Arbeiter:innenmacht

Forderung nach Zwangsexmatrikulationen an Berliner Unis: Warum gerade jetzt?

Oda Lux, Infomail 1246, 4. März 2024

2021 wurde Zwangsexmatrikulation als Maßnahme aus dem Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) gestrichen. Zuvor wurde sie kaum noch angewandt. Doch als Reaktion auf den Angriff auf einen jüdischen Studenten der FU Berlin in einer Bar in Berlin Mitte gibt es Bestrebungen des Berliner Senats, diese Klausel wiedereinzuführen – und das im Eilverfahren. Als kritische Begleiter:innen der Politik und Geschehnisse der letzten Jahre müssen wir uns fragen: Warum gerade jetzt?

Die letzten zehn Jahre können wir eine Zunahme antisemitischer Angriff, in erster Linie von rechts, aber auch Islamist:innen beobachten. Warum? Weil diese Ideologien auf dem Vormarsch sind und an Fahrwasser gewonnen haben. Natürlich macht dieses Klima nicht vor Universitäten halt.

Der Attentäter von Wien, der im Jahr 2020 4 Menschen erschoss und wahrscheinlich ein Sympathisant des sog. Islamischen Staates war, war Student.

Burschenschaften mit Verbindungen zur Jungen Alternativen für Deutschland und der Identitären Bewegung, die als rechtsextrem eingestuft wurden, wandeln mehr oder weniger weniger sichtbar auf Campus im gesamten Land umher. Und dass, obwohl alle eine konservativ, rechtsnational bis rechtsextremistische Ideologie verfolgen, in Teilen Ausländer nicht aufnehmen und Frauen keinen Platz bei ihnen haben. Sucht man bei ihnen nach Verbindungen zu Gewalttaten, wird man ebenfalls schnell fündig.

Das sind nur zwei Beispiele. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, daraus den Schluss zu ziehen, dass man die Repression an Universitäten, und dann auch noch nur für Studierende, insgesamt erhöhen müsste. Diskriminierende Fälle, nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, haben in den letzten Monaten stark zugenommen. Werden diese künftig auch mehr beachtet?

Die bürgerliche Justiz vs. die „Gerechtigkeit des Mobs“

Der Ruf nach Zwangsexmatrikulationen wirft viele Fragen auf: Für welche Taten sollen diese Mittel gelten: nur für Antisemitismus oder auch andere Hassverbrechen wie Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Hass auf Frauen? Geht es nur um aktuelle oder auch vergangene Taten in Berlin, Deutschland und darüber hinaus? Ist das ein Aufruf zur gegenseitigen Bespitzelung? Muss der oder die Angreifer:in handgreiflich geworden sein und wer richtet über diese Fälle: etwa die Universitäten selbst?

Die, vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus naheliegendste Antwort wäre: Gerichte müssen entscheiden. Doch das wollen jene, die laut nach raschen, drakonischen Verurteilungen rufen, offenkundig nicht. Die Debatten um den antisemitischen Angriff und die Novellierung des BerlHG haben gezeigt, dass nicht einmal jetzt, wo Zwangsexmatrikulationen illegal sind, gewartet wurde, bis bspw. überhaupt die Umstände geklärt waren, geschweige denn ein Gericht über Schuld und Unschuld gerichtet hätte. Bereits hier muss man hellhörig werden. In Zeiten von Fake News und einer, auch ohne den Krieg gegen Gaza, angespannten politischen Lage sind falsche Vorwürfe an der Tagesordnung. Der populistische Mob hatte unlängst gerichtet. Doch am Ende nützt ein solches Vorgehen nicht den Betroffenen, sondern in erster Linie rechten und populistischen Kräften. Und es stärkt die autoritären Tendenzen zur Aushebelung bürgerlich demokratischer Rechte.

Zurück zu den Zwangsexmatrikulationen: Folgt man dennoch dieser Vorgehensweise, würde man in erster Linie Zwangsexmatrikulationen bei Vorfällen auf den Weg bringen können, die zur Anzeige oder gar Verurteilung kamen. Doch Betroffene, die tagtäglich mit Hass konfrontiert werden, bringen Taten viel seltener zur Anzeige, als man denkt. Denn Übergriffe und Beleidigungen geschehen zu oft und sich zusätzlich noch Befragungen oder Gerichtsverhandlungen auszusetzen, frisst noch zusätzlich emotionale Kapazitäten. In vielen Fällen wird ihnen nicht geglaubt oder es kommt noch zusätzlich zu Polizeigewalt. Noch schwieriger ist es bei Hass und sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen und Queers. Für viele ist es schwierig, auch noch nach Monaten und Jahren überhaupt darüber zu sprechen. Wie realistisch ist es daher, dass gerade im Universitätskontext, wenn auch vor Gericht die Beweislast bei den Betroffenen liegt und die meisten Taten nur schwer zu beweisen sind, Menschen sich dieser Tortur aussetzen? Und vor allem für welches Ergebnis? Weder einen Rechtsbeistand noch einen Therapieplatz bekommt man im Gegenzug.

