Arbeiter:innenmacht

Wahlen im Kosovo: Was können wir von Vetëvendosje erwarten?

Arbalete, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Hasan S. Kuqi / Franz Ickstatt, ArbeiterInnenmacht Infomail , 12. Februar 2021

Am 14. Februar finden Neuwahlen im Kosovo statt, gerade mal 16 Monate nach den letzten Wahlen und nachdem in dieser Zeit zwei Regierungen zusammengebrochen sind. Viele Menschen im Kosovo erwarten, dass  Vetëvendosje (Selbstbestimmung, VV), die schon beim letzten Mal am 6. Oktober 2019 die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte, dieses Mal noch besser abschneidet. Wofür steht diese Partei und was können wir von einer Regierung unter ihrem Vorsitzenden Albin Kurti erwarten?

Vetëvendosjes Wahlerfolg 2019 hatte seine Ursache in der anhaltenden, tiefen Krise des Landes. Die beiden Parteien, die bis dahin das Land regiert hatten, die LDK (Demokratische Liga des Kosovo) von Ibrahim Rugova, dem ersten Präsidenten des unabhängigen Kosovo, und die PDK (Demokratische Partei des Kosovo), deren bekanntester Führer Hashim Thaçi ist, haben viel Unterstützung in der Bevölkerung verloren. Beide verfolgten eine nationalistische Agenda für die Unabhängigkeit, wobei die PDK ihre Wurzeln in der UÇK (auch als KLA, Kosova Liberation Army; Befreiungsarmee des Kosovo, bezeichnet) der 1990er Jahre hat, die LDK ihrerseits den jahrzehntelangen Kampf für demokratische Rechte gegen die nationale Unterdrückung der albanischen KosovarInnen in Jugoslawien/Serbien verkörpert.

Aber beide Parteien haben ihre Befreiungsstrategie mit der Unterordnung unter den US-Imperialismus  und im geringeren Maße unter die EU und den deutschen Imperialismus verbunden. Das Ergebnis ist, dass Kosovo eine strategische Militärbasis der USA in Europa geworden ist, wo Letztere tun und lassen können, was sie wollen. Die United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (Interimsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo; UNMIK) übt immer noch die militärische Kontrolle im Land und einen starken politischen Einfluss aus. 13 Jahre lang haben die verschiedenen Regierungen sich unfähig erwiesen, das Land aus einer Rolle zu befreien, die stark der einer Kolonie ähnelt.

Diese vergangenen Regierungen waren ebenso unfähig, das Land zu entwickeln, die Verwaltung zu professionalisieren oder ein unabhängiges Rechtssystem zu etablieren. Korruption ist weit verbreitet, gerade auch in der Sphäre der Politik, wo PolitikerInnen zugunsten ihrer GeldgeberInnen Einfluss ausüben. International gibt es Vorwürfe, dass Kosovo ein Zentrum des Drogen- und Frauenhandels sei. Kosovo hat das drittniedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Europa.

Die Wahlen im Oktober 2019 waren notwendig geworden, weil der amtierende Premier Ramush Haradinaj sich vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten und deswegen zurücktreten musste. Das Gleiche traf später auch für den Präsidenten Hashim Thaçi (PDK) zu. Die Regierungsbildung nach den letzten Wahlen war schwierig. Nach monatelangen Verhandlungen kam es zu einer VV-LDK-Regierung unter Albin Kurti von Vetëvendosje im Februar 2020. Nur sechs Wochen später verließ die LDK die Regierung unter dem offenen Druck seitens des US-Präsidenten Trump. Avdullah Hoti (PDK) wurde dann im Mai 2020 mit einer Stimme Mehrheit als Nachfolger gewählt, aber im Dezember entschied das Verfassungsgericht, dass eine Stimme ungültig gewesen war.

