Arbeiter:innenmacht

Nein zur Schlichtungsempfehlung

Martin Suchanek, Infomail 1229, 28. Juli 2023

„Einigung im Tarifstreit bei der Bahn absehbar“, verkündet die Tagesschau am 26. Juli. Nach mehreren Verhandlungswochen hinter verschlossenen Türen haben die Vorsitzenden der Schlichtungskommission, Prof. Heide Pfarr (SPD, von der EVG benannt) und Dr. Thomas de Maizière (CDU, von der Bahn AG ernannt), eine Empfehlung veröffentlicht. Diese sieht lt. EVG folgende fünf Punkte vor:

„1. Entgelt-Erhöhung in fast allen Bereichen um 410 Euro. Umgesetzt wird in zwei Stufen mit jeweiligem Festbetrag: Stufe eins 200 Euro im Dezember 2023 und Stufe zwei im August 2024 um 210 Euro.

2. Einmalzahlung, damit unsere Kolleginnen und Kollegen schnell Geld kriegen. Auszahlung von 2.850 Euro als steuerfreie Inflationsausgleichsprämie im Oktober 2023.

3. Strukturelle Entgelterhöhung kommt für fast 70.000 Kolleginnen und Kollegen. Verschiedene Funktions-/Berufsgruppen bekommen durchschnittlich nochmal 100 Euro monatlich dazu.

4. Keine Spaltung, alle Berufsgruppen sind im Tarifabschluss einbezogen. Wir konnten Spaltung durch Ausgrenzung verhindern.

5. Verkürzung der Laufzeit von 27 auf 25 Monate. Das bedeutet, dass die neue Tarifrunde bereits in 20 Monaten startet.“

Dass es bei der Schlichtung selbst zu keiner Einigung kam, lag wohl nicht an der Gewerkschaft EVG. Auf ihrer Homepage redet und rechnet sie das Ergebnis schön, ihre Schlichtungskommission empfiehlt dem Bundesvorstand die Annahme. Das letzte Wort, so heißt es weiter, hätten die Mitglieder, die bis Ende August über das Ergebnis in einer Urabstimmung entscheiden könnten.

Hört sich demokratisch an, ist es aber nicht, wie wir noch sehen werden. Doch zuerst kurz zur Einschätzung des Abschlusses.

Stärken?

Natürlich gebe es lt. EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch auch negative Aspekte der Empfehlung, diese würden aber durch die positiven Seiten eines guten Kompromisses weit überwogen.

„Für uns als EVG sehe ich in der Schlichtungsschlussempfehlung klare Stärken. Hervorzuheben ist, dass in der Laufzeit eine dauerhafte wirksame Entgelterhöhung erreicht wird. Das bedeutet für die allergrößte Zahl unserer Mitgliedschaft ein dauerhaftes Lohnplus im zweistelligen Bereich. Das ist eine Erhöhung, die es in dieser Größenordnung in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gab – das haben unsere Kolleginnen und Kollegen mehr als verdient.“ (https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/10862/)

Über die grassierende Rekordinflation, die Einkommenserhöhungen innerhalb von zwei Jahren wieder auffrisst, verliert Loroch kein Wort. Auch die ursprüngliche Forderungen – tabellenwirksame (!) 12 %, mindestens aber 650 Euro bei einem Jahr Laufzeit – werden nicht mehr erwähnt. Warum auch? Für die Schlichtungskommission waren schließlich längst nicht mehr die ursprünglichen Forderungen Verhandlungsziel, sondern die bei Privatunternehmen wie Transdev erzielten Abschlüsse (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/07/06/tarifkampf-der-evg-schlichtung-ablehnen/).

Nur so ist zu erklären, warum die EVG eine Laufzeit von 25 Monaten, die damit gerade zwei Monate unter der Forderung der Bahn AG bleibt, als „Erfolg“ verkauft.

Wie viele andere Gewerkschaftsapparate übt sich auch die EVG darin, das Ergebnis erst gar nicht mit den Forderungen direkt zu vergleichen, für die Zehntausende Kolleg:innen in den Warnstreik traten. Wozu auch? Damit würde es ja nur leichter durchschaubar und transparenter. Statt dessen rechnet die EVG die Entgelterhöhungen unzulässig hoch. So verkündet ihre Homepage folgende Zuwächse für ausgewählte Berufsgruppen:

„- Fahrdienstleiter*innen (307) bekommen bis zu 900 Euro mehr // das entspricht ca. 30 Prozent Lohnplus

– Zugbegleiter*innen (508) bekommen bis zu 840 Euro mehr // das entspricht ca. 22 Prozent Lohnplus

– Werkstattmitarbeiter*innen & Instandhalter*innen (107) bekommen bis zu 860 Euro mehr // das entspricht ca. 24 Prozent Lohnplus“.

