Peter Main, Infomail 1188, 15. Mai 2022
„Rajapaksa schickt seine Schläger:innen, um uns zu töten“, so lautete die einzeilige Botschaft, die ein Unterstützer des Protestcamps an der Strandpromenade Galle Face Green in Colombo am 9. Mai an die Liga schickte. Bei dem fraglichen Rajapaksa handelte es sich um Mahinda, den Premierminister, aber der Angriff wurde zweifellos von seinem Bruder Gotabaya, dem Präsidenten, unterstützt.
Die Tötung von Gegner:innen war ein ständiges Merkmal des Aufstiegs des Rajapaksa-Clans zur Macht, aber nicht dieses Mal. Diesmal drehten die politischen Oppositionellen, die Masse der Demonstrant:innen, die sieben Wochen lang vor dem Büro des Präsidenten kampierten, den Spieß um. Rajapaksas Schläger:innen wurden schnell überwältigt, einige wurden gefangengenommen, der Rest floh.
Der Angriff im Stadtpark Galle Face erwies sich als letzter verzweifelter Schlag des Premierministers. Innerhalb weniger Stunden trat er zurück und überließ dem Präsidenten die Bewältigung der größten Krise in der Geschichte Sri Lankas. Im Mittelpunkt dieser Krise steht der wirtschaftliche Bankrott, der auf die Politik der Regierung zurückzuführen ist. Berichten zufolge verfügt die Zentralbank nur noch über 50 Millionen US-Dollar. Die Schulden belaufen sich jedoch auf einen zweistelligen Milliardenbetrag.
Das gesamte System ist politisch ebenso bankrott. Ein Beweis dafür waren die Versuche Gotabayas, eine Koalitionsregierung aus den wichtigsten Parlamentsparteien zu bilden. Eine nach der anderen lehnten deren Führungen seine Vorschläge ab. Das heißt, alle bis auf eine. Am Ende reichte die Aussicht auf das Amt aus, um den Vorsitzenden der United National Party (Vereinigte Nationalpartei, UNP), Ranil Wickremesinghe, dazu zu bewegen, das Angebot anzunehmen. Er ist mit der Rolle vertraut, denn er war bereits fünfmal Premierminister – obwohl er noch nie eine volle Amtszeit absolviert hat.
Einst galt die UNP als „natürliche Regierungspartei“ in Sri Lanka, da sie die städtische Elite vertrat, der die britischen Kolonialherr:innen die Macht überließen, als sie das Land 1948 verließen. Bei den letzten Parlamentswahlen im August 2020 erhielt sie jedoch gerade so viele Stimmen, dass sie einen Abgeordneten stellen konnte. Das reicht nun aus, um diesem Abgeordneten, Wickremesinghe, das Amt des Premierministers zu geben. So viel zur Demokratie.
Zweifellos werden der Präsident und der Premierminister nun gemeinsam versuchen, eine Regierung zusammenzustellen. Ebenso wahrscheinlich ist, dass andere führende Parlamentarier:innen die Regierung zwar öffentlich verurteilen, aber im Stillen andeuten werden, dass sie bestimmte Maßnahmen, mit denen sie einverstanden sind, dennoch unterstützen könnten. In der gegenwärtigen Situation, in der es im ganzen Land zu Massenprotesten und Demonstrationen kommt, werden die meisten zustimmen, dass das Letzte, was sie wollen, Neuwahlen sind.
Die Repression der Massenbewegung ist eine ständige Bedrohung. Die Armee wurde bereits angewiesen, ohne Vorwarnung auf jede/n zu schießen, die/der die erneute Ausgangssperre bricht. Darüber hinaus bliebe Gotabaya Rajapaksa nur noch die Möglichkeit, das Militär einzuschalten, um entweder die Auflösung der Demonstrationen und einen strengen Ausnahmezustand durchzusetzen oder sogar das Kriegsrecht zu verhängen. Es ist nicht klar, ob der Generalstab dem zustimmen würde, aber die bestehende Massenbewegung muss diese Möglichkeit eindeutig erkennen.
