Dave Stockton, Infomail 1201, 9. Oktober 2022
Entgegen den Meinungsumfragen des Landes, die Lula da Silva einen klaren Sieg in der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen voraussagten, zeigt das Ergebnis – 47,9 % für Lula und 43,6 % für Bolsonaro – der Abstimmung vom 2. Oktober, dass sein Gegenkandidat, der rechtsextreme Demagoge Jair Bolsonaro, immer noch die Chance auf einen Überraschungssieg am 30. Oktober hat. Er schnitt besser als erwartet in Brasiliens südöstlicher Region ab, die die bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais umfasst.
Darüber hinaus hat die extreme Rechte ihre Position bei den Wahlen zum Senat gefestigt. Bolsonaros falsch benannte Liberale Partei (PL) gewann 14 Sitze gegenüber nur 8 Sitzen für Lulas Arbeiter:innenpartei (PT) und wurde damit zur größten politischen Gruppe im Oberhaus. Die PL belegte mit 99 Sitzen auch den ersten Platz in der Abgeordnetenkammer, die jedoch, da sie nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, von den 20 Parteien des sogenannten „großen Zentrums“ (Centrão) mit 148 Sitzen dominiert wird. Dieses wird jedoch von einem Verbündeten Bolsonaros, Arthur Lira (Progressistas, PP), angeführt, der von Bolsonaro großzügig finanziert wurde, um seine Verbündeten zu wählen.
Auch bei den Gouverneurs- und Senatswahlen erzielten die Anhänger:innen Bolsonaros und anderer rechter Parteien ein besseres Resultat als erwartet, obwohl die PT die Stadt São Paulo mit einem Vorsprung von 10 Prozent gewann. Sie erreichte im Nordosten und in Minas Gerais, einem wichtigen Wahlbezirk, durchaus ihr Wahlziel.
Die anderen Präsidentschaftskandidat:innen, die nun von der zweiten Runde ausgeschlossen sind, waren Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Bewegung der Brasilianischen Demokrat:innen (MDP) mit vier Prozent und Ciro Gomes von der Mitte-Links-Partei der Demokratischen Arbeit (PDT) mit knapp über drei Prozent. Kommentator:innen gehen davon aus, dass ihre Wähler:innen eher zu Lula als zu Bolsonaro wechseln werden, aber das Umwerben ihrer Führer:innen wird Lula im Wahlkampf für die zweite Runde wahrscheinlich weiter nach rechts rücken.
Lulas „Sieg“ in der ersten Runde ist also alles andere als ein Gewinn für die Linke. Die Wahl von Geraldo Alckmin, einer konservativen bürgerlichen Persönlichkeit, zu seinem Vizepräsidenten bedeutet in Verbindung mit der Macht der Rechten im Kongress und in vielen Provinzen, dass von ihnen im Amt nichts Radikales zu erwarten ist. Selbst wenn Lula sich aus ihrer Zwangsjacke befreien und Reformen zugunsten der Arbeiter:innenklasse vorschlagen würde, hätten die Rechten in Alckmin einen weiteren Michel Temer, der 2016 den „institutionellen Putsch“ gegen die PT-Präsidentin Dilma Rousseff anführte.
Offensichtlich gibt es unter großen Teilen der Arbeiter:innenklasse, der schwarzen, indigenen und LGBTIAQ-Gemeinschaften, vielen progressiven Teilen der Frauen, der Jugend und der Mittelschicht enormen Hass und Angst vor Bolsonaro. Viele einflussreiche Wirtschaftskreise unterstützen jetzt Lula als das kleinere Übel wegen Bolsonaros katastrophaler Politik in den Bereichen Covid und Wirtschaft. Seine Regierungsbilanz ist eine Katastrophe, angefangen bei der Übernahme von Donald Trumps Politik der Verleugnung und des Werbens für Quacksalbermedizin, die zum Tod von 700.000 Menschen geführt hat. Die Aufhebung von Umweltschutzgesetzen und die offene Förderung des Abbrennens und der Abholzung von noch mehr Amazonas-Regenwald haben zu einer Verdoppelung der CO2-Emissionen in den Jahren 2019/20 im Vergleich zum Durchschnitt des vorherigen Jahrzehnts geführt.