Der Aufstieg von Vetëvendosje

Die Popularität  Vetëvendosjes wächst weiter. Sie selbst bezeichnet sich immer noch als BürgerInnenbewegung. Das ist insoweit berechtigt, als dass VV in der Lage ist, Massenproteste zu organisieren, und sie sich bisher aus dem unappetitlichen politischen Business des Kosovo rausgehalten hatte.Trotzdem ist es fraglich, ob dieses saubere Image gewahrt werden kann. Kurti hat schon Mitglieder anderer Parteien oder gewisse auf lokaler Ebene mächtige Personen eingeladen, der Partei beizutreten oder sich als KandidatInnen zur Verfügung zu stellen. Das prominenteste Beispiel ist Vjosa Osmani, die Parlamentspräsidentin und Interimspräsidentin der Republik.

Vetëvendosjes Programm ist sehr auf die Herstellung von „Rechtsstaatlichkeit“ und demokratischen Strukturen ausgerichtet. Eine ernsthafte Umsetzung dieses Ziels würde einen offenen Konflikt mit der herrschenden Klasse bedeuten, die sich auf Kapital, die politische Kontrolle einzelner Territorien und patriarchale Strukturen stützt.

Für Länder wie Kosovo bezeichnen bürgerliche KommentatorInnen solche Strukturen gerne als „mafiös“. Aber Marxisten sollten mit diesem Begriff vorsichtig sein: Patriarchale Familienclans, Korruption and „kriminelle Handlungen“ haben den Aufstieg des Kapitalismus von Beginn an begleitet. Heute besticht das imperialistische Kapital weiter gerne PolitikerInnen in „seinen“ Halbkolonien. Strukturen wie die UNMIK fördern die Korruption. Transnationale Konzerne hinterziehen Steuern in einem Ausmaß, das die „Mafiosi“ wie AmateurInnen aussehen lässt.

Vetëvendosjes Programm beinhaltet auch das Ziel einer staatlichen Vereinigung mit Albanien. Obwohl es versichert, dass die Rechte der Minderheiten respektiert und alle ethnischen Minderheiten als BürgerInnen anerkannt werden sollten, soll Albanisch die einzige offizielle Sprache sein. Gleichzeit will VV die UNMIK-Mission beenden und den Ahtisaari-Plan aufkündigen, der die Verwaltung des Landes und die Beziehungen der Mitrovica-Region zu Serbien regelt.

Vetëvendosje verfolgt auch ehrgeizige soziale Ziele wie eine progressive Einkommensteuer, die Rückabwicklung „nicht notwendiger“ Privatisierungen z. B. in der Gesundheitsversorgung und der Bildung.

Die Chancen sind also groß, dass VV Stimmen in der breiten Bevölkerung gewinnt, einschließlich der ArbeiterInnenklasse, der Kleinbauern und -bäuerinnen und im kleinbürgerlichen Milieus. VV spricht auch eine große AnhängerInnenschaft in der Jugend an, der die letzten Regierungen keine Zukunft bieten konnten, die unter hoher Arbeitslosigkeit leidet und oft  zur Auswanderung gezwungen ist. Viele werden VV wegen ihrer sozialen Forderungen unterstützen, andere für ihr radikal antiserbisches Programm.

Was kann Vetëvendosje an der Regierung erreichen?

Der Plan Albin Kurtis, Führungsfigur der VV und ihr zentraler Stratege, scheint diese Massenverankerung nutzen zu wollen, um gewisse Teile der Bourgeoisie dazu zu zwingen, mehr im Interesse des Landes statt in ihrem eigenen zu handeln. Aber VV ist keineswegs eine antikapitalistische oder sozialistische Partei. Sie steht voll für Kapitalismus und stellt die kapitalistische Ausbeutung, ob durch kosovarisches oder internationales Kapital, mitnichten in Frage. Kurti will, dass der Staat im Interesse der ganzen Bourgeoisie handelt. Seine Methode besteht darin, populistische Massenbewegungen zu nutzen, um dem Staat ein größeres Gewicht gegenüber bestimmten Teilen der herrschende Klasse zu verleihen – mit marxistischen Begriffen: eine bonapartistische Strategie.

