgericht Berlin die Klage von Orhan Akman gegen seine Kündigung zu seinen Gunsten entschieden und ihm in allen Punkt Recht gegeben (mehr unter: https://orhan-akman.de/).

Der Fall Orhan Akman hat in den letzten Monaten sowohl innerhalb ver.dis, aber auch in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Viele Gliederungen der Gewerkschaft, Betriebsräte, vor allem aus dem Handel, und Einzelpersonen haben sich gegen die ungerechtfertigte Kündigung gewendet und sich für ihre Rücknahme ausgesprochen. Auch persönliche Vermittlungsangebote zwischen Bundesvorstand und Orhan Akman sind insbesondere bei ver.di-Chef Werneke auf Granit gestoßen.

Daraufhin ist Orhan vor Gericht gezogen und hat nun Recht bekommen. Vordergründig ging es um seine – in den Augen des Bundesvorstands – dreiste Kandidatur zum Bundesvorstand gegen seine Kollegin Silke Zimmer. Diese war, nachdem die bisherige Kollegin im Bundesvorstand und Leiterin des Fachbereichs Handel ihren Rücktritt erklärt hatte, vom Bundesfachbereichsvorstand als Kandidatin für den Bundesvorstand gewählt worden. Darüber hinaus werden ihm sein angeblich ungebührliches Verhalten seiner bisherigen „Chefin“ gegenüber vorgeworfen sowie die angebliche Weitergabe von ver.di-Interna an die Presse.

Politische Positionen

Selbst wenn all das der Fall gewesen sein sollte, ist dies kein Kündigungsgrund. In Wirklichkeit sind alle diese Gründe vorgeschoben. Im Wahrheit geht es um seine politische Position, die er mittlerweile auch über seine Website öffentlich gemacht hat. Dort spricht er sich dafür aus, dass sich ver.di nicht mehr einen teuer bezahlten bürokratischen Wasserkopf mit Doppelstrukturen leisten, sondern näher an den Konflikten und Bedürfnissen der Belegschaften und Betriebe sein sollte, um der Krise in den Gewerkschaften und insbesondere bei sich selbst entgegenzuwirken.

Weitere Gründe für den anhaltenden Mitgliederverlust sieht er darin, dass „das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Gewerkschaft immer weniger wiederfindet.“  Stattdessen müssen „Beteiligung und demokratische Strukturen“ nicht nur Teil der Satzung sein, sondern auch aktiv umgesetzt werden. Weiterhin schlägt er statt ständiger Umstrukturierungsprojekte, die letztlich nur darauf hinauslaufen, Geld einzusparen, eine andere Ausrichtung der Tarifpolitik vor, die sich an „Wertschöpfungs- und Lieferketten“ orientieren und den nationalen Rahmen auch verlassen müsse. Und dafür müssen die Fachbereiche auch entsprechend ausgerichtet werden. Auch fordert er, das politische Mandat neu aufzugreifen. Politische Streiks gegen Preissteigerungen dürfen kein Tabu sein oder nur auf dem Papier stehen, sondern müssen aktiv von ver.di forciert werden statt sinnloser Appelle an die Regierung wie derzeit wieder in der Konzertierten Aktion.

Alles Vorschläge und Argumente, die nicht nur wir unterstützen können, sondern die auch die gesamte Gewerkschaft und deren Strukturen ernsthaft diskutieren und entscheiden sollten. Dafür müssten die Gewerkschaftsverantwortlichen einen Rahmen schaffen. Ein Vorgehen, das „eigentlich“ ganz normal wäre, wenn man ernsthaft die Krise – sprich den ständigen Mitgliederschwund – in der Organisation bekämpfen will. Aber statt seine Kritik aufzunehmen und darum eine Diskussion in der gesamten Organisation anzuregen und einen Rahmen dafür zu bieten, reagiert der Bundesvorstand mit bürokratischen Maßnahmen gegen Orhan Akman, der seit 20 Jahren aktiv als Hauptamtlicher – unter anderem auch mehrere Jahre in Südamerika – versucht, ver.di als aktiv handelndes Organ der Kolleg:innen erfahrbar zu machen.