Zusätzlich bleiben Gerichte ein Mittel des bürgerlichen Staates und seiner Verteidigung. Spätestens wenn man versucht, Polizist:innen für rassistische Polizeigewalt zu verurteilen, sollte das auch noch dem/r letzten reformistischen Linken klar werden. Betroffene „gewinnen“ dabei also erstmal nichts und werden im schlimmsten Fall noch durch Unglauben gestraft.

Betroffene schützen, aber wie?

Die FU Berlin hat dem vermeintlichen Täter ein Hausverbot erteilt. Sicherlich gibt es Kontexte, in denen das ein sinnvolles Mittel ist, um Menschen von Veranstaltungen auszuschließen. Bedenkt man allerdings die Größe der meisten Universitäten, ist es einfach nur unrealistisch, dass Menschen tatsächlich so am Betreten von Gebäude gehindert werden können. Dieses Problem in der Umsetzung darf nicht zu einem Einfallstor für Sicherheitsdienste an Unis genutzt werden. An manchen Fakultäten gibt es sie bereits. Auch die FU hat einen beauftragt. Studierende haben hier berichtet, dass dieser u. a. rassistisch und obdachlosenfeindlich aufgetreten ist. Wenn solche Strukturen zum „Kampf gegen Diskriminierung“ eingesetzt werden, dann ist es daher viel wahrscheinlicher, dass der gegenteilige Effekt einsetzt und noch mehr „bedauerliche“ Einzelfälle produziert werden.

Die Handlungsmacht muss zurück in unsere Hände, die der Studierenden und Beschäftigten!

Unsere Devise heißt: Organisiert euch! Wir brauchen Strukturen, die einschreiten. Nicht nur für die politische Arbeit an der Uni als Lern- und Arbeitsort ist das wichtig. In diesem Rahmen können auch Schutzkonzepte erarbeitet werden – eine Form der Bildungsarbeit, die derzeit nicht geleistet wird. Allein der Ausschluss von Menschen entzieht Hass und Menschenfeindlichkeit nicht die Grundlage. Es braucht daher ein Umdenken. Des Weiteren suggeriert es Betroffenen, dass, wenn sie bestimmte Orte nicht bzw. diese von anderen nicht betreten werden dürfen, sie sicher vor Diskriminierung wären. Das ist weit von der Realität entfernt.

Warum darf man den Kampf gegen Antisemitismus nicht getrennt sehen?

Bei der Wiedereinführung von Zwangsexmatrikulationen geht es um viel mehr als einen antisemitischen Vorfall. Und auch bei denen, die immer wieder darauf rekurrieren, kann man sich die Frage stellen, inwiefern es je primär um Antisemitismus ging. Dieser ist tief in der Gesellschaft verankert. Das kann man nicht leugnen, ist allerdings nicht erst seit einer steigenden Anzahl Muslim:innen in Europa zu verzeichnen. Er war nie weg. Doch wo waren alle diese neuen Kämpfer:innen gegen Antisemitismus nach dem Anschlag in Halle? Was haben sie gegen den Anstieg der Vorfälle getan? Haben sie ihre Stimme erhoben? Haben sie sich organisiert? Demonstriert?

Erst mit dem Angriff der Hamas wurde dieser Kampf, den es ohne Frage zu gewinnen gilt, sodass Menschen ohne Angst in die Synagoge gehen oder sagen können, dass sie jüdisch sind, wieder populär. Und das ist nichts anderes als Heuchelei. Unter dem Label der Antisemitismusbekämpfung ist es derzeit einfach, Menschen zu diskreditieren, migrantischen Protest zu kriminalisieren oder Kritiker:innen, nicht nur im Kontext des Krieges in Gaza, zum Schweigen zu bringen. Es sind dieselben, die Bildungsarbeit zu Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus diskreditieren (hierzu empfehlen wir, die Anfragen im Abgeordnetenhaus von Berlin von FDP, CDU oder AfD zu studieren) oder gar Gelder dafür einstampfen wollen. Allein das zeigt, dass es sich um ein vorgeschobenes Argument handelt.

Viel wichtiger ist es allerdings, dass wir uns nicht nur der Heuchelei, sondern der materiellen Grundlage bewusst sind. Das bedeutet auch, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht losgelöst gesehen werden kann von dem gegen Rassismus oder Imperialismus. Klar hat es Diskriminierungsformen auch ohne Kapitalismus bereits gegeben. Dennoch ist der moderne Antisemitismus nicht deckungsgleich mit einem mittelalterlichen Antijudaismus. Rechte Hetze und faschistische Bewegungen spielen mit Abstiegs- und Existenzängsten. Die reaktionäre faschistische Bewegung nutzt Antisemitismus bewusst, um Klassengrenzen vermeintlich wegzuwischen. Ein vermeintliches deutsches, französischse usw. Volk wird einem Feind gegenübergestellt, den es zu bekämpfen gilt. In Europa und besonders in Deutschland, nicht zuletzt durch die NS-Zeit, führte das zur massenhaften Vernichtung von Juden und Jüdinnen. Doch als diese Verfolgungsmaschinerie erst einmal eingesetzt hatte, wurde die Gruppe der Verfolgten kontinuierlich größer.