Ob Kurtis Strategie Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht kommt ein Kompromiss zustande. Die Öffnung zu bestimmten Figuren der früheren Regierungen kann als Signal in Richtung seiner GegnerInnen verstanden werden. Der Plan kann auch scheitern, falls Kurti seine Versprechen an die Massen nicht halten kann.

Auf jeden Fall aber wird eine neue Kurti-Regierung auf starken Widerstand der USA und von EU/Deutschland  stoßen. Keine dieser Großmächte hat irgend ein Interesse daran, dass Vetëvendosje das von ihnen so sorgsam austarierte Gleichgewicht des Status quo auf dem südlichen Balkan in Frage stellt, für das sie verantwortlich stehen.  Sie werden UNMIK genauso wenig abziehen wie zulassen, dass der Ahtisaari-Plan angerührt wird, denn die gegenwärtige Stellung des Kosovo als einer rückständigen Halbkolonie dient ihren Zielen völlig. Kosovo ist für die USA ein Truppen- und Luftwaffenstützpunkt und für die EU ein Reservoir billiger Arbeitskräfte – besonders für schmutzige Arbeiten. Gegen die Machtinteressen dieser ImperialistInnen verfügt VV über keinerlei tauglichen Plan und keine Strategie.

Im Gegenteil: Das Programm von Vetëvendosje fußt auf Unterordnung unter Kapitalismus und Imperialismus und macht sie deshalb unfähig für jeglichen antiimperialistischen Kampf. Seine Perspektive einer Union mit Albanien würde Kosovo wenig Stärke (höchstens Albanien) bringen, aber viele FeindInnen auf dem Balkan. Serbien, aber auch Mazedonien, Griechenland und vermutlich auch Montenegro und Bulgarien würden sich dagegenstellen. Zusätzlich kann das einen Bürgerkrieg im Kosovo selbst provozieren. Es wäre sehr einfach für jedwede interessierte Kraft, einen ethnischen Konflikt im nördlichen Kosovo/Mitrovica loszutreten, dabei Vetëvendosjes nationalistische  Agenda zu benutzen und ihr die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben.

Für eine sozialistische und marxistische Alternative

Da Vetëvendosje auf einer offen bürgerlichen Plattform steht, können SozialistInnen nicht zur Wahl einer solchen Partei aufrufen. VV verfolgt eine nationalistische Politik, die ihre Untauglichkeit schon oft bewiesen hat und keine Lösung für die ArbeiterInnen und die Jugend des Kosovo bietet. Von der Lostrennung von Serbien, die wegen der nationalen Unterdrückung und dem Terror Serbiens vollkommen berechtigt war, führte diese Politik direkt zu Diskriminierung und Unterdrückung nationaler Minderheiten im Kosovo.

Vetëvendosje ist auch keine reformistische ArbeiterInnenpartei, die in Gewerkschaften oder im Klassenkampf verwurzelt ist, was RevolutionärInnen erlauben würde, sie bei Wahlen kritisch zu unterstützen, um sie an der Regierung  zu testen.

Natürlich müssten Versuche einer VV-Regierung, einzelne progressive soziale oder demokratische Forderungen durchzusetzen, unterstützt werden. Ebenso muss diese Regierung gegen jeden Versuch imperialistischer Staaten, sie zu untergraben oder zu stürzen, verteidigt werden.

Aber als SozialistInnen wollen wir anlässlich dieser Wahl vielmehr dazu aufrufen eine sozialistische Alternative aufzubauen:

  • Für die Enteignung des Kapitals, um dieInfrastruktur und eine geplante Wirtschaft aufzubauen!
  • Für die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität auf nachhaltige Weise durch die Bildung von Kooperativen mit staatlicher Unterstützung!
  • Kooperation mit allen Völkern des Balkans für eine gemeinsame ökonomische Entwicklung!
  • Kampf gegen alle Formen der nationalen Unterdrückung,! Gleiche Rechte für alle Sprachen und Kulturen! Bildung einer regionalen Föderation sozialistischer Staaten!
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