Martin Suchanek, Infomail 1243, 24. Januar 2024
Nichts oder jedenfalls fast nichts geht mehr. Der GDL-Streik steht und mit ihm der Bahnverkehr in ganz Deutschland. Sechs Tag wird der Ausstand dauern, der seit dem 22. Januar den Güterverkehr von DB Cargo und seit dem 23. Januar Personennah- und -fernverkehr lahmlegen wird.
Die Streikfront steht. Und zwar nicht, weil sich Claus Weselsky ein „Denkmal“ als besonders harter Gewerkschafter und Erzfeind des Bahnvorstandes setzen will. Wir wollen dabei keineswegs in Abrede stellen, dass er zum Abschied seiner Vorsitzendenlaufbahn noch einmal zeigen will, wo der Hammer hängt, persönliche Motive mit dem Kampf verbindet. Doch was wäre schon so schlimm daran, wenn auch alle anderen Gewerkschaftsvorsitzenden ihre Karriere mit einem harten Streik statt wachsweichem Verhandlungsgedöns ausklingen ließen.
Dass die GDL-Mitglieder Weselsky und ihrer Gewerkschaft folgen, hat schließlich vor allem leicht nachvollziehbare rationale Gründe – und diese kennen alle, die bei der Bahn arbeiten: Personalmangel, schlechte Arbeitsbedingungen, Schichtdienste, Überstunden. Hinzu kommt die Inflation angesichts von Gehältern, die auch bei der Bahn nicht üppig ausfallen, wenn man nicht gerade im Vorstand sitzt. Und schließlich müssen die Beschäftigten alle Mängel des wegen jahrzehntelanger Einsparungen ausgedünnten, ausgezehrten Systems Bahn auch noch ausbaden – sei es durch Überstunden und Stress, sei es, indem sie den berechtigten Unmut der Kund:innen stellvertretend für jene entgegennehmen müssen, die für die Misere der Bahn verantwortlich sind.
Die Verschärfung des Arbeitskampfes stellt zweifellos die richtige Antwort auf die Hinhaltetaktik des Bahnvorstandes dar. Die „großzügigen Verhandlungsangebote“ der Deutschen Bahn sollen vor allem in der Öffentlichkeit Entgegenkommen signalisieren. Von einer 35-Stunde-Woche und Verhandlungen für weitere Beschäftigtengruppen will sie partout nichts wissen – und ihre Ignoranz wird sie im Zweifel wahrscheinlich versuchen, vor Gerichten mit Verweis auf das Gesetz zur Tarifeinheit durchzusetzen.
Um selbst nicht als „stur“ dazustehen, hat die GDL ihrerseits noch am 22. Januar einen Kompromissvorschlag vorgelegt, den die Bahn jedoch als „Maximalforderung“ abgetan hat. Dabei geht es der GDL-Führung allem Verbalradikalismus Weselskys zum Trotz durchaus um einen Kompromiss, der sich an den Abschlüssen bei Netinera Deutschland (u. a. ODEG und vlexx; Töchter der italienischen Staatsbahn Trenitalia), metronom und Go-Ahead orientiert.
Ab 2028 kommen dort die 35-Stunden-Woche, bis dahin schrittweise Anpassung der Arbeitszeit, eine Inflationsausgleichsprämie über 3.000 Euro in zwei Schritten, eine Entgelterhöhung 2024 in zwei Schritten um brutto 420 Euro, Zuschläge +5 %. Die Entgeltlaufzeit beträgt 24 Monate, die Laufzeit der Arbeitszeit geht bis Ende 2027. Erkauft wird das Ganze wohl damit, dass das Wahlmodell mit zusätzlichem Urlaub wegfällt – die kürzere Arbeitszeit bringt unterm Strich zwar mehr Freizeit, aber eben bestimmt durch Dienstpläne und nicht nach den selbst ausgewählten Urlaubszeiträumen, wobei über diese letztlich auch die Disponent:innen und Personaleinsatzplaner:innen entscheiden.
Das zeigt, dass die GDL durchaus kompromissbereit wäre, und der Wegfall des Wahlmodells für zusätzlichen Urlaub wird sich für viele Kolleg:innen noch als echter Rückschlag entpuppen. Bei der Bahn wird der Kampf freilich heiß, weil die GDL auch in ihrem Wirkungsbereich durch das Tarifeinheitsgesetz eingeschränkt blieben soll. Während sie bei den Privatbahnen längst als „verlässliche“ und auf Geheimverhandlungen setzende Sozialpartnerin anerkannt ist, ist die EVG bei der Bahn Sozialpartnerin Nr. 1. Die GDL muss sich dort kämpferischer und militanter geben, als ihre Führung es letztlich sein will.
Doch genau deshalb birgt der Kampf Konfliktpotential, das ihn weiter treiben kann, als es beiden Seiten – Bahnvorstand und GDL-Führung – lieb ist. Nachdem beide Seiten der anderen Unversöhnlichkeit vorwerfen, lässt sich schwer vermitteln, wenn sie doch über die „Provokation“ der anderen Seite verhandeln. Ein Abschluss, den beide als „Sieg“ verkaufen können, rückt damit in die Ferne, auch wenn natürlich beide für solche „Wendungen“ jederzeit gut sind, beispielsweise durch eine „neutrale Vermittlung“, die „alles“ zum Gesprächsgegenstand erklärt.
Daher stellt sich für die GDL-Mitglieder und Streikenden, aber in Wirklichkeit für alle Beschäftigten bei der Bahn (und letztlich auch weit darüber hinaus), die Frage, wie es nach dem Streik weitergehen soll.