Unterschlagen wird dabei nicht nur die Laufzeit von 25 Monaten. Würden wir die Zuwächse von 410 Euro auf ein Jahr beziehen, so kämen wir auf 196,80 Euro tabellenwirksame Lohnerhöhung pro Jahr – also nur weniger als ein Drittel der ursprünglich geforderten 650 Euro. Hinzu kommt, dass bei der Berechnung des Lohnplus die Einmalzahlung von 2.850 Euro munter mit den tabellenwirksamen Lohnerhöhungen in einen Topf geworfen wird. Schließlich beziehen sich die drei Beispiele auf Berufsgruppen, die eine über die 410 Euro hinausgehende zusätzliche Einkommenserhöhung erhalten sollen. Das betrifft rund 70.000 Bahnbeschäftigte in Jobs, die nicht nur für die EVG und ihre Verhandlungsmacht strategisch wichtig sind (insbes. Fahrdienstleiter:innen), sondern wo auch Personalmangel herrscht. Für Zehntausende andere Beschäftigte gibt es diesen Zusatzbonus nicht – eine klare Spaltungslinie, die die EVG-Schlichtungskommission stillschweigend akzeptiert.

Nein zur Schlichtungsempfehlung!

Ein solches Ergebnis stellt keinen „guten Kompromiss“, sondern einen frechen und schlechten Ausverkauf dar. Daher rufen nicht nur wir, sondern viele kritische Bahner:innen wie z. B. die „Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen“ dazu auf, bei der Urabstimmung gegen die Schlichtung und für einen Streik für die ursprünglichen Forderungen zu stimmen.

Dass dabei, wie die EVG-Spitze verkündet, die Mitglieder das letzte Wort hätten, ist auch eine Lüge. Erstens wurden sie nie gefragt, ob sie überhaupt in die Schlichtung gehen wollten. Das entschied der bürokratische Apparat ganz alleine. Er beschloss ohne Befragung, geschweige denn Diskussion der Basis, nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen eine „Zwischenrunde“ einzuschieben, in der die Kolleg:innen über Wochen nur eines tun konnten – warten. Diese erzwungene Passivität nützt tragischerweise auch noch der Gewerkschaftsbürokratie. Nach Monaten von langgezogenen, fruchtlosen Verhandlungen, zwei Halbtagswarnstreiks, einem gerichtlich faktisch untersagten Warnstreik (was in einem Vergleich zu einem Sieg umgedeutet wurde) und wochenlangen Schlichtungsgesprächen hinter verschlossenen Türen sind viele unmotiviert, frustriert und teilweise auch nur froh, dass das alles endlich vorbei ist.

Hinzu kommt, dass in der schönen bürokratisch organisierten Veranstaltung namens Gewerkschaftsdemokratie für die Ablehnung der Schlichtung und die Durchführung von Streiks 75 % der Stimmen notwendig sind. Eine einfache Mehrheit reicht nicht – eine Minderheit aber sehr wohl zur Annahme der Schlichtung!

Zudem verfügt der Gewerkschaftsapparat über das Informationsmonopol. Nur er kann alle Mitglieder erreichen, er bestimmt die öffentlichen Verlautbarungen und den Inhalt der „Tarifinformationen“, die mit mehr oder weniger gleicher Einschätzung auch von den bürgerlichen Medien verbreitet werden.

Dass der Apparat und die Führung der EVG die Annahme der Schlichtung empfehlen, sollte aber niemand wundern. Als getreue Sozialpartner:innen wollten sie nie einen Vollstreik für die Forderungen, der Monate dauern und sich womöglich mit der Tarifrunde der GDL überschneiden könnte. Dabei wäre das für alle kämpferischen Beschäftigten – in der EVG und in der GDL – eine Chance, die unsägliche Spaltung, die zuerst den Apparaten, vor allem aber der Bahn AG und den Bahnzerschlager:innen in der Regierung und bei den Unionsparteien nutzt, zu beenden. Ein drohender Ausverkauf und eine zweijährige Laufzeit werden auch diesen anstehenden, entscheidenden Kampf massiv erschweren.

Daher:

  • Nein zur Schlichtung! Erzwingungsstreik für 12 %, mindestens aber 650 Euro bei einem Jahr Laufzeit!
  • Vollversammlungen in den Betrieben, Werkstätten, Abteilungen und Betriebsgruppen zur Diskussion über die Schlichtung und Abstimmung über die Empfehlung!
  • Erstellung von Informationsmaterial für die Beschäftigten, das erklärt, warum die Ergebnisse der Schlichtung abzulehnen sind!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition in EVG und GDL! Aufbau der Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen!
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