Abseits der Regierungsmanöver haben Organisationen wie das Trade Union Coordinating Centre (Gewerkschaftskoordinationszentrum) und das Collective of Trades Unions and Mass Organisations (Kollektiv der Gewerkschaften und Massenorganisationen) für den 11. Mai zu einem Generalstreik aufgerufen. Dies ist der vielversprechendste Aspekt der gesamten Krise in Sri Lanka. In dieser Bewegung kann die Saat für eine veränderte sri-lankische Gesellschaft aufgehen.
Die für die Ausbreitung und Aufrechterhaltung des Streiks notwendigen Basisorganisationen, die Versorgung der Streikenden mit Lebensmitteln und anderen Gütern sowie der Aufbau von Verbindungen über die lokale Ebene hinaus können dazu dienen, eine Arbeiter:innenbewegung, die nach der Niederlage des Generalstreiks von 1980 zusammengebrochen war, wiederzubeleben und neu aufzubauen.
Dieses Potenzial ist jedoch weder automatisch noch garantiert. Es gibt Tausende von kleinen Gewerkschaften, die eine Schlüsselrolle bei dieser Wiederbelebung spielen könnten. Viele von ihnen unterhalten jedoch Verbindungen zu liberalen und bürgerlichen politischen Parteien. Ihre Mitglieder sollten die Beendigung aller dieser Verbindungen fordern. Sozialist:innen sollten nicht nur für den Zusammenschluss kleiner und ineffektiver Gewerkschaften zu demokratisch kontrollierten Massenorganisationen eintreten, sondern auch für die Bildung einer neuen Arbeiter:innenpartei, die in den Gewerkschaften verwurzelt ist.
Die Arbeiter:innenbewegung sollte auch Frauen- und Student:innenorganisationen mit einbeziehen. Die Inter-University Student Federation, (Universitätsübergreifende Student:innenföderation), die stark von der Front Line Socialist Party beeinflusst ist, hat bereits eine führende Rolle in der „GotaGoHome“ (Gota, geh nach Hause)-Bewegung gespielt. Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um solche Jugendbewegungen zu koordinieren und in die Arbeiter:innenbewegung auf allen Ebenen zu integrieren.
Was all die verschiedenen Stränge der Bewegung derzeit eint, ist die Forderung nach dem Rücktritt von Gotabaya Rajapaksa als Präsident. Sozialist:innen sollten diese Forderung sicherlich unterstützen, aber sie müssen auch darüber hinausgehen – wenn er geht, was dann? Die Krisen, die Sri Lanka seit Jahrzehnten erschüttern, beweisen, dass das bestehende politische System den Interessen der Masse des Volkes nicht dienen kann.
Die Bewegung sollte die Forderung nach einer souveränen verfassunggebenden Versammlung erheben, die bestimmen kann, wie das Land in Zukunft regiert werden soll. Die Bewegung, die gegründet wurde, um den Rajapaksa-Clan abzusetzen, sollte selbst die Einberufung einer solchen Versammlung kontrollieren und allen, die auf der Insel leben und arbeiten, das gleiche Stimmrecht garantieren.
In diesem Rahmen werden die Sozialisten für eine Arbeiter:innen- und Bauern- und Bäuerinnenregierung eintreten, die sich nicht auf parlamentarische Wahlkreise, sondern auf ihre eigenen Organisationen stützt und das Recht der tamilischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung und, wenn sie es wünscht, auf Sezession anerkennt.
Zur Bewältigung der Wirtschaftskrise ist es notwendig, alle wichtigen Sektoren entschädigungslos zu verstaatlichen und einer demokratisch verantworteten Planung im Interesse der breiten Masse der Bevölkerung zu unterwerfen. Alle Schulden bei ausländischen Banken und Konzernen, die von den aufeinanderfolgenden kapitalistischen Regierungen aufgenommen wurden, sollten annulliert und ein Appell an die Arbeiter:innen der Welt für Unterstützung und Solidarität gerichtet werden.