REVOLUTION, Neue Internationale 276, September 2023
Nach 10 Stunden Frontalunterricht mit mindestens 25 Schüler:innen in einer Klasse kommen wir nach Hause und möchten uns einfach nur noch die Bettdecke über den Kopf ziehen und raus aus dieser Scheiße. Nachdem von den Französischvokabeln, den Anaphern im Goethe-Gedicht und der mathematischen Integralgleichung kaum noch was hängengeblieben ist, scheint wenigstens eins klar zu sein: Dieses Bildungssystem ist genauso marode wie das Schulgebäude, in dem es durch die Decke tropft und in der Umkleidekabine schimmelt.
Obwohl Bildungsstreikbewegungen, Jugendorganisationen und Gewerkschaften schon seit über 10 Jahren davon reden, scheint es nun auch bei der sogenannten Allgemeinheit angekommen zu sein, dass neben Unis und Kitas vor allem auch unsere Schulen in einer fundamentalen Krise stecken. Von FAZ bis taz verdrückt die bürgerliche Presse eine dicke Krokodilsträne nach der anderen darüber, dass immer neue Vergleichsarbeiten bestätigen, dass es den Schüler:innen an elementaren Grundkenntnissen wie Rechnen, Lesen und Schreiben mangelt. Kein Wunder, denn die PISA-Studie hat bestätigt, was wir schon lange wussten: Bildungserfolg hängt in Deutschland vor allem vom Einkommen unserer Eltern ab. Und das in Deutschland in sogar noch stärkerem Maße als in Mexiko, Ungarn oder Polen. Aber anstatt das Problem der massiven Unterfinanzierung unserer Schulen anzugehen, wird uns Schüler:innen eingeredet, wir würden uns halt einfach nicht genug anstrengen und seien demnach auch selber schuld, wenn wir den ganzen Tag nur am Handy „daddeln“ (Boomersprache für „das Handy benutzen“; Boomer: über 50 Jahre alte Person, die sich über das Verhalten der Jugend aufregt). Aber nachdem nun auch die bürgerliche Presse auf die Probleme in den schulischen Leistungen hingewiesen hat, mussten die Landesregierungen handeln. Anstatt eines Investitionspakets Bildung, der Einstellung neuer Lehrkräfte und der Bereitstellung von kostenloser Nachhilfe hat man sich gedacht: „Wenn die Schüler:innen zu faul zum Lernen sind, müssen wir halt den Druck und die Vergleichbarkeit erhöhen.“ Praktisch bedeutet das für uns eine schärfere Selektion im 3-gliedrigen Schulsystem, die Erhöhung der Anzahl von Prüfungen und eine Verkürzung der Regelschulzeit von 13 auf 12 Jahre im Rahmen des sogenannten „G8“-Abis. Corona hat diesem Prozess noch das Sahnehäubchen aufgesetzt. Der durch die Lockdowns verpasste Lernstoff soll jetzt einfach noch zusätzlich draufgepackt werden. Dieser künstlich erzeugte Leistungsdruck geht auf unsere (mentale) Gesundheit. So ist die Anzahl derer von uns, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, in den letzten 10 Jahren um mehr als das Doppelte angestiegen.
Obwohl die klassisch neoliberale Antwort „Der Markt wird’s schon lösen“ bereits in der Coronapandemie, der Klimakrise, der Wohnungskrise und der Inflationskrise nicht funktioniert hat, wird sie nun auch in der Bildungskrise versucht, indem auf die „unternehmerische Initiative des freien Marktes“ gesetzt wird. Praktisch heißt das: Privatisierung statt stabiler öffentlicher Ausfinanzierung. Eine Öffnung unserer Schulen für den freien Markt findet heute insbesondere unter den Vorzeichen der „Digitalisierung“ statt. Klingt ja erstmal eigentlich ganz gut, denn während der Coronapandemie haben wir gemerkt, dass weder unsere 70 Jahre alte Mathelehrer:in noch unsere 70 Jahre alte Technik für das Homeschooling bereit waren. Doch unter Digitalisierung versteht der Staat keine flächendeckenden Investitionen in eine auf Open Source basierte digitale Infrastruktur unserer Schulen, sondern eine Öffnung des öffentlichen Sektors für die Privatwirtschaft. Über Sponsoringverträge mit Softwarekonzernen kann eine Schule ein nagelneues Computerkabinett oder eine Schulcloud bekommen, wenn sie sich nur dazu verpflichtet, das Konzernlogo gut sichtbar aufzuhängen und alle weiteren Update- und Softwarepakete von derselben Firma zu erwerben. Wenn sich Schulen weigern, geht’s halt weiter mit dem Mathebuch, mit den Bildern, auf denen die coolen Kids aus den 1990ern Spaß beim Lernen haben. Doch auch die Schulbücher werden nicht vom Staat kostenlos bereitgestellt, sondern wir müssen natürlich dafür zahlen. Für die meisten Familien, die unter inflationsbedingtem Reallohnverlust leiden, ist jedoch am Monatsende kaum noch Geld für Schulbücher da. Dazu kommen dann auch noch die ganzen anderen privatisierten Kosten für