Neuere Umvolkungsideen basieren auf ähnlichen Grundlagen, auch wenn sie sich vor allem auf Muslim:innen fokussieren. Allein diese Parallelen zeigen auf, dass wir nicht auf eine rassistische Front gegen Antisemitismus hereinfallen dürfen. Beide Ideologien haben dieselbe Grundlage. Ebenso wird auch in beiden Fällen vor allem das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum angesprochen. Schaut man sich die derzeitigen Proteste an, bestätigt sich diese These: Vorher nie was gegen Diskriminierung jeglicher Art gemacht, aber auf die Feindeserzählungen hereingefallen. Ja, nie wieder ist jetzt! Für uns bedeutet das, den Kern dieser Ideologien zu bekämpfen und eine politische Alternative dazustellen. Dabei stützen wir uns nicht auf die all zu schnell verführbaren Kleinbürger:innen.

Der Kampf gegen Repression ist jetzt!

Ein Ausschluss entzieht der ausgeschlossenen Person nicht nur ihr Recht auf Bildung und auf Verteidigung gegen den Vorwurf. Noch viel schlimmer ist, dass es überhaupt keinen Ansatz gibt, um nachhaltig Diskriminierung entgegenzuwirken. Nicht mal die Symptombekämpfung durch Bildungsarbeit spielt eine Rolle. Doch Rassismus und auch Antisemitismus sind nicht „eingeimpft“, sie sind Merkmale des kapitalistischen Systems. Gerade in Zeiten der Krise basiert der Kapitalismus darauf, sich nach und nach gewisser Gruppen zu entledigen. Wer vorher in den prekärsten Jobs schuften musste, wird durch die nächste Gruppe ersetzt, um letztlich doch wieder Profite zu erzielen. So ist es nicht verwunderlich, dass in Zeiten des Rechtsrucks nicht nur Antisemitismus oder Rassismus ansteigen, sondern auch der Hass auf Frauen.

Bei der Frage, ob Zwangsxmatrikulationen wieder eingeführt werden sollten, geht es eben nicht nur um einen vermeintlich antisemitischen Übergriff. Hier werden Weichen gestellt. Diese Debatte ist einerseits der Höhepunkt einer Repressionswelle und gleichzeitig der Anfang für ein neues Stadium der Kriminalisierung. Besonders Muslim:innen werden derzeit zu Sündenböcken gemacht, obwohl der Großteil antisemitischer Taten weiterhin von rechts kommt. Doch das will niemand aus dem „demokratischen“ Mainstream hören. Denn auch die Rhetorik in den Parlamenten besteht von Misstrauen bis zu offenen Deportationsplänen über Parteigrenzen hinweg gegen Ausländer:innen, Migrant:innen und Geflüchtete. Als Revolutionär:innen ist uns klar, dass die erste Phase der Repression vor allem Migrant:innen zum Ziel haben, es aber darüber hinaus auch insbesondere linke Gruppen treffen wird. Dieser Repressionsapparat darf gar nicht erst in Gang gesetzt werden. Wir müssen uns jetzt dagegen organisieren!

Unsere Staatsräson heißt: Sozialismus!

Wir sind Internationalist:innen. Natürlich sind uns Religion oder Herkunft einer Person egal, denn unsere Klasse kennt weder Ausländer:innen noch rassistische Trennung.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich halten wir von Sozialismus und Befreiung nur in einem Land nichts.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich interessiert uns die politische Situation und die Ausbeutung der Massen in einem Land nicht erst, wenn es in der deutschen Tagesschau Thema wird.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich ist unser Ziel eine weltweite Revolution der Arbeiter:innenklasse.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich sind wir uns der Diskriminierung auch innerhalb unserer eigenen Bewegung bewusst. Deswegen stehen wir nicht nur bei äußerer Bedrohung Seite an Seite, sondern geben unseren Mitgliedern Caucusse als Supportstrukturen.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich beginnt unser Kampf gegen Imperialismus im eigenen Land.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich müssen wir jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Unser Kampf dagegen steht jedoch nicht im Widerspruch zu unsere Palästinasolidarität. Für uns ist weder das eine noch das andere ein plötzliches Event. Unser Kampf gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Imperialismus steht auf einer Klassenbasis, einer Analyse der materiellen Grundlage. Genau deswegen gehören der Kampf gegen antisemitische Parolen in- und außerhalb der eigenen Strukturen und der für ein freies Palästina zusammen.

Der Kampf in der Bewegung für ein revolutionäres und internationalistisches Programm und seine Anleitung durch es sind wichtiger denn je. Die derzeitige Dynamik zeigt uns, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, wenn die AfD in Deutschland Erfolge erzielt, Antisemitismus und Rassismus seit Jahren zunehmen, Netanjahu in Israel den Krieg nicht nur gegen die Palästinenser:innen nutzt, sondern auch gegen die Opposition und jemand wie Erdogan als Bollwerk gegen Genozid eintritt, während er selbst Kurdistan bombardiert. Unsere Antwort auf die Krise heißt daher: Sozialismus jetzt!

Mehr zu unserer Position zu Palästina

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