Zu Bolsonaros arbeiter:innenfeindlichen Wirtschaftsreformen gehören die sogenannten Arbeits- und Rentenreformen und die Kürzung des Familienunterstützungsprogramms „Bolsa Família“. Im Jahr 2019 erlebte dieses Programm den stärksten Rückgang in der Geschichte: Die Zahl der empfangenden Familien ging von 14 Millionen auf 13 Millionen zurück, während die Zahl derer, die in der Schlange standen, um das Programm zu erhalten, 1,5 Millionen überstieg. Die Zahl der Brasilianer:innen, die Hunger leiden, stieg von Ende 2020 bis Anfang 2022 von 19,1 Millionen auf 33,1 Millionen, das sind etwa 15,5 Prozent der Bevölkerung. Bei einer jährlichen Inflationsrate von 8,73 Prozent können diese Zahlen nur noch schlimmer werden.
Bolsonaros Ideologie und Rhetorik weisen sicherlich starke Anklänge an den Faschismus auf, und seine Anhänger:innen verüben gewalttätige, sogar mörderische Angriffe auf Persönlichkeiten der Arbeiter:innen- und anderer fortschrittlicher Bewegungen. Es handelt sich jedoch noch nicht um eine voll entwickelte faschistische Massenmiliz, die in der Lage wäre, eine faschistische Diktatur zu errichten. Auch die oberen Ränge der brasilianischen Bourgeoisie rufen nicht zu einem solchen Ergebnis auf. Das Gleiche gilt für Washington, ganz zu schweigen von den imperialistischen Mächten in der Europäischen Union.
Sie würden Lula eindeutig bevorzugen, vor allem einen gezähmten Lula mit Alckmin als Vizepräsidenten. Alckmin war bis vor kurzem einer der wichtigsten Führer einer der größten Parteien der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB. Für die Wahl wechselte er zu einer kleineren Partei. Während seiner Zeit als Gouverneur von São Paulo ließ er Lehrer:innenstreiks niederschlagen und Demonstrationen unterdrücken und war Mitinitiator des so genannten Pinheirinho-Massakers im Jahr 2012, bei dem mehr als 1.500 Familien – zwischen 6.000 und 9.000 Menschen – mit Hubschraubern, Panzern, Pferden und Tränengas aus den größten Favelas, den Elendsquartieren der Region, vertrieben wurden. Er ist auch nicht einfach nur Vizepräsident. Er bringt in Lulas „breites Bündnis“ (Volksfront) eine Koalition von Parteien und Abgeordneten ein, die die wirtschaftlichen und sozialen Grenzen jeglicher echter Reformen festlegen werden.
Vor der Wahl sagte Bolsonaro: „Wenn ich verliere, dann weil die Wahl gefälscht wurde“, und seine massenhafte reaktionäre Anhänger:innenschaft wäre sicherlich zu einem weitaus ernsthafteren Versuch fähig, an der Macht zu bleiben, als die Anhänger:innen von Donald Trump, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol stürmten.Die brasilianische Gesellschaft ist eindeutig von einem reaktionären Block um Bolsonaro polarisiert, ähnlich wie Trump und die Republikaner:innen in den USA. Wahrscheinlich hat er jetzt mehr gut bewaffnete Anhänger:innen als Trump bei der Erstürmung des US-Kapitols, so dass eine Wiederholung dieses Vorgangs vermutlich noch blutiger und zerstörerischer sein würde. Bolsonaro selbst hat praktisch einen Umsturz versprochen, der auf der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses beruht.
Zwei Faktoren mögen dagegen sprechen. Erstens: Angesichts der Position der Mehrheit der Bourgeoisie, der Mehrheit ihrer Parteien, der Haltung Bidens, der potenziellen Stärke der Arbeiter:innenpartei, des CUT-Gewerkschaftsverbands und anderer gesellschaftlicher Kräfte wäre dies ein komplettes Abenteuer.
