Susanne Kühn, Neue Internationale 249, September 2020
Die Tarifrunde im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) enthält das Potential, zu einer wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Herbst 2020 zu werden. Sie beinhaltet die Möglichkeit, das Tarifritual, an dem die Gewerkschaftsapparate eisern festhalten, in Zeiten von Krise und Corona zumindest ein Stück weit zu durchbrechen.
Einen Grund für dieses Potential stellen zweifellos die schlechte Entlohnung und vor allem die miesen Arbeitsbedingungen dar. Während die rund 87.000 Beschäftigten des ÖPNV in den letzten Monaten von der Politik schon mal als Corona-HeldInnen gefeiert wurden, blieben Neueinstellungen, verbesserte Arbeitszeiten, Investitionen ins Verkehrsnetz aus.
Die tarifliche Lage im öffentlichen Personennahverkehr gleicht einem Flickenteppich mit 16 Landestarifverträgen in über 130 kommunalen Verkehrsbetrieben. Jede Region hat dementsprechend unterschiedliche Löhne und Arbeitszeiten. Marion Lühring verdeutlicht das: „So bekommt ein Bus- oder Bahnfahrer beispielsweise in Brandenburg 2.166,96 Euro, in Hessen 2.295,25 Euro und in Nordrhein-Westfalen 2.418,91 Euro. In Thüringen gibt es schon die 38-Stunden-Woche, andernorts sind weiterhin 39 Stunden die Regel.“
Eigentlich sollte die Tarifrunde schon im Frühjahr beginnen. Sie wurde aber wegen Corona ausgesetzt und soll nun mit Elan durchgezogen werden, verspricht die Gewerkschaft.
Bemerkenswert und für die Auseinandersetzung überaus günstig ist dabei, dass alle Verträge im Juni 2020 ausgelaufen sind. Damit wurde eine bundesweite, gemeinsame Tarifrunde möglich.
Ver.di fordert einen bundesweit einheitlichen Rahmentarifvertrag bezüglich Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen. Eine Entscheidung der öffentlichen Arbeit„geber“Innen (VKA = Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber), ob sie überhaupt in solche eintreten wollen, steht nach dem ersten Gespräch am 19. August allerdings noch aus!
Die Forderungen auf der Bundesebene umfassen Lohnerhöhungen, Erhöhung des Jahresurlaubs auf 30 Tage, eine neue Überstundenregelung, verbindliche und höhere Zuschläge und Zulagen, insgesamt also bessere Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus haben die einzelnen Länderbezirke wie z. B. Bayern zusätzliche Forderungen aufgestellt, darunter eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden, wenn auch nur bei vollem Lohnausgleich (nicht mit vollem Personalausgleich).
Ver.di will außerdem die Einstellung zusätzlichen Personals um 100.000 Personen bis 2030 zum Gesprächsthema und gemeinsam mit Fridays for Future (FFF) für eine Verkehrswende öffentlich Druck machen.
Am Willen der Belegschaften, sich daran zu beteiligen, wird es sicher nicht mangeln. Die Wut, der Frust sind groß, die Grenze des Erträglichen ist längst erreicht.
Selbst die Ziele von ver.di, die in vielen Bereichen durchaus vage gehalten sind und noch viel Spielraum für Kompromisse enthalten, treffen jedoch auf kommunale VerhandlerInnen, die in den letzten Jahrzehnten selbst den öffentlichen Personennahverkehr auf vielfältige Art kaputtgespart haben. Die miesen Arbeitsbedingungen, schlechte Entgelte, fehlendes Personal sind das Resultat dieser Einsparungen. Hinzu kommt, dass im Nahverkehr auch massiv privatisiert wurde – ganze Unternehmen wie einzelne Linien. Dort sind mittlerweile auch über 30.000 Menschen beschäftigt – in der Regel zu noch weitaus schlechteren Bedingungen. Die Konkurrenz zwischen den kommunalen und privaten Unternehmen wurde so zum Hebel für Lohndumping und Ausdünnung des Angebots.
Die aktuelle Tarifrunde müsste auch dazu genutzt werden, eine gemeinsame Kampffront mit den Beschäftigten in den privaten Unternehmen zu bilden und gleiche Arbeitsbedingungen und Entgelte im gesamten Nahverkehr durchzusetzen und für die Rekommunalisierung und entschädigungslose Enteignung der privaten Konkurrenz einzutreten. Ansonsten wird in der Krise der Druck auf weitere Privatisierungen bei den Kommunen durch den von Schuldenbremse und Sparpolitik „automatisch“ vergrößert werden.
