Arbeiter:innenmacht

Britannien: Gezielte Streiks im öffentlichen Dienst sind nicht genug

PCS-Gewerkschafter, Workers Power, Infomail 1207, 20. Dezember 2022

Die Public and Commercial Services Union (PCS), die größte Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, führt im Dezember selektive Arbeitskampfmaßnahmen durch und fordert eine Lohnerhöhung von 10 %, eine Senkung der Rentenbeiträge und wehrt sich gegen Arbeitsplatzabbau und Entlassungsbedingungen.

Nach monatelangen Flugblattaktionen, Mitgliederversammlungen, Telefonanrufen und Direktnachrichten haben Gewerkschaftsaktivist:innen in 124 Dienststellen und anderen öffentlichen Einrichtungen die von den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen vorgeschriebene Mindestbeteiligung von 50 % überschritten und verfügen nun über ein gesetzliches Mandat für Arbeitskampfmaßnahmen. Über 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben mit „Ja“ gestimmt.

Reaktionäres Streikrecht

Die PCS hat in über 80 Magistratsgerichten Rechtsberater:innen und Gerichtsmitarbeiter:innen ohne Rechtsberater:innenstatus gesondert an die Wahlurnen gerufen, um gegen das gescheiterte System der „gemeinsamen Plattform“ zu protestieren. Die Mitglieder werden den größten Teil des Dezembers bestreiken, und für den 24. Dezember bis 4. Januar wurden neue Termine angekündigt. Bei der letzten Urabstimmung in diesem Konflikt stimmten 97 % der Mitglieder für einen Streik und übertrafen damit die 50 %-Hürde.

Obwohl die Gesamtbeteiligung der Abstimmenden über dem Schwellenwert lag, wurde die Abstimmung getrennt durchgeführt, d. h. jede Abteilung wurde als separate Einheit befragt. Dadurch wurde verhindert, dass eine Gesamtbeteiligung von weniger als 50 % irgendjemanden am Streik hindert, aber andererseits bedeutet dies auch, dass die Abteilungen, die die Schwelle nicht erreicht haben, rechtlich nicht streiktätig werden können.

Von denjenigen, die das Ziel verfehlt haben, ist das HMRC (Finanzamt und Zoll), eine der beiden größten Dienststellen, am stärksten betroffen. Das HMRC hat 47 % erreicht und wird zusammen mit fünf anderen Dienststellen, die das Wahlquorum knapp verpasst haben, erneut zur Wahl gerufen. Die meisten dieser Abstimmungen, auch die des HMRC, enden am 27. Februar.

Der Nationale Exekutivausschuss (NEC) trat am 18. November nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses zusammen, um zu entscheiden, welche Maßnahmen er ergreifen will. Er einigte sich auf ein erstes Programm für gezielte Aktionen, lehnte jedoch Anträge ab, die zu Streiks aller Mitglieder im Dezember aufriefen. Generalsekretär Mark Serwotka wandte sich in einem Schreiben an die Gewerkschaftsangehörigen:

„Der NEC wird Mitte Dezember erneut zusammentreten, um die nächste Streikwelle zu erörtern … Dazu könnten gemeinsame Streiks aller Mitglieder in den Gebieten gehören, die die 50 %-Beteiligungsschwelle überschritten haben, möglicherweise in Abstimmung mit anderen Gewerkschaften.“

Grenzen der Taktik

Damit würde der erste mögliche Termin für einen Flächenvollstreik bestenfalls auf Januar verschoben, zwei Monate, nachdem die Mitglieder für Maßnahmen gestimmt haben. Wenn die Führung wartet, bis die HRMC-Abstimmung vorliegt, könnte es Mitte März werden – eine unglaubliche Verzögerung in den Wintermonaten einer akuten Lebenskostenkrise.