Kunstmaterial, Sportzeug, Klassenfahrten, Mensaessen, Arbeitsmaterial usw. Hinzu kommt, dass wir auch mit dem ganzen neu gekauften Kram nicht lernen können, denn entweder gibt es nicht genügend Räume für alle Klassen oder die Klassenräume sind so ekelhaft, dass man lieber raus geht für den Unterricht. Bei speziellen Fachräumen mit besonderem Equipment zum Beispiel für Chemie, Physik, Informatik, Musik und Kunst sieht die Lage noch schlimmer aus. Sportunterricht kann teilweise nicht stattfinden, weil es im Winter keine beheizten Hallen gibt. Ein Grund für den massiven Unterrichtsausfall ist also auch der Mangel an Räumen. Auch wenn Unterrichtsausfall erst einmal immer nach mehr Spaß und Freizeit klingt, heißt das im Umkehrschluss, dass diese ausgefallene Unterrichtszeit privatisiert wird, indem sie nach Hause verlagert wird. Eigentlich praktisch, denn da muss der Staat weder Wasser noch Heizung noch Miete noch Personal bezahlen. Meistens passiert das durch die Berge von Hausaufgaben, die eigentlich nur ins Private verlagerte Unterrichtszeit darstellen. Dasselbe gilt für „Online-Unterricht“, der uns dann auch als Schulung digitaler Kompetenzen schmackhaft gemacht werden soll.
Nicht nur aus uns Schüler:innen wird versucht, alles Verwertbare auszupressen, auch aus unseren Lehrer:innen. Diese sollen bei gleichbleibendem Lohn nun immer mehr Schüler:innen in einer Klasse unterrichten und immer mehr zusätzliche Aufgaben wie Inklusion, Digitalisierung, Berufsorientierung und Verwaltung übernehmen. Kein Wunder, dass laut einer Studie der Bildungsgewerkschaft GEW über ein Drittel unserer Lehrer:innen im Laufe ihrer Berufslaufbahn ein Burnout oder Anzeichen dafür entwickeln. Immer weniger Menschen wollen diesen Job machen, so dass es in den letzten 10 Jahren bis zu 14 Prozent weniger Lehramtsstudiumsabsolvent:innen gab. Für uns wird das am massiven Unterrichtsausfall deutlich und daran, dass das Wort „Vertretungsunterricht“ aus dem Stundenplan in die Geschichtsbücher geflüchtet ist. Prognosen nehmen an, dass aktuell bis zu 100.000 Lehrkräfte fehlen. Für unsere Lehrer:innen heißt das, dass sie die Arbeit von den fehlenden 100.000 Lehrkräften zusätzlich tragen müssen und das natürlich zum gleichen Lohn.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte spielt auch die Demographie eine wichtige Rolle: So gehen aktuell die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten „Babyboomer“ in Rente, während die geburtenschwachen Millennials jetzt in das Berufsleben eintreten und zahlenmäßig nicht ausreichen, um die Pensionierungswelle der Boomer auszugleichen. Hinzu kommt, dass die jetzt eingeschulten Jahrgänge wieder angewachsen sind durch stärkere Geburtenraten und Migration aus der Ukraine. Während die Bildungsstreikbewegung und die GEW diese Entwicklung bereits Anfang der 2000er Jahre prognostiziert haben, haben Land und Bund das Problem systematisch kleingerechnet und als „unnötige Panikmache“ abgetan. Das ist nun nicht mehr so leicht möglich. So hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusminister:innenkonferenz (kurz KMK, hier treffen sich die Verantwortlichen für Bildung und Kultur aller Bundesländer) ein Papier veröffentlicht, das bestätigt, dass es einen massiven Lehrkräftemangel in Deutschland gibt. Man könnte jetzt denken, dass die Landesregierungen sich nun Maßnahmen überlegen, wie man wieder an mehr Lehrkräfte kommt, um uns Schüler:innen unser verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Bildung zu gewähren. Doch die dafür nötigen 100 Milliarden werden für die Bundeswehr gebraucht. Also hat die KMK Vorschläge erarbeitet, nicht wie unsere Schulen an mehr Lehrer:innen kommen (denn das kostet Geld), sondern wie sie mit weniger Lehrer:innen besser zurechtkommen können. Die dort vorgeschlagenen Maßnahmen sind eine dicke Schelle ins Gesicht von uns allen: Die Klassengröße soll erhöht werden, pensionierte Lehrer:innen sollen aus dem Ruhestand zurückgeholt werden, die Pflichtzahl an wöchentlichen Unterrichtsstunden für Lehrkräfte soll erhöht werden und durch Online-Unterricht soll eine Lehrkraft mehrere Klassen gleichzeitig unterrichten können. Und das ist keine dunkle Fantasie einer dystopischen Hölle: In NRW, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wurden Teile davon sogar schon umgesetzt. In Berlin wird derweil laut darüber nachgedacht, angeblich weniger wichtige Fächer wie Geschichte, Politik, Ethik, Sport, Musik und Kunst einzukürzen.