Die Taktik der GDL auf, wenn auch mehrtätige, so doch befristete Streiks zu setzen, wird früher oder später an eine Grenze stoßen. Ob der Bahnvorstand das ausreizen will, ist zwar ungewiss, aber nicht unmöglich. Hinzu kommt, dass sich die Führung der EVG bei der Bahn einmal mehr gegenüber den streikenden GDLer:innen extrem unsolidarisch verhält, diese bei den Kolleg:innen anschwärzt, und EVGler:innen, die sich mit dem GDL-Streik offen solidarisieren, wie die EVG-Betriebsgruppe DB Systel Frankfurt, madig macht.
Der EVG-Vorstand wiederholt die Politik der GDL-Führung, die auch jede Solidarisierung ablehnte mit den EVG-Warnstreiks ablehnte und diese trotz Streikverbots als „Schmierentheater“ denunzierte. Hinsichtlich der Spaltung der Belegschaft kann sich der DB-Vorstand jedenfalls auf „seine“ Gewerkschaftsführer:innen verlassen.
Für die Streikenden der GDL stellt sich als die Frage, wie sichergestellt wird, dass die volle Kampfkraft für sämtliche Forderungen – 35 Stunden Woche, 555 Euro monatlich, 3.000 Euro Einmalzahlung bei einer Laufzeit von 12 Monaten – eingesetzt werden kann. Das erfordert einen unbefristeten Streik. Und es erfordert die Kontrolle der Streikenden über den Arbeitskampf und etwaige Verhandlungen – also regelmäßige Vollversammlungen, Wahl, Abwählbarkeit und Rechenschaftspflicht der Streikleitungen und vor allem auch der Verhandlungskommission. Schließlich müssen die Beschäftigen entscheiden, ob sie ihre Forderungen erstreiken wollen oder sich zu einem Kompromiss wie bei den Privatbahnen gezwungen sehen. In jeden Fall darf das nicht von der Verhandlungskommission oder Weselsky im Alleingang entschieden werden.
Für die Beschäftigen der Bahn und vor allem für die EVG-Mitglieder muss die Parole lauten: Solidarität mit dem GDL-Streik! EVG-Mitglieder können und sollen sich auch beteiligen, sie dürfen sich in keinem Fall als Streikbrecher:innen missbrauchen lassen. Kämpferische und solidarische Gewerkschafter:innen sollten in ihren Betriebsgruppen ähnliche Beschlüsse fassen wie die EVG-Betriebsgruppe DB Systel Frankfurt und den EVG-Vorstand mit der Forderung bombardieren, sich mit der GDL zu solidarisieren. Das gilt natürlich auch für sämtliche anderen DGB-Gewerkschaften.
Bei der Bahn ist das aber besonders wichtig, weil ein GDL-Erzwingungsstreik auch die Solidarität aller Beschäftigen, aller Gewerkschafter:innen brauchen wird. In der EVG und unter den Bahnbeschäftigten braucht es Versammlungen von Abteilungen und Betriebsgruppen, um nicht nur die Solidarität mit der GDL zu erklären, sondern auch die Forderung zu erheben, selbst den Kampf um eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich für den gesamten Konzerne aufzunehmen, so also den Kampf und die Streikfront direkt auszuweiten – und letztlich auch gemeinsame, gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees zu bilden.
Eine solche Solidarisierung ist auch aus einem anderen Grund unerlässlich. Gegen den 6-tägigen Streik machen mittlerweile fast alle bürgerlichen Medien, die Vertreter:innen der Ampel wie die bürgerlichen und rechten Oppositionsparteien Stimmung. Täglich „erfahren“ wir, dass der Streik nicht nur „die Wirtschaft“ maßlos schädige, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung finde, dass das alles jetzt „zu weit ginge“.
Verkehrsminister Wissing macht sich für eine Schlichtung stark, so dass endlich verhandelt werden könne. Die Tagesschau fordert in einem Kommentar, „der Gesetzgeber sollte dem Treiben langsam Grenzen setzen, damit Millionen Bahnkunden nicht länger die Leidtragenden sind.“ Die CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), Gitta Connemann, macht die GDL nicht nur als eindeutig Schuldige aus, sondern fordert auch gleich eine Einschränkung des Streikrechts durch verpflichtende Schlichtung bei kritischer Infrastruktur.
Diese Forderungen und Drohungen sind nur der Vorgeschmack darauf, was kommt, wenn die GDL einen unbefristeten Streik ausrufen würde. Diesem Druck können die GDL-Mitglieder und Streikenden letztlich nur standhalten, wenn sich die Bahnbeschäftigten, aber auch alle anderen Gewerkschaften mit ihnen solidarisieren und Solidaritätskomitees aufbauen, die gegen die Stimmungsmache der Herrschenden Gegenöffentlichkeit schaffen, die Pendler:innen, Kund:innen, letztlich die gesamte Bevölkerung durch Kundgebungen, Demonstrationen, Flugblätter, Arbeit in sozialen Medien aufklären.
Das würde aber erfordern, dass der Arbeitskampf nicht nur als reiner Tarifkampf betrieben wird, sondern als gesellschaftliche Auseinandersetzung, die auch jeder Privatisierung und weiteren kapitalistischen „Bahnreform“ den Kampf ansagt, für massive Investitionen in den Betrieb und in Personal sowie kostenlosen öffentlichen Nahverkehr eintritt, finanziert aus der Besteuerung der Reichen und Gewinne der privaten Großkonzerne!