Die deutliche Stärke, die Bolsonaros Kräfte bei den Wahlen an den Tag gelegt haben, lässt einen logischeren Weg vermuten, seine Position in den Gouverneursämtern und im Senat sowie die unzweifelhafte Sympathie der Polizei und eines Teils des Oberkommandos der Armee zu nutzen, um eine Regierung Lula-Alckmin zu blockieren und vereiteln. Schließlich werden die nächsten Jahre wahrscheinlich von einer weltweiten Wirtschaftskrise geprägt sein, und die Regierung wird nicht über die Mittel für soziale Reformen verfügen, die Lula in den Jahren 2003 – 2010 zur Verfügung standen. Ob Bolsonaro dieses Maß an Geduld aufweist, werden wir bald sehen.
In jedem Fall sollten die Arbeiter:innen und alle Unterdrückten Brasiliens nicht darauf warten, dass die fortschrittliche Bourgeoisie und die liberalen Imperialisten im Ausland, geschweige denn die Streitkräfte des Landes, die Demokratie verteidigen. Man kann auch nicht erwarten, dass Lula sich mutiger oder entschlossener verhält als Salvador Allende 1973 in Chile. Ein entwaffnetes Volk, wie geeint es auch sein mag, wird immer besiegt werden. Die Arbeiter:innen- und Volksorganisationen müssen mehr tun als nur demonstrieren. Sie müssen Delegiertenräte und bewaffnete Milizen bilden, um sich gegen Bolsonaros Banden und gegen jede Intervention des Militärs zu schützen.
Revolutionär:innen, die dem klaren Rat von Leo Trotzki aus den 1930er Jahren und der Praxis von Lenin aus dem Jahr 1917 folgen, sollten Lula-Alckmin weder an der Urne noch nach dem Wahlgang Vertrauen aussprechen. Wir sollten nur Arbeiter:innen- und sozialistische Kandidat:innen (einschließlich der PT) unterstützen, wenn diese unabhängig von allen bürgerlichen Parteien sind. Wir sollten für alle PT- und sozialistischen Kandidat:innen stimmen, die dies tun und in den Massen gut verwurzelt sind, gerade um die Kräfte der Klassenunabhängigkeit zu stärken. Mit ihnen sollten wir eine Einheitsfront bilden, die in der Lage ist, nicht nur Bolsonaro, sondern auch Lula-Alckmin zu bekämpfen, wenn diese die Rechte und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen angreifen.
Eine Regierungskoalition mit der Bourgeoisie wird nicht in der Lage sein, lebenswichtige Reformen durchzuführen, die die Arbeiter:innenklasse braucht, sondern wird zusammen mit den Gewerkschaften der CUT die Arbeiter:innen dazu drängen, Opfer zu bringen und ihren Kampf zu zügeln, um diese Regierung im Amt zu halten. Das wiederum wird die Kräfte der Arbeiter:innen und aller anderen fortschrittlichen Strömungen schwächen. Was die Verteidigung gegen einen Bolsonaroputsch angeht, so befürworten wir eine Einheitsfront der PT, der Gewerkschaften, kleinerer Parteien wie der PSOL und der PSTU sowie der kommunistischen Parteien, um ihn zu besiegen. Wir plädieren jetzt dafür, dass sie Verteidigungseinheiten bilden, um jeden Angriff auf die Regierung von rechts abzuwehren.
Gleichzeitig müssen wir für die Bildung von Aktionsräten kämpfen, an denen sich alle Kräfte der Arbeiter:innenklasse und des Fortschritts beteiligen. Wir müssen für ein Programm revolutionärer antikapitalistischer Maßnahmen gegen Inflation, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung eintreten, Land für Landlose, Selbstbestimmung und Landrechte für indigene Gemeinschaften und geplanten Widerstand gegen Umweltzerstörung fordern.
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