Dass wir in einer tiefen Bildungskrise stecken, müssen wir nicht mehr diskutieren, das sieht mittlerweile auch die FDP ein. Offen bleibt nur, wer die Kosten dieser Krise zahlen soll. Sind es wir Schüler:innen durch mehr Leistungsterror, größere Klassen und schärfere Selektion oder Regierungen und Kapital, die tiefer in die Tasche greifen müssen, um Geld für unsere Bildung lockerzumachen. Ersteres zu verhindern und Zweiteres zu erreichen, stellt den zentralen Kampf dar, den wir führen müssen. Krise heißt ebenso wie beim Klima oder der Wirtschaft auch immer Potenzial für eine Bewegung dagegen.
Einen Ansatzpunkt dafür bietet der Aktionstag von „Schule muss anders“ (SMA) am 23.9.! Wir unterstützen die Hauptforderungen der Initiative nach 1. kleineren Klassen, 2. mehr Investitionen in die Bildung, 3. multiprofessionellen Unterrichtsteams und 4. einer unabhängigen Beschwerdestelle gegen Diskriminierung zu 100 Prozent und schließen uns mit allen unseren Ortsgruppen der Aktion an. Doch gehen uns diese Forderungen noch nicht weit genug. Um die Dynamik des Aktionstages zu nutzen und weitere Schritte im Aufbau einer bundesweiten Bildungsbewegung zu gehen, müssen wir die 4 Forderungen von SMA in unseren Schulen diskutieren und erweitern. Wir brauchen dafür Vollversammlungen der gesamten Schüler:innenschaft und Komitees an den einzelnen Schulen, die weitere Forderungen erarbeiten. Indem wir unsere Forderungen auf Schilder schreiben, auf dem Protesttag lautstark vertreten und vor allem in die Schule durch kleinere Aktionen und Versammlungen hineintragen, können wir verhindern, dass wir auf ewig ignoriert und totgeschwiegen werden. Beispiele für sinnvolle Forderungen in Ergänzung zu SMA könnten die folgenden sein:
Die Forderungen von SMA sind nur der Ausgangspunkt, von dem aus wir uns fragen müssen, wessen Schulen das eigentlich sind. Es sind unsere Schulen, denn es sind wir und nicht Bettina Stark-Watzinger (Bundesbildungsministerin, FDP), die unter zu großen Klassen leiden. Es sind wir Schüler:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und Schulpsycholog:innen, die diese Bildungskrise ausbaden müssen. Dann sollten wir doch auch darüber entscheiden können, wie viele Schüler:innen in einer Klasse erträglich sind. Wir wollen nicht in einem Geschichtsunterricht sitzen, in dem einfach nicht über deutsche Kolonien gesprochen wird. Wir wollen im Sexualkundeunterricht auch etwas über nicht-heterosexuellen Sex lernen. Wir wollen an einem Ort lernen, den wir auch selbst gestalten dürfen. Und das zusammen mit unseren Friends, auch wenn ihre Eltern Toiletten putzen oder kein Deutsch sprechen.
Dafür gehen wir nicht nur selbst zum SMA-Aktionstag, sondern fordern alle linken Jugendorganisationen von [’solid], den Jusos, bis hin zur SDAJ und Young Struggle auf, sich daran zu beteiligen. Und zwar nicht nur symbolisch mit Fahne, sondern durch die Mobilisierung der kompletten Basis. Die von SMA geforderte Bildungskonferenz bietet einen wichtigen Ansatzpunkt, wo wir unsere Forderungen miteinander diskutieren und weitere Aktionen gemeinsam planen können. Ebenso gilt es, den Schüler:innenprotest mit dem der Lehrer:innen zu verbinden. In Berlin streiken Lehrer:innen bereits seit über einem Jahr für kleinere Klassen und einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz. Diesen Kampf gilt es, durch eine Unterstützung ihrer Streiks gemeinsam zu führen und außerhalb Berlins durch Diskussionen mit der GEW auszuweiten. Ebenso wird im Oktober in der Tarifrunde der Länder über die Höhe des Lehrer:innenlohns verhandelt. Auch bei diesen Streiks im gesamten Bundesgebiet braucht es unsere Solidarität und unsere Initiative, um weitere Aspekte der Bildungskrise und eine volle Ausfinanzierung unserer Schulen in die Debatte zu tragen. Darüber hinaus gilt es, den Protest gegen die Bildungskrise mit den aktuellen Bewegungen rund um die Klimakrise zu verbinden, denn betreffen tun uns beide und ihre kapitalistische Ursache ist dieselbe! Lasst uns gemeinsam für eine Zukunft kämpfen, in der die Schulen uns gehören!