Zweck der gezielten Maßnahmen ist es, die Auswirkungen des Streiks zu maximieren, indem diejenigen Beschäftigten, deren Abwesenheit die größten Störungen verursachen wird, in den Ausstand treten. Die Dienststellen, die selektive Maßnahmen ergreifen, sind die Rural Payments Agency (Behörde für Finanzierung im Bereich Umwelt, Ernährung und ländlichem Raum; 13. – 23. Dezember und 3. – 13. Januar), die Driver and Vehicle Standards Agency (Verkehrsregelungsbehörde), wo die Agentur in vier geografische Bereiche aufgeteilt wird, die zwischen dem 13. Dezember und dem 10. Januar an verschiedenen Tagen streiken werden. Auch die Beschäftigten der National Highways (Straßenmeistereien) werden an Tagen zwischen dem 16. Dezember und dem 7. Januar in geografischen Gruppen streiken.

Darüber hinaus werden vier Jobcenter zwischen dem 19. und 31. Dezember bestreikt. Die Beschäftigten der Border Force (Grenzkontrollorgane), die an den Flughäfen London Heathrow, London Gatwick und Manchester, Birmingham, Cardiff und Glasgow Passkontrollen durchführen, werden zwischen dem 23. und 31. Dezember ebenso streiken wie die Beschäftigten im Hafen von Newhaven.

Mit anderen Worten: Im Dezember, wenn die Beschäftigten der Bahn, Post und Krankenhäuser in den Arbeitskampf treten, werden nur kleine Gruppen von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an ihrer Seite stehen. Bislang wurden noch keine Streiks aller Mitglieder angekündigt, was in der Gewerkschaft die Sorge aufkommen lässt, dass der während der Urabstimmung aufgebaute Schwung verlorengehen könnte, wenn die Mehrheit der Mitglieder monatelang auf einen Streikaufruf wartet.

Einige Mitglieder des Jugendnetzwerks der PCS  brachten einen Antrag ein, in dem der NEC aufgefordert wurde, alle 124 Abteilungen zum Streik aufzurufen, doch wurde dieser Antrag auf ein Diskussionspapier verwiesen und dann abgelehnt. Zahlreiche Zweigstellen verabschiedeten einen Musterantrag mit denselben Forderungen und argumentierten, dass nicht nur der Schwung verlorenginge, sondern von denjenigen, die gezielte Aktionen durchführen, nicht erwartet werden könne, dass sie den gesamten Streik trügen.

In dem Antrag wird der NEC aufgefordert, bis spätestens Mitte Januar eine umfassende Aktion anzukündigen. Sicherlich sollte der NEC nicht bis zum 27. Februar warten, um zu sehen, ob HMRC das Quorum erreicht.

Andere Gewerkschaften ergreifen jetzt Maßnahmen, und weitere, darunter Lehrkräfte und Feuerwehrleute, sind dabei, ihre Stimme abzugeben. Aber unabhängig davon, ob andere Gewerkschaften für Januar zu Aktionen aufrufen oder nicht, muss die PCS dies tun. Koordinierung ist wirkungsvoller als ein Alleingang. Die Zeitung der Bosse, Financial Times, schätzte, dass allein ein zweitägiger Streik aller Gewerkschaften mit einem Mandat im Dezember das jährliche Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens um 0,3 % senken würde.

Aber in der Vergangenheit hat sich die Gewerkschaft dafür entschieden, nichts zu tun, anstatt allein zu streiken, eine Vorgehensweise, die garantiert … nichts bringt. Die Mitglieder, die sich an der gezielten Aktion beteiligen, sollten natürlich ihre Büros schließen und lautstarke Streikposten aufstellen. Sie sollten Delegationen zu den Streikposten anderer Abteilungen schicken und damit beginnen, Verbindungen zwischen der Gewerkschaftsbasis herzustellen.

Sie sollten aber auch die Gelegenheit eines ausgedehnten Streiks nutzen, um die Strategie ihrer Führung ernsthaft in Frage zu stellen: Wann werden die Streiks zu einem unbefristeten Flächenstreik ausgeweitet, mit dem die Forderungen der Gewerkschaft durchgesetzt werden können?

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