Während ver.di den VKA damit zu ködern versucht, dass ja beide – Gewerkschaften und öffentliche Arbeit„geber“Innen – ein Interesse an einem öffentlichen Dienst hegten und gegen „Privatisierungszwang“ wären, vertritt der VKA einen klaren, bürgerlichen Standpunkt. Gegen einen öffentlichen Nahverkehr wäre nichts einzuwenden, nur kosten dürfe er nicht allzu viel.
So appelliert der Verhandlungsführer der VKA, Ulrich Mädge, seinerseits an das gemeinsame Interesse: „Aufgrund der für die kommunalen Arbeitgeber angespannten Ausgangslage fordern wir die Gewerkschaften zu fairen Verhandlungen auf, die nicht auf dem Rücken der Allgemeinheit ausgetragen werden sollten.“ Die Forderungen der Gewerkschaft nennt er „geradezu absurd“.
Die bürgerliche Presse springt den Arbeit„geber“Innen bei. Nicht, dass die schlechten Arbeitsbedingungen bestritten würden. Die Lösung der Probleme des Nahverkehrs lägen, so ein Kommentar im Handelsblatt, nicht im Ausbau des bestehenden Netzes oder dessen bloßer Privatisierung. Vielmehr bräuchte es „innovative Konzepte“, darunter den Ausbau von sog. „Ridepooling-Unternehmen“ (also praktisch von Formen des Car-Sharing mit E-Autos im gigantischen Ausmaß) und ein Schleifen des „antiquierten Personenbeförderungsgesetzes (PBefG)“. Dieses regelt, dass Personenbeförderung von den lokalen Behörden beaufsichtigt werden muss, wie Leistungen ausgeschrieben werden und dass die vorhandenen privaten Unternehmen beteiligt werden sollen. Der Autor, Robert Henrich, Chef von Moia, einer Tochter des VW-Konzerns (!), drängt somit faktisch auf eine weitere Freigabe, die z. B. erlaubt, auf lukrativen Strecken Konkurrenzangebote aufzuziehen, so die Löhne zu drücken und letztendlich den ÖPNV so zu desorganisieren, dass die Autoindustrie davon profitiert.
Die Beschäftigten müssen sich also nicht nur bei der Tarifrunde auf harte Bandagen einstellen. Wie der Vorschlag des Handelsblattes zeigt, wird im Grunde auch die Frage verhandelt, welcher Nahverkehr in wessen Interesse von wem bezahlt wird, welches Verkehrssystem die Städte der Zukunft prägen soll.
Ver.dis Appelle an ein letztlich imaginäres gemeinsames Interesse von Beschäftigten und kommunalen Arbeit„geber“Innen geht ins Leere. Die Zukunft des ÖPNV ist, ebenso wie die Frage der ökologischen Umgestaltung, untrennbar an Klasseninteressen gebunden – die von VW & Co. oder unsere!
Daher ist die gemeinsame Mobilisierung von ver.di mit FFF zur Tarifrunde durchaus ein richtiger Schritt. Er bleibt aber auf halbem Wege stecken, wenn er von Illusionen an ein gemeinsames Interesse von Beschäftigten und „reformbereiten“ Teilen der herrschenden Klasse ausgeht. Er bleibt erst recht unzulänglich, wenn er sich auf einzelne symbolische Aktionen beschränkt und nicht mit einem Streik in den Betrieben und an den Schulen verbunden wird.
Es braucht daher sowohl bei ver.di (wie sicher auch bei FFF) nicht bloß Unterstützung eines möglicherweise heftigen Arbeitskampfes, es braucht auch ein organisiertes, gemeinsames Eintreten aller klassenkämpferischer GewerkschafterInnen für einen konsequenten Tarifkampf unter Kontrolle der Basis.
Da die Tarifforderungen nicht ohne entschlossenen Kampf und breite gewerkschaftliche und gesellschaftliche Unterstützung durchsetzbar sein werden, brauchen wir eine Mobilisierung der vollen Kampfkraft der Gewerkschaft im Nahverkehr.
Der Kampf um die aktuellen Tarifforderungen sollte mit weitergehenden politischen Forderungen verbunden werden, die ihrerseits auch ein wichtiger Hebel zur Bildung einer Antikrisen-Bewegung werden können.