Lange hat Orhan Akman dies im politischen Rahmen der Gewerkschaftsbürokratie – als bislang akzeptierter linksreformistischer Teil – betrieben und damit durchaus eine integrative Rolle für den Apparat erfüllt. Aber dass selbst Kritik aus den eigenen Reihen – auch wenn Orhan als eine Persönlichkeit in ver.di bekannt ist, die immer gerne aneckt – versucht wird, mit bürokratischen Mitteln zu ersticken, wirft ein zweifaches Licht auf das Verhältnis der Gewerkschaftsverantwortlichen zur Organisation.

a) Wenn schon in den eigenen hauptamtlichen Reihen keine Kritik zugelassen wird, wie wird mit Kritik aus den Reihen der Ehrenamtlichen und „normalen“ Mitglieder umgegangen? Von einer demokratischen Diskussionskultur in ver.di kann damit nicht mehr gesprochen werden. Im Gegenteil, bürokratisches Abwürgen wird immer mehr die Regel werden. Orhan ist leider nicht der erste Fall, Kritik mit bürokratischen Mitteln bis hin zur Kündigung zu begegnen.

b) Seine Kritik zielt natürlich indirekt auch auf die Pfründe von vielen Hauptamtlichen, die es sich über Aufsichtsratsposten – auch wenn die Aufwandsentschädigungen laut Satzung an ver.di zurückbezahlt werden müss(t)en – oder eine im Vergleich zu vielen Kolleg:innen in den Betrieben bessere Bezahlung oder andere Annehmlichkeiten – sei es „nur“ die Anerkennung durch die Geschäftsführungen als zuverlässige/r Verhandlungspartner:in – in der bestehenden Gesellschaftsordnung gemütlich eingerichtet haben. Diese besondere Schicht von Gewerkschaftsbürokrat:innen will sich natürlich genau diese Annehmlichkeiten und ihre Funktion als Vermittler:in zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht wegnehmen lassen und verteidigen diese bis aufs Messer.

Aber die Reaktion auf die völlig absurde Kündigung von Orhan Akman, die sich auch positiv auf seine Vorschläge zur Überwindung der Krise in ver.di bezieht, zeigt, dass es innerhalb der Mitgliedschaft ein großes Bedürfnis gibt, genau über diese Fragen zu sprechen und die Gewerkschaft wieder in ein Organ zur Verteidigung der Interessen der Kolleg:innen zu verwandeln. Eine demokratische Diskussion, die wir alle verteidigen müssen und die auch organisiert zu werden bedarf. Dabei dürfen wir uns aber nicht allein auf Orhan Akman verlassen – mit allem Respekt vor seinem Mut und seiner Beharrlichkeit, dem Druck von oben nicht nachzugeben – oder auf andere Gewerkschaftsverantwortliche, die durchaus mit seinen Positionen sympathisieren. Wir – die Gewerkschaftsmitglieder – müssen dies selbst in die Hand nehmen. Einige Gliederungen wie z. B. die Senior:innen aus München haben Orhan eingeladen, um mit ihm über seine Kündigung und Vorschläge zur Überwindung der Krise zu diskutieren.

Lasst uns Diskussionen örtlich, regional bundesweit in ver.di, aber auch außerhalb der Gewerkschaft organisieren! Bei diesen muss alles auf den Tisch kommen, angefangen von demokratisch gestalteten Tarifrunden, bei denen die Streikenden selbst über den Kampf und das Ergebnis diskutieren und entscheiden können müssen, bis hin zur Frage des politischen Streiks gegen NATO- und Bundeswehraufrüstung im Zuge des Krieges in der Ukraine oder gegen Preissteigerung, und wie dieses umgesetzt werden kann.

Das ist eine langwierige Auseinandersetzung. Was wir dafür brauchen, ist eine organisierte Kraft in ver.di und den anderen Gewerkschaften, die sich regelmäßig trifft und bespricht, welche Initiativen ergriffen werden können, um ver.di und alle Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganen umzugestalten, die die Interessen der Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Frauen, Jugendlichen Migrant:innen, der sexuell Unterdrückten und Rentner:innen gegen Kapital und Regierung ohne Wenn und Aber verteidigen. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.

Solidarität mit Orhan Akman! Lasst uns weitere Diskussionen in den Orten, Regionen und bundesweit über seine Positionen organisieren!

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